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Liebe ist für die meisten Menschen das höchste Gut. Der Individualismus der modernen Kultur macht wirkliche Hingabe allerdings nicht immer leicht. Jenseits all unserer Vorstellungen von Liebe gibt es jedoch auch einen Bewusstseinsraum, in dem das Ich zu einer tiefen Verbundenheit mit dem Leben reifen kann.
Der Urknall war in gewisser Weise die erste Liebeserklärung im Universum, eine Liebeserklärung des Lebens an sich selbst. Das Mysterium dieser Liebe ist in uns bis zum heutigen Tag lebendig. Gottesliebe, die Liebe zur Weisheit, Mutterliebe ließen den Menschen aus der Einheit allen Lebens heraustreten und schafften Räume der Verbundenheit, in denen sich Individualität entfalten konnte. Zu einem anderen Menschen »Ich liebe dich« sagen zu können, ist heute unser persönlicher Ausdruck der schöpferischen Schönheit dieser Evolution.
Je persönlicher die Liebe wird, umso mehr wird sie allerdings auch zu einer Herausforderung. Wo unsere Urvorfahren noch aus der Einheit mit der Liebe lebten, weil sich ihr Bewusstsein noch nicht vom Ursprung des Menschseins gelöst hatte, ist Empathie heute eine emotionale Leistung, die uns individuell fordert. Wir sind nicht mehr Liebe, sondern wir suchen nach ihr – in uns selbst, in anderen, in unseren Vorlieben, in Partnerschaften. Die Liebe zieht sich zusammen. Wenn wir heute »Ich liebe dich« sagen, atmet kaum noch die Unendlichkeit des Universums, sondern eher unsere Suche nach Resonanz auf unsere Wünsche und Bedürfnisse. Manchmal steht unser Ich der Liebe sogar im Weg. Vielleicht führt unsere Sehnsucht uns aber auch in eine neue Dimension, eine, in der wir bewusst wieder Liebe sind.
¬ Transzendenz ermöglicht es uns, den Hintergrund unseres Seins zu berühren. ¬ Thilo Hinterberger
Es war einmal
Der Inbegriff der Unverfälschtheit und Grenzenlosigkeit von Liebe dürfte für die meisten Menschen die Mutterliebe sein, ist sie es doch, die Leben hervorbringt und gedeihen lässt. »Mutterliebe ist eine Schlüsselerfindung der Natur, aus der sich alle anderen Formen der Bindung zwischen Menschen entwickelt haben. Sie ist der Ursprung von Mitempfinden, Mitleid, romantischer Liebe zwischen Erwachsenen und auch aller höheren Formen von Geselligkeit«, so der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt. Die Evolution lässt uns erahnen, welches Wunder hier am Wirken ist. Im Vergleich zu anderen Primaten braucht der Mensch annähernd zwei Jahrzehnte, bis er auf eigenen Beinen stehen kann. Wie viel unsere Urvorfahren jagen und sammeln mussten, bis sich ihr Nachwuchs selbst versorgen konnte! Ein Tatzenhieb eines wilden Tieres reichte aus, um das so verletzliche Leben zu nehmen. Die Liebe, die dieses Leben über die Jahrmillionen bewahrte, entsprang noch dem Herzen der Evolution.
Heute hegen wir eine eher romantische Vorstellung von Mutterliebe und erahnen allenfalls noch, dass in ihr nicht allein eine Mutter, sondern etwas Größeres die Existenz umsorgt. In der modernen Kultur scheitern folglich immer mehr Frauen daran, dieser Liebe gerecht zu werden. Die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« berichtete kürzlich über eine Entwicklung, die sich nahezu unbeobachtet in Online-Foren artikuliert und fassungslos macht. Mütter, die von ihren Babys überfordert sind, verabreichen ihnen Schlafmittel, um sie ruhigzustellen. Statt für den Nachwuchs hingebungsvoll zu sorgen, sedieren sie ihn. Sind diese Mütter herzlos, weil ihnen die Kraft fehlt für das Selbstverständlichste im Leben?
