Rückkehr des Erhabenen

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

January 16, 2017

Featuring:
Eva Illouz
Byung-Chul Han
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Issue:
Ausgabe 13 / 2017:
|
January 2017
Liebe in Zeiten von Trump
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Liebe im World Wide Web

Das Internet ist allgegenwärtig, auch in der Liebe. Wie verändert das Web unsere Liebe, und wie kann unsere Liebe das Web verändern? Eine Spurensuche

Liebe begleitet uns Menschen seit den Anfängen unserer Geschichte – und vielleicht auch schon weit vorher. Und jedes neue Zeitalter, durch das wir historisch gegangen sind, hat dieses Urgefühl verändert und neue Ausdrucksformen geschaffen. Ein Merkmal unserer Zeit ist der Einfluss des Internets und der Digitalisierung in allen Bereichen unseres Lebens – und natürlich auch in der Liebe. Was beutet das für uns?

Ware Liebe

Vor einiger Zeit habe ich etwas gemacht, das – so verraten Statistiken und Gespräche im Freundeskreis – immer mehr Menschen tun: Ich habe mich bei einem der unzähligen Online-Dating-­Portale angemeldet. Ich habe also ein Profil von mir angelegt. Mein Portal wirbt mit ganzheitlicher Partnersuche, also bestanden die Kategorien neben den üblichen persönlichen Angaben auch aus Fragen zu spirituellen Interessen. Dazu musste ich mich selbst in Kategorien einordnen, indem ich bestimme Merkmale ankreuzte, ich musste mich also als Mensch etwas objektivieren. Mit diesen Angaben kann dann der Algorithmus der Seite sein magisches Werk beginnen und sehr bald saß ich vor mehreren Hundert »Angeboten«, die ich dann »prüfen« konnte. Nach einer Weile hielt ich inne und war erstaunt über die Faszination dieser Fülle, der Möglichkeit, so schnell und leicht so viele potenzielle Bekanntschaften vor mir zu haben, aber auch etwas verstört darüber, dass ich nun nach Frauen suchte, wie sonst auf einer Webseite nach einem passenden Buch oder einer CD. Einer Ware.

Die israelische Soziologin Eva Illouz, die sich intensiv mit der Wirkung des Internets auf Liebesbeziehungen beschäftigt hat, sagt dazu: »Viele Menschen nutzen das Internet auf der Suche nach Sex, Romantik, Ehe und so weiter. Man sucht dort nach jemandem, als wäre man auf einem Markt. Man hat alle Möglichkeiten vor Augen. Und man kauft sozusagen ein, indem man jemandem einen gewissen Wert zuordnet. Man hat einige sehr klare Kriterien und nach denen wird die Person, die man quasi erwerben will, beurteilt, bewertet. … Hier sind die Menschen wie Waren auf einem Tisch ausgelegt, es ist ein bisschen wie ein Buffet.«

Was macht diese Vielfalt des »Angebots« mit unserer Liebe? Zunächst fällt es uns schwerer, uns auf eine Beziehung einzulassen – und leichter, bei Problemen eine Beziehung zu beenden –, denn wir wissen ja, dass es noch Hunderte, Tausende weiterer Angebote auf dem Partnermarkt gibt. Dafür gibt es auch schon eine­Diagnose: »Bindungsangst«.

¬Wir haben die Einfachheit und Freude der Liebe verloren. ¬

Gefühlsunternehmer

Die einschneidendere Veränderung ist aber wohl, wie sich das Verständnis unserer selbst und unserer Mitmenschen wandelt, um im Internet auf Partnersuche zu gehen. Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker erforscht die Internetsexualität und erklärt: »Es konkurrieren alle mit allen und man muss sowohl seine Persönlichkeit als auch seine Sexualität in einer bestimmten warenförmigen Weise darstellen, weil man ja Interesse hervorrufen muss. … Wir werden zu Gefühlsunternehmern … .« So werden die eigenen Empfindungen, Bedürftigkeiten, der eigene Körper, die Sehnsüchte, Scham und Scheu Teil des eigenen »Gefühlsunternehmens«, das wir möglichst gut vermarkten müssen. Auf diese Weise hält die ökonomische Logik Einzug in unsere Liebesbeziehungen. Und die Wirtschaft nutzt im Gegenzug die Verheißung romantischer Gefühle, um ihre Produkte zu vermarkten. Auch auf diesen Zusammenhang weist Eva Illouz hin und beschreibt, dass heute Waren von Kosmetik bis zu Versicherungspolicen mit dem Bild romantischer Liebe verbunden werden, um sie attraktiver zu machen. Und gleichzeitig leben ganze Branchen auch vom Ideal romantischer Liebe, wie beispielsweise die Freizeitindustrie.

