Sensationeller Sex

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

January 21, 2016

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Ausgabe 09 / 2016:
|
January 2016
Ganz nah
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Bei Intimität denken wir schnell an Sex, den Bereich unseres Lebens, in dem wir die Wunder ungeschützter, ekstatischer Nähe erhoffen. Aber vielleicht erwarten wir zu viel und vereiteln gerade dadurch dieses Wunder?

Erwartungen an unsere Sexualität

Sex und damit auch die Beschaffenheit und Entwicklung intimer Beziehungen ist (wen würde es überraschen?) ein sehr aufgeladenes Thema. Gebrauchsanleitungen in Buchform und Kurse über guten Sex gibt es in Hülle und Fülle. Darin werden die unterschiedlichen Wege aufgezeigt, wie man in einer Beziehung angetörnt oder noch stärker angetörnt wird. Interessant ist, dass kaum jemand das Abgetörnt-Sein untersucht, durch das die Frage, wie man angetörnt wird, überhaupt erst aufkommt. Angesichts der bloßen Menge solcher Bücher und Kurse scheint es ein Übermaß an sexuellen Schwierigkeiten und Unzufriedenheit in Beziehungen zu geben. Eine Menge Aufmerksamkeit richtet sich auf diese Tatsache, verbunden mit allerlei Vorschlägen zur Abhilfe, doch nur wenige fragen, inwieweit Schwierigkeiten und Unzufriedenheit in den nichtsexuellen Bereichen einer Beziehung die Sexualität der Partner beeinflussen. Oft sind wir nicht bereit, uns genauer anzuschauen, was beim Sex – abseits des Biologischen – tatsächlich geschieht. Doch ohne dieses Hinterfragen tappen wir weiter im Dunkeln und erwarten viel zu viel vom Sex.

Allheilmittel Sex?

Wie wir wissen, sind unsere Erwartungen an die Sexualität sehr hoch. Häufiger als wir vielleicht zugeben möchten, wollen wir durch Sex unseren Stress abbauen, ein Gefühl der Sicherheit finden, unsere Ehe retten, unser Ego zufriedenstellen, Lust empfinden und ähnliches. Manchmal setzen wir Sex als Super-Schlafmittel, als schnell wirkenden Muntermacher, als Trostspender, als Zuflucht oder Versteck, als Kontrollstrategie oder als Beweis ein, dass wir nicht zu alt und eingerostet sind. Sex kann außerdem als seelischer Mülleimer dienen oder ein praktisches Mittel sein, um die körperlichen Energien verschiedener unerwünschter Zustände wie Einsamkeit, Wut oder Verzweiflung loszuwerden. Meistens wollen wir jedoch Sex einfach deswegen, damit wir uns besser fühlen.

¬ SEX KANN NICHT AUS DEM REST UNSERER ERFAHRUNG HERAUSGETRENNT WERDEN. ¬

Immer wieder hört man von »Sexsucht«, und mehr noch: Unsere gesamte Gesellschaft ist so allgegenwärtig von Sex durchdrungen, dass es nicht vermessen wäre, sie insgesamt als sexsüchtig zu bezeichnen. Doch bei der Sexsucht geht es, wie wir sehen werden, nicht in erster Linie um Sex, sondern darum, wofür Sex als »Lösung« betrachtet wird. Wir denken, dass unser sexuelles Begehren, das sich auf eine bestimmte Person oder Situation richtet, einfach ein Ausdruck unserer natürlichen Sexualität ist. Dabei geht es in Wahrheit vielleicht eher um die Erotisierung unserer Konditionierung oder die eines psychologischen Bedürfnisses.

Im Sex werden wir aber keine echte Freiheit erfahren, bevor wir ihn aus der Verpflichtung entlassen, dafür zu sorgen, dass es uns gut geht. Solange wir dem Sex diese Arbeit – echte Sklavenarbeit – übertragen, werden wir in genau den Umständen gefangen bleiben, für die die sexuelle Entspannung die scheinbare »Lösung« darstellt. Mehr Stress bedingt ein größeres Verlangen, diesen Stress loszuwerden. Wenn wir dies mit sexuellen Mitteln versuchen, stärken wir die Ursachen für den Stress. Indem wir uns von erotisch befriedigender Entspannung abhängig machen, werden wir häufig auch abhängig von genau der Spannung, die eine solche Entspannung anscheinend notwendig macht.

Der Missbrauch von Sex, insbesondere durch die Erwartungen, mit denen wir ihn überfrachten, ist gesellschaftlich so allgegenwärtig, dass er weitgehend unbemerkt bleibt. Noch weniger Aufmerksamkeit richten wir auf unsere Abneigung, das ganze Gebiet der menschlichen Sexualität wirklich zu erforschen, nicht klinisch oder auf andere Weise isoliert, sondern im Kontext unseres gesamten Seins, unseres ganzen Wesens, unserer innewohnenden Ganzheit.

