Tanz mit dem Leben

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Porträt
Published On:

July 14, 2015

Featuring:
Joe Gifford
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Issue:
Ausgabe 07 / 2015
|
July 2015
Die Zukunft in uns
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Jugend hat nichts mit Alter zu tun

Joseph Gifford ist noch mit 95 Jahren voller Energie und Inspiration. Ein Porträt des Tänzers, Körpertherapeuten und spirituellen Mentors, in dessen Leben sich fast ein Jahrhundert spiegelt.

Zum ersten Mal traf ich Joe Gifford bei einem Retreat und war sofort beeindruckt von seiner Lebendigkeit, seiner Neugier und seiner Herzenstiefe. Damals war er gerade 90 geworden. Ich dachte mir, wenn es irgendwo ein Beispiel dafür gibt, dass das Alter kein Hindernis ist für eine beständige Faszination am Wunder des Lebens – dann ist Joe ein Volltreffer. Joe lebt ein erstaunliches Leben, als Tänzer, als weit gereister Lehrer für Schauspieler und Dirigenten und als zutiefst spiritueller Mensch.

Der erste große Wendepunkt in Joes Leben war das Jahr 1940. Er studierte an der Universität von Michigan und ein Freund nahm ihn mit zu seinem ersten Tanzkurs. Da war es um ihn geschehen: »Ich habe das Tanzen von Anfang an geliebt, und ich wusste, dass ich dem mein Leben widmen wollte. Sogleich habe ich angefangen, mir Choreografien auszudenken, um das kreative Leben im Tanz zu erforschen.«

Während dieser Zeit traf er viele Wegbereiter einer Bewegung, die nach einem neuen Ausdruck durch den Körper suchte: Modern Dance. Er lernte Martha Graham und andere legendäre Pioniere des Tanzes kennen, aber als er Doris Humphrey traf, wusste er, dass er bei ihr lernen wollte. »Als ich zum ersten Mal eine Aufführung von Doris Humphrey sah, dachte ich, das übertrifft wirklich alles, was ich jemals gesehen habe. Eine sensible, ausdrucksstarke Lyrik bewegte sich durch ihren Körper. Sie gab sich vollkommen hin in das, was sie tat, in den Tanz, in die Bewegung, die in diesem Moment angemessen war. Sie wurde jedoch nicht nur als Tänzerin für mich zu einer großen Heldin. Ich beobachtete, wie sie kreativ arbeitete, wie sie ihre Choreografien schuf. Mit ihr zusammen zu sein, war ein Beispiel dafür, was das Leben durch den Tanz sein kann. Sie hatte ein sehr starkes soziales Bewusstsein und sie vertiefte es durch ihr Tanzen. Es war kein politischer Tanz, aber er kam aus ihrem Herzen, aus ihrer Liebe zu den Menschen und aus der Liebe zum Tanz – sie hat beides zusammengebracht.«

Nach fünf Jahren im Tanzensemble von Doris Humphrey und Charles ­Weidman bildete er seine eigene Tanzgruppe, das Joseph Gifford Dance Theater, das jedes Jahr in New York eine Aufführung darbot und damit durch die USA tourte. In New York assistierte er Doris Humphrey beim Unterrichten, er trat in verschiedenen Musicals am Broadway auf und unterrichtete viele Jahre im New Dance Group Studio, einer Schule, die für die Ausbildung und Förderung großer Tänzerinnen und Tänzer des Modern Dance bahnbrechendes leistete.

Während seiner Zeit in New York bat ihn 1960 die School of Theatre Arts in Boston, ein Ausbildungsprogramm und ein Curriculum für angehende Schauspieler zu entwickeln. Bald zog er ganz nach Boston. Das war der Beginn einer 25-jährigen Lehrtätigkeit an der Schauspielschule. Während seiner Zeit in Boston tourte er durch die USA, Europa, Japan und Sri Lanka und hielt seine Meisterkurse und Seminare zur darstellenden Kunst. Auf der Grundlage seiner Erfahrung als Tänzer lehrte er die Schauspieler, eine tiefere Beziehung zu ihrem Körper zu finden. Joe betrachtet den Körper als Medium, durch das eine universale Lebenskraft Ausdruck findet: »Der Körper ist dein Instrument, ob du sprichst, ob du singst, Klavier spielst oder dirigierst – er ist dein Instrument. Und immer geht es darum, sich offen zu halten; du bist das Gefäß, durch das alles hindurchfließen kann. Durch dich bewegt sich der universale transzendente Puls von Energie – dieser Impuls, der nicht stirbt und durch dich immer weiter strömt, immer weiter, bis in alle Ewigkeit.«

¬ DER KÖRPER IST DEIN INSTRUMENT, UND IMMER GEHT ES DARUM, SICH OFFEN ZU HALTEN. ¬

In den darauf folgenden Jahren begann Joe, auch in Tanglewood, dem berühmten Musikzentrum im Westen von Massachusetts, Sänger und Schauspieler zu unterrichten. Diese Arbeit führte er weiter, bis er im Jahre 1985 mit 65 Jahren in den Ruhestand ging. Ruhestand trifft es allerdings nicht ganz, denn Joe begann eine neue Karriere: Er unterrichtet bis heute Dirigenten, inspiriert durch seine Erfahrung als Tänzer, Lehrer – und spiritueller Sucher.