¬ Der Urknall war in gewisser Weise die erste Liebeserklärung im Universum. ¬
Womöglich begegnet uns hier eine der größten Illusionen der modernen Kultur, nämlich der Versuch, eine universelle Kraft zu individualisieren. Anthropologen gehen heute davon aus, dass Jäger und Sammler sich in früheren Zeiten gemeinschaftlich um den Nachwuchs kümmerten. Mutterliebe war nicht die Angelegenheit der biologischen Mutter allein. Ihr standen Angehörige und Stammesmitglieder fürsorglich bei. Die Mutterliebe erwuchs aus einem größeren Raum und trug nicht allein den Nachwuchs, dem sie galt, sondern verband auch die Sorgenden selbst miteinander. Sie war noch kein soziales oder emotionales Phänomen, denn die Trennung in Ich und Andere, in Mensch und Natur, hatte sich im Bewusstsein noch nicht vollzogen. Lebendigkeit nährte einfach Lebendigkeit. Heute erleben sich Mütter vor allem als auf sich selbst gestellt. Sie tragen in sich das kulturelle Versprechen auf Selbstentfaltung, doch dieser ganz persönliche Raum erweist sich als viel zu klein, um eine universale Liebe hervorzubringen.
Sabotage der Individualität
Wie extrem dieses Ringen zwischen den Polen ist, zeigte Orna Donath mit ihrem Forschungsprojekt »Regretting Motherhood«. Die israelische Soziologin führte intensive Gespräche mit Frauen, die es bereuen, Mutter geworden zu sein – weil sie glauben, dass die Mutterschaft ihre Individualität sabotiert. »Viele Frauen leiden darunter, ihr altes Leben verloren zu haben, als sie neues schenkten. Nun fehlt ihnen die Zeit, sie selbst zu sein. Eine Frau sagte: Kinder löschen dich vollständig aus«, erzählt Donath. Es ist eine Kultur, die im Ich ihren Motor sieht und so Dilemmata wie diese hervorbringt. Und sie betreffen Männer gleichermaßen. Um die Jahrtausendwende nahmen lediglich rund fünf Prozent aller Väter Erziehungsurlaub. Wo männliche Fürsorge vor allem in der Rolle des Geldverdieners ihren Ausdruck und ihre Anerkennung findet, ist das »normal«. Die Einführung der Vätermonate lässt heute immerhin jeden dritten Vater sich diese beiden Monate (selten mehr) dem Nachwuchs zuwenden. Das unterschwellige kulturelle Signal bleibt jedoch – Hingabe ist eine klar definierte Ausnahme.
Es scheint, als stünde die moderne Kultur hier an einer Schwelle, den Individualismus, der sie hat entstehen lassen, kaum noch halten zu können. Unsere eigenen wie auch kulturell vermittelten Ansprüche an unsere Biographie und unsere Sehnsüchte lösen unser Selbst aus einer umfassenderen Eingebundenheit. Damit rückt auch die Liebe von uns ab und fällt manchmal sogar in sich zusammen. Statt im All-Einen zu ruhen, sind wir auf einmal allein.
Rückzugsgefechte
Der Selbstbezug, der aus einer Kultur erwächst, die das Ich zum Zentrum macht, prägt auch das, was wir von Liebesbeziehungen erwarten. Viele Menschen suchen heute nicht nach einer Liebe, die das eigene Dasein für eine Grenzenlosigkeit öffnet, in der das Selbst Teil von etwas Größerem wird und als dieses Größere liebt. Sie wünschen sich schlicht Wärme und Geborgenheit als Ausgleich für all die Selbstbehauptungskämpfe, die sie in der modernen Kultur tagtäglich auszufechten haben, um in ihrer Individualität zu bestehen. Für drei Viertel derer, die bei der Partnerbörse ElitePartner nach einer neuen Liebe Ausschau halten, ist es zum Beispiel der größte Liebesbeweis, wenn sie der Partner mit allen Eigenheiten akzeptiert, wie sie sind, und sich um sie kümmert, wenn es ihnen nicht gut geht. Sie wünschen sich eine Schutzzone, in die man sich zurückziehen kann, wenn es unbequem wird. Wir scheinen in Partnerschaften etwas zu suchen, was wir in der Beziehung zum Leben selbst nicht mehr finden – tieferes Vertrauen und das Gefühl, egal was kommt, behütet zu sein.
