Spiritualität tut gut. Davon ist nicht nur eine wachsende Zahl von Praktizierenden überzeugt, sondern zunehmend auch die Wissenschaft. Immer neue Studien versuchen, den heilsamen Nutzen von Meditation wissenschaftlich zu belegen. Wer selbst schon längere Zeit praktiziert, wird vermutlich nicht so sehr auf diese Studien fixiert sein, da er für sich den Nutzen der eigenen Praxis spürt. Für andere mögen diese Untersuchungen den Ausschlag geben, sich doch jeden Tag ein paar Minuten oder auch länger Zeit zu nehmen, um entspannter, achtsamer, bewusster oder was auch immer zu werden. Damit Spiritualität aber auch dauerhaft guttut oder, vielleicht besser formuliert, uns positiv verändert, also nicht nur ein persönliches Wohlfühlgefühl erzeugt, sondern uns wirklich transformiert, ist es ratsam, auf ein paar spirituelle Stolperfallen zu achten. Spirituelle Stolperfallen haben den kleinen Haken, dass sie im Gewande der Spiritualität erscheinen, aber nicht unbedingt der spirituellen Entwicklung dienen.
Jeder, der schon etwas Meditationspraxis hat, weiß, dass meditieren nicht immer nur ein Quell der Freude, sondern manchmal auch ein Quell der Qual sein kann. Immer wieder heißt es, den inneren Schweinehund zu überwinden. Sich aufzuraffen, auch wenn man gerade gar keine Lust hat. Spiritualität verlangt Durchhaltevermögen. Doch dieses Durchhaltevermögen kann zu einer wunderbaren Stolperfalle werden, die ich den asketischen Hochleistungswahn nenne und vor dem alle großen spirituellen Traditionen warnen. In den antiken Traditionen war diese Stolperfalle tatsächlich besonders mit Askese verbunden: noch weniger essen, noch weniger schlafen, noch mehr Übungen. Heute manifestiert sich dieser Hochleistungswahn eher in der Verbissenheit, mit der man übt. Das Ego, das man loslassen möchte, wird ganz unbemerkt zum Zentrum des Universums. Man fährt von Kurs zu Kurs, von Sesshin zu Sesshin. Man quält sich um 4.00 Uhr in der Früh aus dem Bett und ist stolz, dass man sich wieder einmal überwunden hat: ohne Fleiß keinen Preis! Und es stimmt sogar, nur kann sich hier auch eine höchst unspirituelle Energie einschleichen, die uns zu Egohochleistungsakrobaten macht, ohne dass wir es bemerken.
¬ DAS EGO, DAS MAN LOSLASSEN MÖCHTE, WIRD GANZ UNBEMERKT ZUM ZENTRUM DES UNIVERSUMS. ¬
Doch auch über das Gegenteil kann man ganz großartig stolpern: das spirituelle Alles-ist-wie-es-ist, Sei-ganz-releaxed. Vertreter dieses spirituellen Mantras bedenken gerne all jene mit einem milden und beizeiten mitleidigen Blick, die noch an sich oder der Welt etwas verändern möchten, weil ihr noch nicht erwachtes non-duales Bewusstsein in dieser Welt so viel Defizitäres erblickt. Das Alles-ist-wie-es-ist-Mantra kann wie der Hochleistungswahn eine pathologische Seite haben. Es kann darin gründen, dass man aus narzisstischen Gründen nicht bereit ist, sich mit den eigenen etwas unerfreulicheren Anteilen seiner Persönlichkeit auseinanderzusetzen oder dass man einfach zu faul dazu ist, an sich oder äußeren Umständen etwas zu verändern.
Beide Seiten, die Energie, mit der wir uns motivieren, etwas zu tun, und die innere Gelassenheit, mit der wir uns vom Daueraktivitäts- und Gestaltungsmodus verabschieden, sind zwei unverzichtbare Bestandteile des spirituellen Weges. Beide haben aber wie fast alles in der Welt eine Schattenseite, derer wir uns bewusst sein sollten. Die Schwierigkeit, mit der wir hier konfrontiert sind, liegt darin, dass die Licht- und Schattenseiten leider nicht immer so klar zu unterscheiden sind und dass wir unsere eigenen Schatten in der Regel nicht sehen. Sich von anderen Menschen, gerade denen, die dem eigenen Weg nicht folgen, immer wieder hinterfragen zu lassen, kann hilfreich sein, um den Stolperfallen zu entgehen.