Das heißt: Sex braucht nicht – und kann in der Tat nicht – aus dem Rest unserer Erfahrung herausgetrennt und isoliert werden. Stattdessen können wir unsere Sexualität sehen, fühlen, verstehen und leben, in wacher Resonanz – und Beziehung – mit allem, was wir sind und tun. So wird Sexualität so weit wie möglich nicht bloß ein spezialisierter, funktionaler Akt oder ein Akt, von dem wir erwarten, dass wir uns dadurch besser oder sicherer fühlen, sondern ein freier, kraftvoller Ausdruck immer schon gegenwärtiger, immer schon liebevoller, immer schon unbelasteter Ganzheit.

Mythos Sex

Wenn wir unsere Sexualität in erster Linie mit Stressabbau, mit der Stärkung unserer Sicherheit, der Bestätigung unseres Egos, dem Nähren romantischer Täuschungen und dergleichen Lasten in Verbindung bringen – und sie dadurch mit dem Anspruch beladen, dafür zu sorgen, dass es uns besser geht –, dann belügen wir uns im Grunde selbst. Wir vergeuden einen Großteil ebenjener Energie, die wir bräuchten, um uns unserer Verletztheit zu stellen und sie zu heilen – ausgerechnet die Verletztheit, vor der wir mithilfe der angenehmen Erfahrungen, die unsere Sexualität bietet, Zuflucht oder Erleichterung suchen.

Seit mindestens dreißig oder vierzig Jahren leben wir in einer durch und durch sexualisierten Gesellschaft – das Adjektiv »sexy« ist in praktisch jeden Lebensbereich vorgedrungen. Es gibt eine deutlich größere Offenheit für Sex, als noch vor fünfzig oder sechzig Jahren, aber diese Offenheit hat zu einem guten Teil mehr mit Breite als mit Tiefe zu tun. Wir haben größere Freiheiten, mit Sex zu experimentieren oder in allen Einzelheiten darüber zu reden. Dennoch reden wir darüber nicht sehr oft in einer wirklichen Tiefe – indem wir beispielsweise die nichtsexuelle oder präsexuelle Dynamik erforschen, die während der sexuellen Aktivität wirkt –, denn das würde uns in einen Zustand echter Verletzlichkeit und Transparenz versetzen, in dem es nicht mehr so leicht ist, den Anschein aufrechtzuerhalten, dass »wir alles im Griff haben«.

Und dabei befinden wir uns in der Ära der Einverständniserklärungen, beherrscht vom Mythos – ja, Mythos – von Erwachsenen, die bewusst in gegenseitigem Einverständnis handeln. Im Zusammenhang mit Sexualität machen sich viele Menschen keine klaren Gedanken darüber, worum es geht und was auf dem Spiel steht, stattdessen treffen sie ihre Entscheidungen aus einem (meist in der Kindheit wurzelnden) Verlangen nach Anerkennung, Zuwendung, Verbundenheit, Liebe oder Sicherheit, oder sie versuchen, sich von ihrem Schmerz abzulenken. In diesem Fall handeln wir nicht wie bewusste Erwachsene in gegenseitigem Einverständnis, sondern eher wie erwachsene Kinder (und/oder Heranwachsende), deren »Einverständnis« – wie »bewusst« auch immer – bloß ein erotisierter Ausdruck eines ungelösten Verletztseins oder unerfüllter nicht­sexueller Bedürfnisse ist.

Die tiefste Sexualität, eine Sexualität, die keine (inneren oder äußeren) Fantasien benötigt, keine Antörn-Strategien oder Erregungsrituale, sondern allein die Liebe, Offenheit und Sicherheit erwachter Intimität lebt, kann man ohne eine entsprechende Tiefe in den anderen Bereichen der Beziehung nicht erreichen. Ohne eine solche beiderseitige Reife ist es völlig egal, wie heiß oder pikant oder innovativ unser Sexleben ist, selbst wenn man viele Orgasmen, große Orgasmen gemeinsam erlebt.

Jenseits der Sensationen

Wenn uns der Sex zusammenbringen soll, dann geraten wir schnell auseinander, trennen und verlieren uns in unserer Suche nach maximal lustvollen Sensationen. »Sensationeller« Sex ist genau dies: eine Sexualität, die sich konzentriert und definiert als Fülle erotisch aufgepumpter Empfindungen, Sensationen. Das romantisierte Vorhandensein solcher Empfindungen wird oft fälschlicherweise als tatsächliche Intimität dargestellt, jedenfalls so lange, bis die gemeinen Stiche der Realität ihr meist zu wenig geschätztes Werk tun.

