Spannung l(i)eben lernen

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

July 14, 2015

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Ausgabe 07 / 2015
|
July 2015
Die Zukunft in uns
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Transformation beginnt im Dazwischen

Achtsamkeit und Meditation haben Einzug in viele Bereiche unserer Gesellschaft gehalten. Werden sie unser Zusammenleben von innen transformieren? Oder werden spirituelle Übungen genutzt, um ein krankes System zu stützen? Nadja Rosmann untersucht, was uns die Bewusstseinshaltung der Meditation über die Dynamik sozialen Wandels sagen kann.

Chade-Meng Tan, der bei Google das Achtsamkeits-Programm »Search Inside Yourself« entwickelte, hat eine Vision. Bei der Konferenz Wisdom 2.0 in San Francisco verkündete er als das große Ziel des von ihm gegründeten Leadership-Instituts: »Alle Führenden auf der Welt sind weise und voller Mitgefühl und schaffen so die Rahmenbedingungen für den Weltfrieden.« Das hört sich nach einer wunderbaren Gleichung an. Meditation rettet die Welt.

Doch während die Nerds und CEOs im Silicon Valley bereits euphorisch den neuen Mindfulness-Hype zelebrieren, mehren sich die kritischen Stimmen. Kapitalismus-Skeptiker und Langzeit-­Meditierende, für die die Praxis der Achtsamkeit seit jeher ein zutiefst spirituelles Anliegen ist, wittern bereits die nächste Eskalationsstufe eines eher perfiden Spiels: Nabelschau statt Innenschau. Kollektive Entspannung, damit die kapitalistische Maschinerie nur noch besser geölt weiterläuft als bisher.

Ungewissheit aushalten

Die Notwendigkeit eines radikalen Systemwandels liegt in der Luft. Eines Wandels, der nicht allein auf kleinen Veränderungen beruht, sondern auf einer kategorialen Transformation. Otto Scharmer etwa spricht von einem Sprung vom Ego-System zum Öko-System, von der Selbstbezogenheit, die individualistische Gesellschaften und ihr Handeln kennzeichnet, zu einer Perspektive, die in uns und durch uns die lebendige Möglichkeit von etwas Größerem, Verbundenerem zum Ausdruck bringt und so neue Systeme schafft, die mehr Teilhabe und Verantwortlichkeit möglich machen. Meditation könnte hierbei zur Geburtshelferin werden, kann sie doch das Bewusstsein weiten für eine Grenzenlosigkeit, die über den Radius der Selbstbezüglichkeit des Ich hinausgeht. Meditieren ist jedoch keine Gleichung, keine Methode, die den Geist zielsicher von A nach B bringt und Egoisten zu Heiligen werden lässt. Sie ist eher das Tor zu einem Bewusstseinsraum, der erkundet, durchdrungen, bewohnt werden will. Es reicht nicht, dieses Tor zu sehen und hindurchzugehen, damit Transformation möglich wird, es braucht auch die Bereitschaft, sich selbst zu verändern.

Kulturelle Entfaltung und menschliches Reifen wirken oftmals wie ein Prozess des graduellen Voranschreitens. Im Blick zurück scheinen die einzelnen Etappen einer größeren Entwicklung eine innere Logik zu offenbaren. Das meditative Paradox dabei ist: Während wir uns aus vertrauten Komfortzonen hinauslehnen ins Unbekannte, ist diese Bewegung vielleicht von positiven Erwartungen getragen, doch können wir nicht wissen, wohin sie uns führen wird. Die Lösung, die wir heute denken, kann der Engpass von morgen sein. Diese Spannung auszuhalten und Offenheit zu bewahren, fällt schwer. Die drängenden Herausforderungen unserer Zeit scheinen so sehr nach wirklichen Verbesserungen zu rufen. Wie können wir uns da mit Ungewissheit begnügen? Und dennoch einen Beitrag leisten?

