Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
April 17, 2014
Wenn wir Musik hören, uns von ihr berühren und tragen lassen, denken wir nicht. Musik ist ja die Sprache der Gefühle, wie oft gesagt wird. Auf weite Bereiche der klassischen abendländischen Musik trifft das auch zu, und doch ist es allenfalls die halbe Wahrheit. Denn was verbirgt sich hinter „Sprache“?
Damit Musik eine Sprache werden kann, muss sie sich erst einmal ein Tonsystem schaffen – und da wird seit der Antike viel gerechnet, es werden die Proportionen der Intervalle bestimmt, es wird diskutiert, wie das Naturphänomen „Obertonreihe“ sich mit melodisch verwendbaren Skalen verbinden lässt.
Darüber hinaus braucht die Musik sprachähnliche Strukturen, um „sprechen“, also etwas ausdrücken zu können. Wenn man von „musikalischer Syntax“ spricht, meint man die Bildung von melodischen Phrasen und ihre abgestuften und auf einander bezogenen Schlusswendung, die oft mit der Interpunktion der Sprache verglichen werden. Ein gutes Beispiel dafür ist das, was die Musiktheorie als „musikalische Periode“ bezeichnet: zwei ähnlich beginnende Teile, die insofern ein Ganzes bilden, als der erste offen bleibt und der zweite schließt – Halb- und Ganzschluss, wie Komma und Punkt. Aber um das hörend zu verstehen, muss man darüber nichts wissen; man kann spüren, dass nach einem Halbschluss noch etwas zur Ergänzung folgen muss, ja, man „fühlt“ es. Scheinbar gibt es so etwas wie ein „musikalisches Denken“, das zugleich Fühlen ist.
Eine Besonderheit der klassischen Musik ist ihre Fähigkeit, in Symphonien und Sonaten große Formen zu bauen, unterschiedlichste Abschnitte unter einem Bogen zu verbinden. Hier spielt bewusstes Planen des Komponisten zwar eine Rolle, aber es ist wertlos, wenn man den Satz einer Symphonie nicht als ein Ganzes wirklich erleben kann, wenn nicht eine die Musik tragende Energie die Einzelheiten sinnlich erlebbar zu einer Einheit verbindet. Musiker sprechen gern vom „Formgefühl“ eines Komponisten oder Interpreten und beziehen sich damit auf das Ineinander von denkender Planung und fühlbarem energetischen Fluss. Eines der „dionysischsten“ Werke, die Oper „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner, ist in ihrem Netz der Motive und ihrer formalen Disposition von apollinischer Klarheit. Sind Denken und Fühlen in der Musik keine Gegensätze, sondern Pole eines einzigen Kontinuums?
„Nur ein leeres Herz kann sich ganz einem Augenblick hingeben.“
Ermanno Wolf-Ferrari
Der Komponist drückt Gefühle aus – und gleichzeitig schafft er Strukturen. Beides gehört (je nach Stil unterschiedlich gewichtet) zusammen. Aber wer ist der „Komponist“? Es ist nicht sein selbstherrliches Ich, das entweder gefühllos-souverän über Strukturen gebietet oder sein Gefühlsleben vor den Hörern ausbreitet, ungefiltert durch jegliches Denken. Schon in der Begegnung mit dem Tonmaterial und der Tradition, in der er steht, trifft er auf überindividuelle Kräfte. Bisweilen sogar macht er die Erfahrung, dass ein Werk gleichsam irgendwo im Himmel schon fertig ist, und es nur darum geht, es aufzuschreiben. Das aber erfordert eine hellwache Rezeptivität. Da sind Denken und Planen einerseits und der Resonanzraum der Gefühle andererseits nur noch Hilfsmittel, nicht aber Quelle des Schaffensprozesses. Ermanno Wolf-Ferrari, ein nicht so bekannter Komponist des frühen 20. Jahrhunderts, hat es schön formuliert: „So muss das Hirn durchsichtig und ungefärbt im Augenblick des Schaffens sein. Den gleichen Zustand des Herzens nennen die Inder: ein leeres Herz haben. Das bedeutet: dass nur ein leeres Herz (leer von Teilinteressen) sich ganz einem Augenblick hingeben kann und ihn damit zu einem höchsten zu schaffen vermag!“
Solche im Geist der Hingabe komponierte Musik kann, wenn sie Interpreten findet, die ebenfalls dem Werk dienend (und nicht der eigenen Person) diese Musik aufführen, auch beim Hörer die Erfahrung auslösen, einer höheren Wirklichkeit zu begegnen. Da liegt das spirituelle Potenzial der klassischen Musik, darin begegnet sie einer höheren Ebene, wo Denken und Fühlen eins werden.