Die meisten Paare sind nicht übermäßig zufrieden mit ihrem Sexleben. Bei manchen ist sexuell die Luft raus und sie haben über lange Zeiträume wenig bis gar keinen Sex. (Kein Wunder, dass ihre übrige Beziehung in der Regel ebenfalls flach ist, emotional eher depressiv, wenig leidenschaftlich, unnatürlich friedfertig.) Andere Paare sind sichtbarer frustriert, sie wollen mehr, als sie bekommen (dieser quantitative Fokus der Klagen kommt meist von Männern), oder sie wünschen sich mehr Verbindung, bevor es zum Sex kommt (dieser qualitative Fokus der Klagen kommt meist von Frauen). Wieder andere verhalten sich anfangs so, als sei in sexueller Hinsicht bei ihnen alles in Ordnung, und geben nur widerstrebend zu, dass ihnen die Richtung, in die sich ihr Sexleben entwickelt, nicht behagt. Und so weiter. Die gute Nachricht dabei ist, dass eine solche Unzufriedenheit, sofern man ihr erlaubt, sich in vollem Umfang zu zeigen, ein Paar oft dazu bewegt, eine Entwicklung anzugehen, die es ansonsten vermeiden oder hintanstellen würde.

¬ SEXUALITÄT KANN TIEF SPIRITUELL SEIN, WENN WIR DEN VERSUCH AUFGEBEN, SIE IN »HÖHERE« BEREICHE HINEINZUMANÖVRIEREN. ¬

Wenn ein Paar seine Sexualität in ihrer ganzen Tiefe erforscht, wird es erfahren, dass das, was in der Beziehung im Argen liegt, sich normalerweise auch in der Sexualität offenbart, und zwar oft in übertriebener Weise. Und umgekehrt, wenn ihre Beziehung insgesamt reifer und erwachsener wird, werden die Partner feststellen, dass dies ihrer Sexualität neuen Schwung gibt und sie vertieft. Da braucht man keine Sexhandbücher, keine Fantasien oder andere Antörn-Taktiken – vertiefte Intimität und gestärktes gegenseitiges Vertrauen sind mehr als ausreichend. Sie schaffen eine Atmosphäre, in der durch Liebe entzündetes und von Gewahrsein durchdrungenes sexuelles Begehren ganz natürlich entstehen und fließen kann. Die Liebenden werden mitgetragen in das süße Dynamit immer neuer Geheimnisse und in die gemeinsame Ekstase, die uns tiefe Intimität eröffnen kann.

Begegnung mit dem Leiden

Viele Männer geben Liebe (oder etwas, das aussieht wie Liebe) und/oder das Versprechen von Sicherheit, um Sex zu bekommen. Wahrscheinlich ebenso viele Frauen geben Sex, um Liebe (oder etwas, das aussieht wie Liebe) und/oder das Versprechen von Sicherheit zu bekommen. In beiden Fällen jedoch ist die Sexualität gefangen, verurteilt zur Zwangsarbeit in den Ausbeuterbetrieben unserer Neurosen.

Wenn Sex als Mittel eingesetzt wird, um uns von unserem Leiden abzulenken, uns zu beruhigen und eine für kurze Zeit überzeugend wirkende Illusion echter Verbundenheit zu erzeugen, dann stehen wir draußen in der Kälte, egal wie heiß unser Sex ist. Wir wollen vielleicht nicht sehen, worum es uns beim Sex wirklich geht, abgesehen von einer lustvollen Stimulation. Vielleicht wollen wir den Kontext nicht sehen, in dem wir uns vor, während und nach dem Sex befinden. Wenn wir jedoch während der sexuellen Begegnung (angefangen mit den ersten Anzeichen erotischen Interesses und wachsender Intensität) unsere bewusste Aufmerksamkeit auf uns selbst und auf unseren Partner richten – was nicht bedeutet, sich vom Partner/von der Partnerin oder der eigenen Erfahrung abzutrennen! –, dann haben wir die Möglichkeit, die Ursachen unseres Leidens ebenso zu beobachten wie unser heftiges Verlangen, diesem Leiden zu entkommen. Wir werden uns dann buchstäblich in flagranti erwischen und erkennen, dass unser Verhalten beim Sex oft nichts weiter ist als eine Übertreibung unseres sonstigen Verhaltens. Sexuelles Wohlbefinden und Glück ist nicht möglich ohne ein damit verbundenes Wohlbefinden und Glück im übrigen Leben. Solange uns das nicht bewusst ist, bleibt die sexuelle Beziehung zu unserem Partner oberflächlich.