Sein spirituelles Leben nahm 1973 seinen Anfang, als er auf die Transzendentale Meditation stieß. Heute spricht er von seiner »zweiten Geburt«: »Ein Freund fragte mich: Was passiert mit dir? Du veränderst dich. Und ich erklärte ihm, dass ich diese Meditationstechnik lerne, die etwas Neues, Bedeutendes in meinem Leben bewirkt.« Der zweite spirituelle Einfluss war Reiki, wodurch er die Möglichkeit entdeckte, die subtilen universalen Energien in sich selbst und anderen zu verstärken. Joe lernte bei Dr. Barbara Ray, die ihre eigene Ausdrucksform des Reiki schuf, die »Radiance Technique«. »An dieser Technik zog mich an, dass man durch Übung die Schwingungsstufe erhöhen kann, man bewegt sich durch das Grobe hindurch in einen lichtvolleren Zustand, eine Erfahrung inneren und äußeren Lichts.« Die dritte spirituelle Tür öffnete sich für ihn, als er den spirituellen Lehrer Andrew Cohen kennenlernte. Über dieses Kennenlernen sagt er: »Es hat mir die Möglichkeit eines Lebens ohne Grenzen eröffnet, eines Lebens, das das Persönliche transzendiert und eine Vision der Einheit und der Zeitlosigkeit eröffnet.«

Joe Gifford

Joe nennt sein Leben eine »beachtliche Abfolge von Wegen«. Vor einigen Jahren erlebte er eine der schwierigsten Stationen dieser Reise, als 2010 sein Partner und bester Freund starb. Joe lernte ­Talbot Waterman 1946 kennen. Er wurde sein Lebensgefährte in einer Zeit, in der es schwierig war, offen eine schwule Beziehung zu leben, doch sie blieben beieinander und ihre Liebe und Freundschaft wurde immer tiefer. Joe sagt: »Ich werde oft gefragt, wie man 64 Jahre zusammen sein kann. Ich denke, etwas sehr Wichtiges, das man über unsere Beziehung sagen kann, ist, dass wir ein derart großes Vertrauen zueinander hatten, ein vollkommenes Vertrauen. Es war eine große Liebe, eine tiefe Anteilnahme, und im Laufe der Jahre eine immer weiter wachsende Anerkennung der Tatsache, dass es unsere Bestimmung war.«

Bis heute gibt Joe die Erfahrungen seines ereignisreichen Lebens an seine Schüler weiter – Schauspieler, Musiker und Dirigenten. In einem Essay für ein demnächst erscheinendes Buch sagt er über seine Arbeit: »Zwischen den Noten, den Takten, zwischen den unterschiedlichen Teilen der Musik liegt eine subtile innere und äußere Lebenskraft, ein pulsierendes, endloses Kontinuum transzendierender Energie. Ja, innerliche wie äußerliche Lebenskraft, die aus deinem Inneren strömt und durch dich zirkuliert. Wenn man diese Nahtlosigkeit beim Musizieren erreicht, wird man herausfinden, dass ein Gefühl von Unvermeidlichkeit in der Art liegt, wie die Musik ins Leben gebracht wird. Kein Wenn und Aber. Man kommt an einen Ort, wo man weiß: So soll es sein. Und, Wunder über Wunder, der Verstand, der ewig präsente, sich immer einmischende Verstand hält sich raus. Er spielt jetzt eine geringere Rolle beim Dirigieren. Etwas Größeres, Bedeutenderes taucht auf, das den Verstand transzendiert. Die Schau des Universalen, des Transzendenten taucht auf, bewegt sich durch dich, inspiriert durch die Universalität der Musik.«

Wenige Tage bevor ich diesen Artikel schrieb, sah ich ein Video von Joe auf Facebook, wie er seinen 95. Geburtstag feiert, energiegeladen und inspiriert wie immer. Er sprach im Stillen einen Geburtstagswunsch, bevor er die Kerzen ausblies. Ich vermute, dass er an das Neue dachte, das er im Leben noch entdecken kann. Zu Beginn des Dokumentarfilms »The Legacy of Joseph Gifford« von Jill Uchiyama sagt er: »Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, ist es eine große Freude zu sehen, wie ein Mensch einen anderen an einen höheren, einen weiteren Ort führen kann, zu einem Bewusstsein dessen, was möglich ist jenseits der Stufe, auf der dieser Mensch bisher lebt. Ich habe nie das Gefühl, da angekommen zu sein, wo ich wirklich sagen könnte: Ich weiß alles.«

Author:
Mike Kauschke
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