Durch die maßgeschneiderte Suche, die die Partnersuche im Internet ermöglicht, können wir uns zudem den idealen Partner nicht nur vorstellen, sondern die vielen Angebote nach dem Partner durchsuchen, der perfekt in das Leben passt, das wir schon leben. Einem Menschen, der unseren Vorstellungen entspricht. Auch dies ist ein Prozess der Objektivierung, in dem wir einen Menschen suchen, der mit unserem Suchschema übereinstimmt. Die Überraschung, die dem »unordentlichen Gefühl« wie Richard David Precht die Liebe nennt, eigentlich innewohnt, verliert an Bedeutung. Wir wollen die Kontrolle über das behalten, was uns in einer Beziehung erwartet.

Unsere Entzauberung

Illouz erklärt, dass diese Verbindung von Liebe und Konsum heute nahezu unumgehbar ist und unserer Liebe auch viele neue Ausdrucksmöglichkeiten und eine Freiheit von traditionellen Rollen schenkt. Und das Internet bietet auch einen großen Freiraum, um verschiedene Formen von Liebe und Sexualität ausleben zu können. Und natürlich kann auch mit einem Partner, den wir auf dem Dating-Markt im Internet kennenlernen, eine tiefe Liebe entstehen, können sich in der direkten Begegnung wieder Überraschung und Zauber entfalten. In meinem Bekanntenkreis gibt es einige Beispiele dafür. Zudem gibt es auch große Unterschiede zwischen den Dating-Seiten und -Apps, von Seiten wie Parship oder dem alternativen Portal Gleichklang, in denen vor allem feste Beziehungen gesucht werden, bis hin zu Tinder, wo es unverbindlicher zugeht oder Lovoo, mit dem »Flirtradar«, das einem das direkte Ansprechen von Leuten in einer Bar abnimmt, indem man Flirtwillige einfach per App kontaktieren kann.

Diese heutige Freiheit und Vielzahl der Möglichkeiten vergleicht Illouz in ihren Büchern auch mit dem Umgang mit Liebe und Paarbeziehung in vergangenen Jahrhunderten. Und sie kommt zu dem Schluss: »Die Klugheit verbietet, dem nachzutrauern, was nicht mehr ist. Doch kann ich mir die Frage einfach nicht verkneifen, ob wir nicht das, was wir an Freiheit und Lust gewonnen haben, an Potenzial für das Erhabene verloren haben.« In diesem Sinne merkt sie auch an, dass die »einzige ernsthafte Konkurrenz zu einem konsum­orientierten Bild der romantischen Liebe eine religiöse Lebensart« sei: »In religiösen Bevölkerungsschichten existiert eine ganz eigene, abgegrenzte Vorstellung von Liebe. Streng religiöse Menschen teilen andere Werte, wie etwa die gemeinsame spirituelle Erfahrung Gottes.«

Die Soziologin spricht hiermit das Dilemma unserer säkularen Kultur an, die Freiheit und Pluralität und individuellen Lebensformen – und die Entzauberung der Welt und damit auch der Liebe. Und den Ansturm auf die Online-­Dating-Seiten könnte man auch als die mannigfaltige Sehnsucht nach dem Erhabenen deuten. Denn die persönliche Liebesbeziehung ist fast der einzige Ort, an dem der säkulare Mensch noch auf dieses Erhabene zu hoffen wagt – und sei es nur in der Entrückung sexueller Erlebnisse.

¬Die ökonomische Logik hält Einzug in unsere Liebesbeziehungen. ¬

In der psychologischen und spirituellen Ratgeberliteratur wird versucht, ein tieferes Gefühl der Erhabenheit wieder in die Liebe zurückzubringen. Es ist dann die Rede von »Soul-­mates«, den Seelenpartnern. Die Zweierbeziehung wird so unter spirituellen Vorzeichen zu einem heiligen Rückzugsgebiet. Dabei sind wir uns aber meist nicht bewusst, dass auch dies nur eine Variante der Vermählung zwischen Romantik und Konsum sein kann. Und oft ist auch diese persönliche Erhabenheit nicht von langer Dauer und ein nächster, vielleicht noch passenderer Seelen­partner könnte irgendwo da draußen sein, in den Weiten des World Wide Web.