Es gibt viele Möglichkeiten, die Sexualität zu missbrauchen, unter denen der Versuch, sie zu spiritualisieren, nicht die trivialste ist. Wir belasten sie mit metaphysischen oder tantrischen Erwartungen und versuchen, sie zu manipulieren, damit etwas »Höheres« oder Heiligeres daraus wird. Aber der Sex braucht nicht das Tor zur Glückseligkeit oder zum höheren Bewusstsein zu sein. Es tut dem Sex gut, von solch »hohen« Erwartungen (samt dem meist nicht eingestandenen spirituellen Ehrgeiz) gelöst zu werden, damit er seinen natürlichen, spontanen, nicht von irgendwelchen Gedanken an »höher« oder »niedriger« verunreinigten Ausdruck findet.

Raum für Liebe

Sexualität kann tief, ja erschütternd tief spirituell sein, wenn wir den Versuch aufgeben, sie in »höhere« Bereiche hineinzumanö­vrieren. Dafür reichen tiefes gegenseitiges Vertrauen und Leidenschaft, unverstellte Liebe, volle Hingabe und keinerlei Anhaftung an ein bestimmtes Ergebnis – so, wie es sich in Beziehungen zeigt, in denen das SEIN im Mittelpunkt steht.

Das ursprüngliche Wunder und die Schönheit, in die wir eintauchen können, ist nichts Zufälliges, sondern immer wieder eine Neuentdeckung und eine Präsenz, die in uns nur tiefe Dankbarkeit hervorbringen kann. Wir sind nicht mehr nur Menschen, die das wahrhaft Heilige kennen – wir sind die Liebenden und Vertrauten des Heiligen und pulsieren gemeinsam an einer Grenze, hinter der nur noch das Absolute Geheimnis liegt. Das erfordert Partner, für die Sex eine zutiefst intime Vereinigung ist, ein heiliger Tanz der Körper, eine verkörperte Ekstase, vollkommen entflammt in erwachter Liebe und Leichtigkeit. Und der Preis dafür? Er besteht darin, uns unserem Schmerz und unseren offenen Wunden und emotionalen Sackgassen zuzuwenden und alles zu tun, was nötig ist, um die notwendige Heilung geschehen zu lassen. Dabei können wir alles zulassen, was aufsteigt, um dem Erwachen aus unseren Konditionierungen zu dienen.

Sex ist weder Erlösung noch Trost. Beladen wir ihn nicht mit Hoffnungen oder Erwartungen. Werden wir nicht unsensibel gegenüber seinen Jahreszeiten, seinen Gezeiten, seiner Stille, dem geschmolzenen Geheimnis und der grenzenlosen Einladung. Und machen wir ihn nicht billig durch überflüssige Stimulationsstrategien. Wenn wir Fantasien brauchen (oder sich unsere Aufmerksamkeit in aufreizende innere Bilder versenken muss), um »guten« Sex zu haben, dann richtet sich unser Interesse nicht auf sexuelle Intimität und Tiefe, sondern auf bloße Gedankenspiele. Ihr primärer Zweck ist es, lustvolle Sensationen zu maximieren und uns von den eher weniger lustvollen Aspekten unserer Gefühle für unseren Partner/unsere Partnerin abzulenken.

Wenn sich die sexuelle Leidenschaft nicht einfach aus gegenseitiger Liebe und Verbundenheit entzündet, warum sollten wir dann versuchen, sie herbeizuführen? Warum sollten wir uns in sie hi­neinfantasieren oder sie hervorstreicheln? Es geht nicht darum, Liebe zu »machen«, sondern eher darum, Raum zu schaffen für die bereits vorhandene Liebe. Diese Offenheit kann zum Nährboden, zum Anker, zur natürlichen Grundlage, zum belebenden Mittelpunkt unserer Sexualität werden. Dann verspricht die Sexualität nicht Glück, sondern beginnt mit Glück, mit Liebe, mit ungeschützter Intimität, mit tiefem Vertrauen und Glauben an die unaussprechliche Offenheit der WIRKLICHKEIT.

Dann ist Sexualität eine wilde, aber zutiefst verbundene Liebe, Liebe in der ekstatisch intimen Blöße, Liebe, die sowohl nackt und ursprünglich als auch zutiefst zärtlich ist, anstrengungslos transparent für das SEIN und gleichzeitig verwurzelt in ungezähmter Leidenschaft. Sie durchstrahlt das Personale und das Transpersonale und ist nicht länger beladen mit irgendwelchen Erwartungen, uns Wohlbefinden, Sicherheit oder Ganzheit zu geben.

Author:
Robert Augustus Masters
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