Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 19, 2018
Es gab so manche Epochen in der Geschichte der Menschheit, die kairoshaltig getränkt waren, in denen das Ewige in das Zeitliche einbrach, wie der Theologe Paul Tillich den »Kairos« beschrieb. Es öffneten sich neue Bewusstseinsräume und führten uns auf ein höheres Niveau. In ihnen drückt sich das Richtungselement in der menschlichen Evolution aus. Es will immer wieder neu entdeckt und gesehen werden. In außerordentlichem Maße gilt das für die Gegenwart, in der sich die Zukunft unserer Gattung entscheiden wird.
Doch ein Richtungselement wohin?
Zu unserem tiefsten, so oft verschütteten und verdinglichten Wesen, das Schale um Schale, Nebel um Nebel, Verstrickung um Verstrickung weiter befreit werden will! Es ist jenes grenzenlose Wesen, das fortbesteht – allen Irrungen und aller Rückwärtsgewandtheit, auch aller Konditionierung und Maschinisierung zum Trotz. Dieser dem Menschen innewohnende Adel hält uns in Bewegung, als die Unruhe des Unvollendeten und auch als die Fruchtbarkeit bewältigter Niederlagen. Er erzählt uns heute davon, dass es nach den Erfahrungen der zurückliegenden Zeitalter nicht mehr reicht, ein bisschen weniger schlecht zu sein und ein bisschen mehr Trägheit zu opfern.
Es sind die großen Menschheitsvisionen, in denen wir das Erbe immer wieder neu entwerfen, konstruieren und verwalten, das im Zukünftigen seine Heimat hat. In diesen Visionen wird das noch nicht Verwirklichte und bislang nicht offen Zugängliche sichtund begreifbar. Es entsteht ein alles durchdringender und alles umfassender innerer Erfahrungsraum. Mit ihm kann der Mensch, der das Lebensdienliche sucht, in Resonanz gehen und Heimat finden. So nehmen wir auch die Selbstverständlichkeit endlich konstruktiv an, dass hinter jeder Zukunft Menschen mit Aufbruchsgeist, Klarheit und Mut stehen. Und so will die Vision nach guten und lebensdienlichen Wünschen gestaltet und nicht lediglich bewältigt sein, sich nicht im bloßen Reflex auf die Unzulänglichkeiten des Gewordenen und Gegebenen erschöpfen. Denn dieses, dieser bloße Reflex, der das vorherrschende politische Handeln der Gegenwart auszeichnet, setzt keine wahre Lebensenergie frei. Vor allem stillt er nicht die Sehnsucht, die sich in der fortwährenden Suche nach einer besseren Welt zu erkennen gibt.
Es wird keine Alternative dazu geben, radikal über das Bestehende hinaus zu gehen.
Bedurfte es im gattungsgeschichtlichen Sinne jemals einer großen Vision, so scheint die Gegenwart reif dafür. Unser Menschsein fordert eine grundlegend neue Ordnung. Und diese zu sehen, zu verstehen und sie in ihrem Drang zur Verwirklichung ernst zu nehmen, setzt jenes besondere Verhältnis zur Wahrnehmung und Gestaltung von Zeit voraus, das wir KAIROS nennen. Vom Kairos-Bewusstsein und damit den in jedem Augenblick ruhenden Möglichkeiten her kommend, richtet die Vision die Wahrnehmung auf das, was werden will. Sie ermutigt, die Chance zur Verwirklichung eben in genau diesem Moment zu sehen; denn handeln können wir nur im Jetzt. So tritt mit Kairos die Chance als verwirklichbar ins Sein. Er weist uns aber auch darauf hin, dass das rechte Handeln zur rechten Zeit aus der Reife geschieht. Wachsend und unter der Führung aus einer Welt, die kommt, bereitet sich vor, was später seinen momenthaften Durchbruch erzielt.
Fallen Kairos und Vision zusammen und verbinden sie sich im Sprung in das Ungewisse, mag dieses Geschehen den Übergang in ein neues Erdzeitalter eröffnen. Nun will das noch nie Dagewesene gesehen und gefördert werden. Es wird keine Alternative dazu geben, radikal über das Bestehende hinaus zu gehen. Das in unserem Verhalten bisher gleichsam als naturhaft und zugleich gesellschaftlich alternativlos Angesehene will durchbrochen werden. Das jedoch setzt eine Weltsicht, eine Erkenntnis und eine Vernunft voraus, die weit hinausreichen über jene kalte »Rationalität«, die global dominiert. Es wird keinen visionär geleiteten Entwicklungssprung unserer Gattung geben ohne eine entsprechende dramatische Transformation des Bewusstseins, in dem klarer Geist, die Liebe zum Leben und die Bereitschaft, dem Leben zu dienen, sich zu einer Haltung vereinigen.