Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 21, 2016
Eine Filmbesprechung von »Der Schamane und die Schlange«
Es gibt »großes Kino« und – ganz selten – Kino, das noch darüber hinausgeht. Fürdas sich der Kinosaal eigentlich nach oben zu den Sternen und nach unten in die Mysterien der Erde öffnen müsste, um der Wucht und Schönheit des Erzähltengerecht zu werden. So ein Filmwunder ist »Der Schamane und die Schlange« des kolumbianischen Regisseurs Ciro Guerra, der in den Amazonasgebieten seinerHeimat gedreht wurde. Er erzählt von der Expedition des deutschen Ethnologen Theodor Koch-Grünberg um 1900 und einer Forschungsreise des amerikanischenBiologen Richard Evans Schultes ca. 40 Jahre später. Beide treffen auf denSchamanenKaramakate: Koch-Grünberg am Anfang des 20. Jahrhunderts, als er imUrwald Brasiliens schwer erkrankt war, und später Evans Schultes, als er demalten Karamakate begegnet, der durch den kolonialistischen Raubbau an seinerKultur leer und verbittert geworden ist. Doch beide begeben sich auf eineFlussfahrt, die für jeden zu einer Initiation wird. Erst auf dieser Reisegelingt es dem Indianer, sein verloren gegangenes Wissen über Götter, Träumeund psychoaktive Pflanzen wiederzuerlangen, wovon auch Evans Schultes profitiert.
Es sind heftige Irritationen, die unserem analytischen Verstand zugemutet werden.
Was den wunderbar ruhigen Film auszeichnet, ist eine ganz besondere Atmosphäre, wiesie in europäischen Filmen kaum zu finden ist. Fast gerät man selbst in tranceartige Zustände, wenn Schamane und Forscher auf dem Amazonas dahingleitenoder durch das Dickicht der Wälder streifen, in denen eine schier endloseVielfalt von Lebensformen pulsiert. Der Film fordert unsere Form derOrientierung heraus. Während der Schamane im »Buch der Natur« liest, schleppendie Forscher Kompasse und überfüllte Koffer mit sich herum, über die sich dieIndianer lustig machen. Um auf den gefährlichen Wasserschnellen des Flussesnicht zu kentern, wirft Evans Schultes schließlich Gepäck über Bord undüberlässt sich mit wachen Sinnen dem Neuen und Unvorhergesehenen. Der Filmlehrt einen auch etwas über das, was der berühmte Ethnologe Claude Levi-Straussdas »wilde Denken« nannte. So bezeichnen die Indianer den Amazonas als »Sohn der Anakonda«, die – nach ihrem Weltbild – aus der schlangenförmig gewundenenMilchstraße einst auf die Erde stieg. Ein Denken in bildhaften Analogien stattin logischen Begriffskombinationen. Nicht ist die Schlange – wie wir esvielleicht sehen würden – ein Teil des übergeordneten Lebensraumes »Fluss«,sondern umgekehrt: Die Anakonda wird als ein gottähnliches Wesen gesehen, weilsie eine ähnliche Form wie die Galaxie am Nachthimmel hat. Sie ist Teil einerlebendigen Kosmologie, in der Flüsse, Tiere und Sterne zusammenhängen. Und sofilmt der Regisseur dieses Reptil auch in magischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, wieman sie auch in guten Naturdokus noch nie gesehen hat. Ebenso den Jaguar, derbei den Indianern auch heilige Qualitäten hat. Wir erleben eine mythische Sichtauf das Tier, das weit mehr ist als nur eine zoologische Gattung, die durchbestimmte Kategorien definiert werden kann. Es bleibt tief geheimnisvoll.
Das alles sind heftige Irritationen, die unserem analytischen Verstand zugemutetwerden, aber wir lassen uns im Film gerne damit konfrontieren, weil er unsdurch poetische Mittel zur Erkundung von Traumpfaden mitnimmt. Selten habe ichim Kino solche intimen Bewusstseinsreisen gemacht, solche subtilen Räumezwischen Denken, Fühlen und Imagination begangen, solche inneren Erweiterungengespürt.
Als ich anschließend an einem anderen Kinosaal vorbeikam, wo gerade ein Hollywood-Blockbusterlief, wurde ich von den durch die Tür dringenden Geräuschen qualvoll bedrängt.Hier klang aus den schnellen Schnitten, der lärmenden Tonspur und den unentwegtironischen Dialogen ein hysterischer Zeitbegriff heraus, der wie eineVergewaltigung der Sphären wirkte, die ich in Guerra’s Filmepos erlebt hatte.Alles wurde ständig aufgepeitscht, künstlich forciert, mit neuen Reizenaufgeladen, ohne jemals eine wirkliche eigene Reaktion aus dem Innerenzuzulassen.
Meine Bewunderung für das subtile Filmgedicht aus dem Regenwald wurde noch stärker,als ich las, dass es mit nur 1,4 Millionen Euro realisiert worden war. Einkleiner Bruchteil des Mainstream-Schinkens, der aber zu einem Meisterwerkgeführt hat, das in seiner Schönheit und geheimnisvollen Tiefgründigkeit bisheute in mir nachklingt.