Es scheint, dass wir in diesem Dilemma zwischen dem Verlust des Erhabenen und der verzweifelten Suche danach uns selbst und unsere Beziehungen aufreiben. Aber vielleicht haben wir verlernt, uns vom Erhabenen finden zu lassen.

Im Angesicht des Erhabenen

Eva Illouz spricht darüber, dass eine »gemeinsame spirituelle Erfahrung Gottes« religiösen Menschen einen Bezugspunkt gibt, durch den sie nicht so leicht auf das Konsum-Romantik-Karussell aufsteigen. Sicher können und wollen wir nicht in den Hafen enger religiöser Normen zurück; die Freiheit des Ausdrucks partnerschaftlicher Liebe hat uns individuell wachsen lassen. Aber in Verbindung mit dem Internet wurde unser Umgang mit der Liebe auch von den Merkmalen dieses Mediums geprägt. Das Internet ermöglicht die globale Vernetzung, aber es ist flach und wertfrei. Die Aktivisten des Arabischen Frühlings, die sich nach Freiheit sehnten, können sich darin genauso vernetzen, wie die Terroristen des IS, um ihre Anschläge zu planen. Diese moralische Einebnung ist ein Merkmal des Internets und sie macht auch andere Menschen leicht zu einem eindimensionalen Objekt. Der große Markt der Möglichkeiten, den Dating-Seiten suggerieren, lässt das Bild einer unerschöpflichen Masse von möglichen Partnern entstehen, die aber auch beliebig werden. Illouz spricht von einem Zynismus, der sich dadurch in unserer Liebe breitmacht. Wir nehmen unseren Partner nicht mehr ernst, lassen uns nicht mehr auf eine tiefe Begegnung ein, denn im Web wartet schon der oder die nächste. Die Erhabenheit, der die Soziologin etwas nachtrauert, ist vielleicht tatsächlich die Erfahrung und Qualität, die der menschlichen und moralischen Einebnung des Internets etwas entgegensetzen kann.

Der Philosoph Byung-Chul Han spricht im Zusammenhang mit dem Internet oft von einer Kultur des Gleichen und der Oberflächen. Dadurch, dass uns Algorithmen mit Informationen zu Themen und Meinungen versorgen, die wir schon mögen, begegnen wir immer mehr nur uns selbst. Und wir tasten uns an der glatten Oberfläche der vielen Möglichkeiten entlang und finden die Tiefe nicht mehr. In dieser »Austreibung des Anderen«, so der Titel von Hans neuem Buch, geht aber auch der Eros verloren, der sich in der Begegnung mit dem ganz Anderen entfaltet. Diese Qualität des Anderen wohnt auch der Erhabenheit inne. Erhaben nennen wir eine Erfahrung, die über das Gewöhnliche hinausgeht, in der eine Schönheit, eine Größe und etwas Heiliges uns berühren. Es ist verwandt mit dem Begriff des Numinosen, den der Religionswissenschaftler Rudolf Otto einführte, um die Qualität des Heiligen zu umschreiben. Für ihn hatte diese Begegnung mit dem Heiligen zwei Dimensionen: das Mysterium fascinans, die tiefe Anziehung einer beglückenden Erfahrung des Seins, und das Mysterium tremendum, die Ehrfurcht vor dem ganz Anderen, das in unserer Leben einbrechen kann. Auch der Psychologe und Zen-Meister Karlfried Graf Dürckheim sprach viel über diese Qualitäten des Numinosen als Tore, die sich in das Geheimnis des Lebens öffnen. Graf Dürckheim bezeichnete die Begegnung mit diesem Heiligen als Seinserfahrung und sprach davon, dass eine Dimension, in der wir sie erfahren können, die menschliche, auch sexuelle Liebe ist. Für ihn waren solche Seinserfahrungen erhebende und erschütternde Einblicke in die Tiefe unserer Existenz, in denen wir auch erleben, dass Liebe der erhabene Grund allen Seins ist. Solche Erfahrungen sind verbunden mit dem Auftrag, dieses Geheime, dieses innerste Wesen nun im Leben und in der Welt zu bezeugen und zum Ausdruck zu bringen. Dieser Vision der Begegnung mit einer Tiefe der Existenz scheint das Internet diametral entgegengesetzt zu sein. Auf der Oberfläche unseres Bildschirms erscheint alles gleich-wertig. In einem Facebook-Feed wechseln sich Tiervideos mit Aussagen spiritueller Lehrer und Urlaubsfotos von Freunden mit Bildern aus dem bombardierten Aleppo ab.

