Nothing sacred? Oder: Was uns heute heilig ist

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Essay
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January 21, 2016

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Ausgabe 09 / 2016:
|
January 2016
Ganz nah
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Mit dem Heiligen ist das so eine Sache. Kaum steht der Begriff im Raum, löst er eine Flut von religiösen Assoziationen in uns aus. Heilig ist das, was nur der Gottheit zu eigen ist, also nur ihr gehört. Das Heilige musste vor dem Profanen, dem Alltäglichen bewahrt und beschützt werden. Den besten Schutz boten bestimmte Areale, die klar von der alltäglichen Welt abgegrenzt waren: heilige Bezirke, heilige Haine, heilige Gebäude. Innen das Heiligtum, außen die profane, die alltägliche Welt, die nach anderen Regeln funktionierte als die sakrale, die heilige Dimension.

Wer die Regeln der sakralen Welt brach, musste mit drakonischen Strafen rechnen, da er das Heilige selbst verletzte oder miss­achtete. Das Blasphemieverbot, also das Verbot, Glaubensinhalte von Religionen zu verhöhnen, hat sich bis heute in unserem Strafgesetzbuch gehalten, auch wenn der Paragraf 166 kaum mehr zur Anwendung kommt, da er im Widerstreit mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit dieser in der Regel unterliegt.

Auch wenn für die meisten von uns die Sache mit dem religiösen Heiligen vermutlich eher schon Vergangenheit ist, so zeigt sich, dass dieses global betrachtet immer noch für eine große Anzahl von Menschen Bedeutung hat. Und ich meine hier nicht all die Fundamentalisten, die glauben, ihre bornierten Weltanschauungen mit Gewalt verteidigen oder besser dem Rest der Welt aufzwingen zu müssen. Das Heilige ist nicht aus der Welt. Man könnte fast sagen, es ist mitten in der Welt. Mich interessiert daher die Frage, ob tatsächlich mit dem Rückzug der Religion aus dem öffentlichen Leben, den wir in Nordeuropa seit dem 20. Jahrhundert als kontinuierlichen Prozess wahrnehmen können, hier auch das Gefühl für das Heilige auf dem Rückzug ist. Anders gefragt: Ist uns nichts mehr heilig?

Im Kontext der gesellschaftlichen Werte­debatte wird dies immer wieder bejaht. Wir leben demnach in einer Gesellschaft, die keine Werte und Ideale mehr habe, der eben nichts heilig sei. Ich glaube, dieser Vorwurf greift entschieden zu kurz oder besser, er greift ins Leere, weil nicht erkannt wird, dass wir nicht einfach Werte verlieren oder ersatzlos streichen, sondern dass sich Werte verändern. Das Heilige ist meines Erachtens immer noch in modernen und postmodernen Kulturen lebendig, auch wenn es sein Antlitz gewandelt hat: Es ist einfach menschlicher geworden. Wer sich jetzt fragt, ob heilig und menschlich nicht ein Widerspruch in sich ist, dem sei gesagt: Nein, es ist keiner.

¬ GALT ÜBER VIELE JAHRTAUSENDE NUR DAS GÖTTLICHE ALS DAS HEILIGE, WURDE MIT DER NEUZEIT DAS MENSCHLICHE LEBEN ZUM SCHÜTZENSWERTEN GUT ¬

In Zeiten, in denen Immanenz und Transzendenz, weltlich und göttlich, klar getrennte Dimensionen waren, war es verständlich, dass das Heilige mit dem Göttlichen verbunden war. Doch spätestens mit der Moderne ist die Trennung der beiden Dimensionen fragwürdig geworden. Vielleicht ist die Transzendenz nur ein anderer Aspekt der Immanenz und umgekehrt. Wenn dem so ist, so ist es auch naheliegend, das Heilige etwas immanenter zu sehen. Der Sozialphilosoph Hans Joas hat im Kontext der Begründungsfrage von Menschenrechten in Anlehnung an Émile Durkheim einen schönen Begriff in den Raum geworfen. Er spricht von der Sakralität der Person. Für ihn sind die Menschenrechte Ausdruck des gewachsenen und sich entwickelnden Bewusstseins von der Heiligkeit des einzelnen Menschen.

Aus der schmerzvollen Erfahrung, dass menschliches Leben sehr schnell ideologischen oder machtpolitischen Überzeugungen geopfert wurde, erwuchs in den letzten Jahrhunderten ein immer stärker werdendes Bedürfnis, dieses Leben um seiner selbst willen zu schützen. Galt über viele Jahrtausende nur das Göttliche als das Heilige und damit als sakrosankt, wurde mit der Neuzeit das menschliche Leben zum schützenswerten Gut. Einen Werteverlust kann ich in diesem Paradigmenwechsel nicht erkennen, eher eine große Aufgabe für uns alle, damit dieser Paradigmenwechsel nicht nur auf dem Papier seine Gültigkeit hat, sondern auch in der Realität.

Author:
Dr. Katharina Ceming
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