¬ EINE SPIRITUELLE PERSPEKTIVE KANN DEN RADIUS ETHISCHER VERANTWORTLICHKEIT AUSWEITEN UND MUT MACHEN, SICH DEM UNGEWISSEN AUSZUSETZEN. ¬

Vielleicht ist es genau dieses Nicht-Wissen, dieses tiefste Wesen von Meditation selbst, das uns besser verstehen lässt, welche Bedeutsamkeit Achtsamkeit in der Wirtschaftswelt gegenwärtig zu entwickeln beginnt und noch entwickeln kann. Ich beschäftige mich seit gut zehn Jahren beruflich mit Achtsamkeit in Arbeitskontexten, als Researcherin, Organisatorin eines Kongresses zur Meditations- und Bewusstseinsforschung und als Ko-Entwicklerin einer Meditations-App. In dieser Zeit des Forschens und Gestaltens habe ich viele, anfangs kaum sichtbare meditative Pflänzchen wachsen sehen. Ich habe erlebt, wie nahe sich Euphorie und Ernüchterung sind, wenn Menschen sich der befreienden Wirkung des Meditierens bewusst werden und sich dann an den so starr wirkenden Gegebenheiten des Bisherigen zu reiben beginnen. Wenn Firmen Achtsamkeitskurse anbieten, in denen sich ihre Mitarbeiter zu verändern beginnen, das System Unternehmen aber eigentlich bleiben soll, wie es ist. Und ich habe gelernt, dass dies bei allen Pannen und Rückschlägen wahrscheinlich schlüssige Etappen sind auf dem Weg zu etwas, das wir nicht im Voraus denken und greifen können, sondern für das wir auch immer wieder offen werden müssen.

Meditation fürs Ich und die Firma

»Performance ist eine Realität im Business«, beschrieb Galbie ­Kamarei von der weltgrößten Investmentgesellschaft Blackrock auf der Konferenz Wisdom 2.0 den vorherrschenden Modus Vivendi der Unternehmenswelt. Der Wille zur Leistung speist sich häufig aus der Aussicht auf finanziellen Erfolg. Doch selbst in der Kapitalbranche, in der Geld beinahe alles ist, scheint es nicht mehr genug zu sein. »Das Engagement und die Leidenschaft der Mitarbeiter lassen sich nicht kaufen. Kreative Leistungen erwachsen aus dem Inneren der Menschen. Durch Meditationsprogramme können Firmen diese inneren Ressourcen fördern, um das authentische Engagement der Mitarbeiter möglich zu machen«, so Kamarei. Deshalb bietet sie bei Blackrock seit 2013 firmenweite Achtsamkeitskurse an. Inzwischen nehmen mehr als zehn Prozent der 12.000 Angestellten daran teil. Ein- bis zweimal wöchentlich meditieren sie gemeinsam und treffen sich in Diskussionsgruppen, um über Achtsamkeit im Arbeitsalltag zu sprechen.

»Die Banker meditieren, die Vorstandsvorsitzenden machen Yoga, ganze Abteilungen üben sich in sogenannter Achtsamkeit. So versucht der Kapitalismus, fernöstliche Spiritualität für seine Zwecke auszubeuten«, folgert Mark Siemons in der »FAZ«. Und sieht in der meditativen Gelassenheit die auf die Spitze getriebene »Dialektik von Selbstverwirklichung und totaler Inanspruchnahme durch die Firma«. Eine Momentaufnahme, die zeigt, was Medi­tation in Ego-Systemen gewöhnlich bewirkt. Es ist das Dilemma von Strukturen, die ihre Energie aus Partikularinteressen gewinnen und sie gleichermaßen für solche einsetzen. Wo Menschen mit ihrer Arbeit vor allem nach ihrem persönlichen Vorteil streben und Unternehmen nach größtmöglichem Ertrag, wird Medi­tation zur Win-Win-Methode – alle haben etwas davon. Und alles andere bleibt wahrscheinlich, wie es ist. Allerdings: Selbst eigennützige Menschen werden gesünder, wenn sie meditieren. Und auch das hat einen Wert.

Den Boden bewusst bereiten

Auch die Sportmarke PUMA ist noch kein Öko-System im Sinne Otto Scharmers, doch der Personalchef in Herzogenaurach, selbst langjährig Meditierender, versucht, bei den Mitarbeitern die Bewusstheit für konstruktive Entwicklung zu fördern. Als ich für das Buch »Mit Achtsamkeit in Führung« nach Best Practices von Unternehmen in Deutschland suchte, erzählte er mir, dass er neben klassischen MBSR-Kursen (Stressbewältigung durch Achtsamkeit), die sich an die gesamte Belegschaft richten, für Manager Angebote zu Mindful Leadership und Resilienz-Management ins Leben gerufen hat. Hier kultivieren die Führungskräfte Achtsamkeit und Selbstfürsorge und lernen, ihre Rolle im Unternehmen und gegenüber den Mitarbeitern, für die sie verantwortlich sind, zu ­reflektieren. Sie meditieren gemeinsam und tauschen sich aus über die He­rausforderungen des Tagesgeschäfts. Im Kern geht es darum, mehr Wachheit, vielleicht sogar Weisheit zu kultivieren, sich persönlich weiterzuentwickeln und aus dieser weiteren Haltung konstruktivere Führungsperspektiven abzuleiten.