Ein neues Wahrnehmungsorgan

Das World Wide Web hat uns eine nie da gewesene Vernetzung gebracht, die unser Bewusstsein geweitet und erweitert hat. Sie hat uns unerschöpfliche Möglichkeiten geschenkt, nun liegt es an uns, auch die Tiefe, zu der wir als Menschen fähig und gemeint sind, in dieses immer noch neue Medium einzuführen. Aber wie kommt Erhabenheit, ein Sinn für das Heilige, das uns übersteigt, wieder zurück in unser – auch virtuelles – Leben und Lieben? Vielleicht müssen wir lernen, unser Wahrnehmungsorgan für das Erhabene wieder zu üben und so zu erweitern, dass wir der flachen Vernetzung mit einer existenziellen Unterscheidungskraft begegnen können.

Fast jeden Morgen habe ich ein Art Ritual. Zuerst die gemeinsame Meditation mit Freunden, bei der wir über Telefon mit anderen Freunden verbunden sind, die zur gleichen Zeit meditieren. Diese virtuelle Verbindung hilft uns, einen Ausdruck für das gemeinsame Feld zu setzen, das wir in der Meditation erfahren. Nach der Meditation sprechen wir oft noch einige Zeit miteinander über aktuelle Ereignisse oder gemeinsame Erfahrungen, oder verweilen einfach schweigend in dem meditativen Feld. Einem Feld, das unserer Freundschaft den Geschmack des Erhabenen gibt. Wenn ich dann zuhause bin, gehe ich nach dem Frühstück für einige Zeit auf Facebook, für mich auch eine Art, mich mit der Welt zu verbinden, mit Freunden, spirituellen Mentoren, inspirierenden Menschen und dem, was gerade in der Welt geschieht. Natürlich kann man an sozialen Medien viel kritisieren, zum Beispiel die Filterblasen, in denen wir nur noch Meinungen begegnen, die unseren eigenen gleichen. Aber die Ursache liegt wohl nicht nur in der Technologie, sondern auch darin, wie wir sie nutzen. Für mich kann Facebook durchaus zum Medium der Empathie werden – und dann ist es gut, den Zeitpunkt zu bemerken, wo es oberflächliche Ablenkung wird. Und selbst ein Chat auf WhatsApp kann über weite Entfernung eine Verbindung mit einem geliebten Menschen aufechterhalten und so den Alltag als Erinnerung an eine geteilte Verbundenheit bereichern.

¬Vielleicht haben wir verlernt, uns vom Erhabenen finden zu lassen.¬

Den Menschen freilegen

Liebe in den Zeiten des Internets stellt uns vor die Herausforderung, die Verflachung, die Abstumpfung, die Möglichkeitswüste, den moralischen Relativismus zu durchbrechen und der Dimension des Erhabenen wieder in unserem Leben, auch in unserem virtuellen Leben, Raum zu geben. Es ist eine Haltung, in der wir in den Geschehnissen in der Welt, dem Leid anderer und in der Liebe und Freundschaft zu Nahestehenden die Stimme des großen Geheimnisses spüren, die uns umfängt und ruft. Dazu aufruft, Liebende zu werden in einer vernetzten Welt. Diese Liebe hat die Kraft, dem Menschen in seiner Größe, seiner Erhabenheit, seinem Anderssein zu begegnen.

Dann sind auch Partnerportale im Internet eine der Möglichkeiten für einen ersten Kontakt. Für mich stellte sich schnell heraus, dass das nicht meine Methode der Partnersuche ist. Aber es liegt an uns, wie wir sie nutzen, ob wir uns zu konkurrierenden »Gefühlsunternehmern« machen lassen, oder durch die Objektivierung hindurch immer wieder den Menschen »freilegen«, der wie wir eine Begegnung und vielleicht auch das Erhabene sucht. Ja, es könnte eine der großen Aufgaben der heutigen Zeit sein, das Internet und die digitale Vernetzung als eine Herausforderung der Liebe zu sehen. Es liegt an uns, das kalte Medium zu erwärmen und als Raum zu sehen, der von uns mit der Bewusstheit und Verantwortlichkeit für die heilige Tiefe des Lebens erfüllt werden kann.

Author:
Mike Kauschke
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