Aber finden wir in den persönlichen Banden auch dieses tiefere Mysterium des Lebens, das wir immer noch erahnen, auch wenn wir es nie so ganz zu fassen vermögen? Wohl nie zuvor waren die Erwartungen an eine ideale Partnerschaft höher als in der heutigen Zeit. Und noch nie wurden sie so oft enttäuscht. Nahezu jede zweite Ehe wird heute geschieden. Wohl auch, weil der Wunsch nach Verbundenheit mit der Freiheit, in der unsere Selbstentfaltung wurzelt, kollidiert. 2016 lancierte »Die Zeit« eine große Studie, in der sie essenzielle Lebensfragen untersuchen ließ. Eine überwältigende Mehrheit der Befragten findet, dass es nachfolgenden Generationen wichtig sein sollte, sich jemandem nahe zu fühlen, doch nur jeder Dritte geht davon aus, dass dies in Zukunft noch so sein wird. Ein Grund für diese Skepsis könnte darin liegen, dass das Ich sich immer mehr vor die Liebe stellt. Liebe ist dann das, was übrig bleibt, wenn alle Freiheitsbedürfnisse erfüllt sind. Wo ist da noch Raum für die Tiefe zwischenmenschlicher Liebe, wenn wir das Leben vor allem als etwas Ureigenes betrachten?
Fast mag es scheinen, als wäre die »wahre Liebe« ein Auslaufmodell. Der Psychoanalytiker Erich Fromm betrachtete diese Entwicklung schon in den 1960er Jahren mit Sorge und schlug einen Perspektivwechsel vor. »Die Liebe zum Leben ist der Kern jeder Art von Liebe«, formulierte Fromm. Und er fragte: »Lieben wir wirklich noch das Leben? « Eine Frage, die, in aller Aufrichtigkeit gestellt, in die Selbstverkrustung des Ichs wieder Durchlässigkeit bringen kann. Denn was ist das Ich letztlich anderes als pures Leben?
Lässt man diesen Gedanken für einen Moment zu, fallen Selbstliebe und Liebe zum Leben in eins, ohne dass dem Ich dabei etwas genommen würde, denn es ist hier mitgemeint. »Leben hat immer die Tendenz, zu vereinen und zur Ganzheit zu kommen. Und Leben ist immer ein Prozess von Veränderung und Entfaltung«, erklärt Fromm. Vielleicht tun wir uns heute mit der Liebe so schwer, weil wir uns kaum noch bewusst sind, wie sehr unser Selbst natürlicherweise in Bewegung ist. Unsere Selbstentfaltung lebt von der Berührung des Lebens und diese Berührung verändert uns nicht nur permanent, sie kann uns auch der Liebe wieder näher bringen.
Paradoxe Liebe
Der Bewusstseinsforscher Thilo Hinterberger stellte beim Kongress »Meditation & Wissenschaft 2016« ein Modell der Bewusstseinsentwicklung vor, das, bezieht man es auf die Liebe, diese Annäherung nachvollziehbar macht. Die Gegenwärtigkeit von Liebe, in der unsere Urvorfahren lebten, hatte mit unserer heutigen Vorstellung einer persönlichen Liebe noch nichts gemein. Ihre Liebe galt nicht so sehr einzelnen Menschen, sondern der Spezies selbst, und sie erwuchs aus einer tiefen Eingebundenheit in die natürliche Lebenswelt. Erst mit dem Aufkeimen eines konzeptionellen Bewusstseins und der Ratio konnte Liebe zu einer besonderen Beziehung werden, denn nur ein Selbst, das sich als solches erkennt, kann seine Zuneigung bewusst auf andere richten. Damit ist Liebe allerdings nicht mehr einfach gegeben, wir müssen sie »machen«. Sind wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt, macht sich die Liebe rar.