Als börsennotierte Aktiengesellschaft steht PUMA permanent unter der Beobachtung seiner Investoren. Und fügt sich dem damit verbundenen Druck der Märkte. Die Achtsamkeitskurse schaffen indes neue Innenräume, in denen sich die Bewusstheit für diese Komplexität vertiefen und auch ein Blick auf die Schwächen des Systems geworfen werden kann. Die Teilnehmer schätzen, wie sich im kollegialen Austausch ein besseres Verständnis für das größere Ganze des Unternehmens entwickelt und ein neues Miteinander entsteht. Das ist ein Nährboden für längerfristige Veränderungen, für künftig Mögliches.

In eine größere Vision hineinwachsen

Eileen Fisher hat das, was bei der von ihr gegründeten amerikanischen Modemarke nicht nur denkbar ist, sondern auch umgesetzt wird, über die Jahre konsequent ausgeweitet. Sie stellt im Tagesgeschäft immer wieder ganz bewusst Bezüge zwischen der inneren Entwicklung der Mitarbeiter und den Geschäftsstrategien des Unternehmens her. Meetings werden hier seit geraumer Zeit mit einer Meditation begonnen, in einem Learning Lab können die Angestellten drei Tage im Jahr ihrer persönlichen Reifung widmen.

Fishers zentrales Anliegen ist es, im Unternehmen eine tiefere emotionale Verbundenheit wachsen zu lassen, zwischen den Mitarbeitern selbst wie auch im Hinblick auf die Eingebundenheit der Firma in größere wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge. »Die Modebranche ist der zweitgrößte Umweltverschmutzer der Welt. Ich verstehe unsere Aktivitäten als Business Case für tiefe persönliche Arbeit. Wenn wir uns wirklich darum kümmern, was wir fühlen, entwickeln wir einen neuen Blick aufs Business. Wir denken vielleicht, dass wir unseren Näherinnen genug bezahlen und stellen dann fest, dass es nicht so ist. Unser Ziel ist es, bis 2020 alle unsere Produkte nachhaltig zu produzieren«, erklärte sie bei der Konferenz Wisdom 2.0.

¬ IST DER MINDFULNESS-HYPE DIE NÄCHSTE ESKALATIONSSTUFE EINES EHER PERFIDEN SPIELS – NABELSCHAU STATT INNENSCHAU? ¬

Achtsamkeit ist kein Instant-Projekt. Damit aus ihr ein neuer Geist erwächst und Menschen auch aus dieser weiteren ­Bezogenheit handeln, braucht es Raum und Perspektive. Die Bereitschaft, in Lösungen hineinzuwachsen und ein Gespür für deren kategorial andere Qualität zu entwickeln, ohne bereits um ihre konkrete Kontur zu wissen. Für Eileen Fisher war der Startpunkt für die Transformation in ihrem Unternehmen schlicht die Intuition, dass Besseres möglich sein kann. Und der Wille, diese Wahrnehmung ernst zu nehmen und ihr zu vertrauen. Das bewusste Schulen der Achtsamkeit ermöglicht es ihr und ihren Mitarbeitern, die Welt so wahrzunehmen, wie sie gerade ist. Und sie erleichtert es, den Raum, aus dem eine umfassendere Lösungsqualität aufsteigen kann, immer mehr zu weiten.

Etwas wagen

Auf einer existenziellen Ebene vollzieht sich hier das, was der Philosoph und Entwicklungspsychologe Otto Laske »bewahrende Negation« nennt. Wir sind gleichermaßen im Kontakt mit dem, was schief zu laufen scheint, wie mit dem drängenden Wunsch, es besser zu machen. Unsere freischwebende Aufmerksamkeit fixiert sich weder auf das eine noch auf das andere und nimmt auch den Zwischenraum in den Blick. Dieses Dazwischen ist der Ort, an dem Transformation möglich wird – nicht als endgültige Lösung, sondern als nächster Schritt in einem grenzenlosen Prozess, der alles, was ist, stetig einbezieht und wandelt.

