Transformative Geschichten
Die Filmserie »Shifting Landscapes«
January 30, 2020
Warum führt unser Wissen über die Klimaveränderungen zu keinem entschlossenen Handeln? Der Psychologe Stefan Ruf sieht für dieses Versagen neben den politischen und ökonomischen Gründen auch psychologische Gründe. In seinem Buch »Klimapsychologie« beschreibt er die globale ökologische Herausforderung auch als einen Anstoss für eine Bewusstseinsevolution. Wir sprachen mit Stefan Ruf über unsere globale Beziehungskrise.
evolve: Die Klimakrise ist offensichtlich und sie betrifft uns alle. Aber wir scheinen überhaupt nicht in der Lage zu sein, auf diese umfassende Krise angemessen zu reagieren. Sehen wir nicht, was geschieht?
Stefan Ruf: Aus meiner Sicht hat dieses Unvermögen damit zu tun, dass wir die Klimakrise zwar rational immer klarer sehen und verstehen, aber wir können sie nicht wirklich fühlen. Damit einher geht auch eine sehr verzerrte Wahrnehmung davon, wo unsere eigenen Grenzen sind und womit wir als Menschen verbunden sind. Wir können uns denken, dass viele unserer Handlungsweisen destruktiv sind, aber wir spüren es nicht. Und wir Menschen müssen fühlen, dass wir über Grenzen gehen, wenn wir etwas verändern sollen. Dazu ist es aber notwendig, unser Raumbewusstsein, unsere innere und äußere Wahrnehmung der Welt, zu verändern. Das wäre ein Bewusstseinswandel!
e: Was meinst du damit, dass wir die Krise nur unzureichend fühlen? Viele von uns fühlen sich existenziell bedroht. Wir wissen, da passiert etwas, das uns auch persönlich stark betreffen wird. Oder meinst du etwas anderes, wenn du davon sprichst, dass es wichtig ist, die Klimakrise zu fühlen?
SR: Ja, viele Menschen sind, wenn sie dieses Geschehen an sich heranlassen, sehr verzweifelt – ich inbegriffen. Wir sehen uns mit einem globalen und überwältigenden Geschehen konfrontiert und erleben uns als klein und hilflos. Dieses Fühlen ist oft kaum zu ertragen und doch ist es so wichtig, es zuzulassen und tragen zu können. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt des Fühlens: Können wir unsere Verbundenheit mit allem Menschlichen und Nicht-Menschlichen auf unserem Planeten und damit mit Gaia, der lebendigen Erde, wirklich wahrnehmen, wirklich fühlen?
e: Wie sollen wir diese großen Zusammenhänge denn fühlen? Wenn wir von der Klimakrise reden, sprechen wir über gewaltige systemische Zusammenhänge. Das sind wissenschaftliche Analysen und Denkmodelle, in denen wir uns diese Erkenntnisse erarbeitet haben. Wir sehen, dass unsere menschlichen, gesellschaftlichen Aktivitäten zu bestimmten Konsequenzen führen, aber das sind alles Modelle. Selbst unser Bild von Gaia ist letztendlich ein abstraktes Modell. Niemand von uns hat Gaia je gesehen. Insofern ist es für mich verständlich, wenn man sagt, dass wir diese Zusammenhänge rational verstehen müssen. »Sie fühlen zu wollen«, ist eigentlich eine eigenartige Erwartungshaltung.
SR: Dem würde ich gar nicht widersprechen. Man kann in seinem individuellen, persönlichen Umkreis mit einem Wesen in Wahrnehmung und in Beziehung gehen, sei es ein Mitmensch oder ein nicht-menschliches Mitgeschöpf, ein Hund, eine Katze, eine Pflanze. Und aus der Wahrnehmung heraus können wir in ein denkendes Fühlen gehen. Wenn es aber um diese globalen Zusammenhänge geht, ist man erst einmal überfordert.
Um das zu vermeiden, ist ein denkerischer Ansatz und gerade auch ein systemtheoretischer Ansatz der erste Schritt. Die Klimakrise zwingt uns aber auch, in ein globales Fühlen zu kommen, denn sonst werden wir nicht handlungsfähig. Sie kann uns aber auch helfen, genau da hinzukommen. Wie?
Je länger ich mich damit auseinandersetze, desto mehr erscheint mir, dass dort, wo die Klimakrise sich abspielt, nämlich in unserer Atmosphäre, auch ein Lösungsansatz zur Verwandlung der Krise liegen könnte. Diese Verwandlung kann aber nur stattfinden, wenn sich unser Bewusstsein wandelt. Dazu ist es notwendig, zunächst denkerisch auf diese atmosphärischen Vorgänge zu schauen. Es braucht also Systemtheorie, Chaostheorie, Klimatheorie. Wenn man beginnt, mit diesen Methoden auf das atmosphärische Geschehen zu schauen, kann man Atmosphäre und auch das Globale anders denken – und anders wahrnehmen, anders erfühlen.
