Rolle rückwärts

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

April 21, 2016

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Ausgabe 10 / 2016:
|
April 2016
Europa sucht seine Seele
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Das Leben ist ein stetiger Entwicklungsprozess. Alles entwickelt sich, Menschen, Lebewesen, ­soziale Systeme, staatliche Systeme. Die Richtung der Entwicklung scheint auch klar: hin zu mehr Komplexität und zu mehr Tiefe, um mit Ken Wilber zu sprechen. Umso mehr erscheint die augenblickliche Situation in Europa, aber auch in vielen anderen Staaten weltweit etwas irritierend. Wir dürfen nämlich gerade wieder erleben, dass es auch eine rückwärtsgewandte Entwicklung gibt. Sie trägt den wenig schmeichelhaften Namen Regression. Europa entwickelt sich nicht in Richtung der »Vereinigten Staaten von Europa«, wovon viele wohl noch am Anfang des neuen Jahrtausends träumten, sondern zu einem Staatenbund, in dem egoistische Interessen von Nationalstaaten aufeinanderprallen. In vielen demokratischen Ländern erstarken nationalistische Bewegungen.

Politische Führer und solche, die sich um Machtpositionen bewerben, scheinen sich in ihrem Denken und Handeln eher von Drehbüchern für Rambo oder Mad Max als vom Völkerrecht oder der Menschenrechtserklärung inspirieren zu lassen. Wir müssen erleben, dass vermeintlich unverbrüchliche Regeln und Normen eines zivilisierten Miteinanders immer weniger gelten. Das, was scheinbar sicherer Bestand war, ist gerade dabei sich aufzulösen. Donald Trump in Amerika oder Vladimir Putin in Russland verkörpern recht anschaulich diesen neuen Typus des Politikers.

In anderen Teilen der Welt wie in Ägypten oder Libyen zeigt sich, dass der Sturz von Alleinherrschern und Despoten nicht zwangsläufig zur Demokratie führt, auch wenn der Umbruch von großen Teilen des Volkes getragen wurde. Der Weg führt nicht automatisch von autoritären Herrschaftsformen hin zur Demokratie – nicht selten führt er zur Anarchie, weil Entwicklung sich nicht von alleine vollziehen kann, sondern gesicherte und geschützte Strukturen braucht. Fehlen diese im gesellschaftlichen und im politischen Bereich, wird es mit einer positiven Entwicklung schwer.

-JE GRÖSSER DIE ANGST VOR DER VERÄNDERUNG IST, DESTO STÄRKER WIRD DAS ALTE ZU BEWAHREN VERSUCHT.-

Umbrüche sind immer Phasen, in denen das, was war, nicht mehr trägt, und das, was kommen kann, noch entstehen muss. Schwierig wird dieser Übergang, wenn eine Hoffnungslosigkeit hinsichtlich der Möglichkeit positiver Veränderungen überwiegt und Ängste vor dem Verlust des Vertrauten entstehen. Je größer die Angst vor der Veränderung ist, desto stärker wird das Alte zu bewahren versucht. In den westlichen Demokratien sind das die guten Jahre der Nachkriegsentwicklungszeit mit relativ ­homogenen Gesellschaften, in anderen Ländern ist das bewährte Alte, das dem Leben Halt, Sicherheit und Verbindlichkeit gibt, oftmals Religion und Vätersitte.

Mir geht es hier nicht um eine Ursachenanalyse, da neben den strukturellen auch individuelle und gesellschaftliche Überzeugungen und Wertesysteme eine wichtige Rolle spielen. Worum es mir geht, ist, dass wir uns bewusst machen, dass Entwicklung eben nicht automatisch verläuft. Sie setzt einen Prozess des Wachsens voraus, in dem die Engpässe der Vergangenheit bewusst verarbeit werden, denn nur auf diesem Grund können neue Kompetenzen erwachsen, die in Richtung des Besseren führen. Zum anderen müssen wir uns bewusst machen, dass der bereits erreichte Status quo eben nicht unumkehrbar ist. Dies ist er nur, wenn wir bereit sind, uns immer wieder dafür einzusetzen und die damit verbundenen Werte zu kultivieren und zu pflegen. Das ist im besten Sinne Pionierarbeit, denn meist genügt es nicht, das, was wir bereits erreicht haben, nur aufrechtzuerhalten. Wir stehen immer wieder vor Fragen wie: Was ist nötig und hilfreich für den nächsten Schritt? Und wie kann ich dazu beitragen? Wenn wir in dieser Lebendigkeit auf das Leben antworten, wird Wandel möglich und vielleicht sogar immer öfter ein kontinuierlicher Wachstumsprozess, der ohne die großen Brüche, die wir in der Gegenwart immer wieder erleben, auskommt.

Author:
Dr. Katharina Ceming
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