Die spirituelle Perspektive von Meditation erleichtert es vielleicht, dieses Wagnis mit offenem Ausgang einzugehen. Und sie kann den Geist dafür öffnen, die Richtung zum »Besseren« zu vergegenwärtigen. In einer psychologischen Studie der Universität Stanford waren Menschen, die sich mit der spirituellen Dimension des Daseins verbanden, indem sie an Gott dachten, bevor sie die ihnen gestellten Aufgaben erfüllten, beispielsweise bereit, höhere Risiken in Kauf zu nehmen als jene, die allein aus ihrem Selbstbezug agierten, und sie verhielten sich moralischer. Etwas wahrzunehmen, das das eigene Ich übersteigt, und sich damit verbunden zu fühlen, scheint den Radius ethischer Verantwortlichkeit auszuweiten und Mut zu machen, sich dem Ungewissen auszusetzen – eine Perspektive, die sich auch durch Meditation kultivieren lässt.

Jenseits der Gemütlichkeit

Bei der Konferenz Wisdom 2.0 konnte ich erleben, wie dieser spirituelle Funke wohlgemeinte, aber begrenzte Vorstellungen über das, was gut und richtig ist, aufbricht und die kompromisslose Konfrontation mit dem Transzendenten den Raum, in dem Wandel möglich wird, wahrnehmbar macht. In den drei Konferenztagen hatte sich, genährt von den teils gehaltvollen, bisweilen aber auch oberflächlichen Beispielen, wie Achtsamkeit das Leben, das Business und die Welt besser macht, eine spirituelle Gemütlichkeit eingestellt. Die Moderatorin stellte ihren Ansagen immer theatralischere Seufzer voran, die Zuhörer lehnten sich tiefenentspannt zurück und spielten mit ihren Smartphones.

Bis die Zen-Meisterin Joan Halifax die Bühne betrat. Nach all den spielerisch-euphorischen Beiträgen setzte sie bewusst einen Kontrapunkt und erhob die Stimme spiritueller Kompromisslosigkeit: »Setzen Sie sich zu den Sterbenden, geben Sie den Obdachlosen etwas zu essen, errichten Sie ein faires Wirtschaftssystem. Lassen Sie es nicht zu, dass die digitale Welt Ihren Geist in Besitz nimmt.« Eine klare Ansage. Und die Zen-Ikone legte nach: »Zerstören Sie die Selbstgefälligkeit, engagieren Sie sich mit Mitgefühl!« Das saß. Man konnte förmlich spüren, wie mit den Anwesenden etwas geschah. Schließlich ging die Moderatorin zum Mikrofon, setzte zu ihrem üblichen Seufzer an, rang für Sekunden mit lautlosen Lippenbewegungen um Worte – und brach in Tränen aus. Etwas war aufgebrochen. In ihr. In den 2.500 Teilnehmern der Konferenz. Für einen Moment lag in der Luft, was Transformation ist. Bewusstheit im Augenblick, aus der etwas, das wir noch nicht kennen, entstehen wird. Wenn wir bereit sind, einen Schritt nach vorne zu tun.

Unternehmen, die mit Meditation experimentieren, haben unterschiedliche Werte, Motivationen und Ziele. Das ist der reale Punkt, an dem sie stehen und von dem aus sie weitergehen können. Es mag herausfordern, zu sehen, wie Achtsamkeit vielleicht dafür genutzt wird, destruktive Systeme noch effizienter zu machen. Doch auch dies ist Teil der Wirklichkeit. Einer Wirklichkeit, die in stetiger Bewegung ist und die Möglichkeit zum Besseren stets in sich trägt. Das Gefühl moralischer Überlegenheit trennt uns von dem, was ist, und lässt die Wirkungen, die wir selbst im Sinn haben, eng werden. Transformation folgt einer anderen Dialektik. Sie fragt uns nach unserer eigenen Weite und fordert uns, diese ins Spiel zu bringen – als öffnende Bewegung, die Raum schafft und inspiriert. Oder, wie Marshall Rosenberg, Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, es ausdrückt: »Die Spiritualität, die wir für sozialen Wandel entwickeln müssen, ist eine, die uns für diesen sozialen Wandel mobilisiert.« Dem Wandel wirklich zur Verfügung zu stehen, bedeutet dann, dass wir Entwicklungen, die wir als unzureichend wahrnehmen, zwar kritisieren, doch mit ihnen in Berührung bleiben, denn sie sind das Leben selbst. Und dieses eine Leben ist der einzige Ort, an dem Transformation geschehen kann. Immer wieder.

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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