¬ Es ist eine der größten Illusionen der modernen Kultur, zu versuchen, eine universelle Kraft zu individualisieren ¬
Heute stehen wir an der Schwelle zu einem multiperspektivischen Bewusstsein. Wir können von uns selbst und unseren Neigungen absehen, um die Liebe zu spüren – als Anwesenheit, die immer gegeben ist, selbst wenn wir uns vielleicht gerade schlecht fühlen. Es ist ein paradoxes Moment des Bewusstseins, denn dank unserer Entscheidungsfähigkeit können wir uns dieser Liebe hingeben oder sie ignorieren. Viele Liebesverwirrungen resultieren augenscheinlich aus dieser Wahlfreiheit. Unser Herz verzehrt sich dann nach Liebe, doch bringen wir das Ja zu ihr nicht über die Lippen.
In Augenblicken besonderer Durchlässigkeit kann uns die Liebe unverhofft mitten ins Herz treffen und strömt aus uns heraus. Leben und Liebe fallen in uns in eins. Es ist ein mystischer Zustand, in dem unsere Autonomie und Besonderheit ebenso mitschwingt wie die Grenzenlosigkeit. Da mag auch Angst sein oder Sorge, doch nimmt das der Liebe nichts von ihrer Kraft. »Diese Dimension der Transzendenz ermöglicht es uns, hinter die Dinge zu schauen. Wir können aus einer umfassenderen Potenzialität schöpfen und in dieser Offenheit den Hintergrund unseres Seins berühren«, beschreibt Thilo Hinterberger diesen Zustand, in dem sich unsere menschliche Natur als Liebe erkennen kann.
Geteilte Menschlichkeit
Den Mystikern aller Zeiten war diese Wahrnehmung zutiefst vertraut. In unserer heutigen Alltagswelt ist sie uns nicht einfach gegeben, doch wir können uns ihr wieder annähern. »Mitgefühl kommt nicht von nichts«, sagt Tania Singer. Mit dem ReSource-Projekt möchte die Neurowissenschaftlerin ein neues Kapitel »geteilter Menschlichkeit« aufschlagen. Dazu hat sie ein Empathie-Training entwickelt, bei dem sich Meditierende in Mitgefühls-Meditation, intersubjektivem Dialog und empathischem Zuhören üben. »Es geht darum, das eigene Glaubenssystem loszulassen und mit der eigenen Präsenz für andere einen Raum zu öffnen. Man nimmt die Perspektive eines großen Selbst ein«, erklärt Singer.
Die empathische Arbeit in Zweierteams durchbricht die Konzepte, die wir von uns selbst, vom Leben und der Liebe haben und die uns oft von anderen Menschen und der Liebe trennen. Bei den Meditierenden führt sie zu deutlichen intersubjektiven sozialen Effekten, und dies schon nach einigen Monaten. Das ReSource-Projekt versucht sich daran, die Öffnung unserer Herzen und das kognitive Verständnis der Gegenwart in Einklang zu bringen. Liebe in unserer Zeit bedeutet mehr als ursprüngliche Geborgenheit, denn heute sind wir bewusst Liebende. Und vielleicht stehen wir gerade an einem Punkt der Evolution, an dem unser Ich langsam zu erkennen beginnt, dass es selbst die Liebeserklärung sein kann, nach der es sich so sehnt.
Author:
Dr. Nadja Rosmann
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