Der Begriff Atmosphäre ist eigentlich ein sehr unscharfer Begriff. Denn was ist damit eigentlich gemeint? Der Raum, der die Erde umgibt? Oder ist es ein Lebensraum, in dem wir alle leben? Naturwissenschaftlich gesprochen ist die Atmosphäre beides: Wir leben nicht in einer Atmosphäre, wir bilden gemeinsam Atmosphäre. Egal, ob wir ein Wasserstoffatom sind, das Great Barrier Reef, ein Regenwald, eine Milchkuh, du oder ich – wir alle sind gemeinsame Bildner einer Atmosphäre, des untersten Teils der Erdatmosphäre, der Troposphäre oder Biosphäre. Dieser unterste Teil endet dort, wo sich das CO2 im Moment in einem unnatürlichen Maße konzentriert – es ist in den letzten 100 Jahren von 0,028 % auf jetzt über 0,04 % angestiegen. Dort kommt es zu einer leichtgradigen Verdichtung, die an sich minimal ist, aber eben doch so wirksam, dass die Sonnenstrahlen zwar eindringen können, aber die Wärmestrahlung nicht mehr so gut herausdringen kann. Es ist ein Verdichtungsprozess im obersten Teil der unteren Atmosphäre, der als Tropopause bezeichnet wird. Dieses Phänomen löst die Erwärmung aus.
e: Du sagst, wir haben keine Atmosphäre, wir bilden gemeinsam eine Atmosphäre. Warum ist es wichtig, dass wir Atmosphäre auf diese Weise wahrnehmen?
SR: Aus meiner Sicht komme ich nur dann in ein erlebendes oder erfühlendes Erkennen unserer globalen Verbundenheit, wenn ich den Gedanken immer tiefer an mich heranlasse, dass ich auch Mitbildner dieses Geschehens bin. Durch alles, was ich im Kleinen tue, gestalte ich an einem globalen Geschehen mit, das in einem sphärischen Raum stattfindet, der wiederum umhüllt ist und insofern auch etwas Schützendes, Einbettendes, Bergendes vermittelt.
Wir Menschen müssen fühlen, dass wir über Grenzen gehen, wenn wir etwas verändern sollen.
Bevor ich mich nicht näher mit dieser Frage auseinandersetzte, hatte ich kein bewusstes Erleben davon, dass wir mit einer feinen Membran umhüllt und geschützt sind. Natürlich wusste ich, dass die Atmosphäre eine Verdichtung und eine Schutzhülle der Erde bildet. Aber im bewussten Erleben war es eher so, dass wir auf einem Globus leben und über uns ist der Kosmos – am Tag der blaue Himmel, der in den Kosmos hineinführt, oder bei Nacht der gigantische Sternenhimmel. Im Erleben ist da keine Grenze, die uns schützt oder verbindet, sondern wir leben isoliert und eigenständig auf dieser Kugel und sind insofern sehr frei, aber auch sehr unbehaust, isoliert und einsam. Aber das ist eine Illusion, weil wir zusammen eine Atmosphäre bilden. Das können wir aber nur, weil es am Ende der Troposphäre eine unsichtbare Grenze gibt, die zwischen 10 km über den Polen und bis zu 16 km über den tropischen, äquatorialen Bereichen liegt. Das ist die Grenzregion, wo die Troposphäre in die Stratosphäre übergeht. Wir sehen diese Grenze nicht, und doch ist sie da. Sie umgibt uns als Hülle und macht erst möglich, dass wir zusammen Atmosphäre bilden.
e: Ist die Wahrnehmung dieser Hülle deswegen so wichtig, weil wir so auch wahrnehmen können, dass wir in etwas gemeinsam sind, dass wir gemeinsam an etwas teilhaben? In Wirklichkeit sind wir eingebunden, wir sind in etwas eingehüllt. Damit sprichst du unsere Beziehungsfähigkeit an. Wenn wir nur eine systemische Vorstellung der Erdatmosphäre haben, dann ist das ein abstraktes Wissen. Dieses neue Bewusstsein, das du hier andeutest, hat doch auch damit zu tun, dass wir mit diesem Ganzen, mit dieser Hülle, mit dieser Sphäre, die unseren Globus ausmacht, in einer lebendigen Beziehung sind.
SR: Indem wir verstehen, dass wir alle global miteinander einen großen Beziehungsraum bilden, beginnen wir, uns als Individuum in Verbundenheit wahrzunehmen. Dies ist ein integraler Bewusstseinswandel: Wir gehen nicht in ein großes kollektives Wir-Bewusstsein auf, sondern wir bewahren unsere Individuation, die im Sozialen und in anderen Bereichen zu großen Segnungen geführt hat. Aber wir gehen jetzt den nächsten Schritt in eine atmosphärische, globale Wahrnehmung der Verbundenheit.
Wir haben das indigene Verständnis und Erleben der Verbundenheit verloren – mindestens in den letzten 500 Jahren seit der Renaissance. Der Paradigmenwechsel der Renaissance hat uns zu einem Erlebensmuster geführt, in dem wir uns in vielen Bereichen als getrennt und eigenständig erleben, obwohl wir es eigentlich nicht sind. Diese Entwicklung hat zu einem Erlebensschema geführt, das ich als »Schema der Moderne« bezeichne. Darin werden Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen aktiviert, in denen wir uns auf eine illusionäre Weise als abgekapselt und isoliert erleben. Das war einerseits ein positiver Prozess, aber er hat auch etwas Defizitäres. Die Trennung, die dadurch entstanden ist, kann man in sich wacher verstehen, wenn man sich als ersten Schritt der Entwicklung eines globalen, fühlenden Bewusstseins – das ich atmosphärisches Bewusstsein nennen will – auf seinen kleinen, individuellen Bereich der Atmosphäre einlässt.
So wie im Großen die Erde eine feine Membran, eine feine Hülle bildet, die man mit dem Auge nicht wahrnehmen kann, so bilden wir auch eine Hülle in unserem individuellen Raum – ich nenne das die Mikrosphäre. Dieser individuelle Raum ist größer als unser physischer Leib. Jeder von uns kennt wahrscheinlich das Gefühl, dass mein Raum nicht da endet, wo meine Haut endet. Diese Mikrosphäre können wir mit einem achtsamen Bewusstsein noch wacher wahrnehmen. Wir können ebenso wacher wahrnehmen, welche Gedanken und Gefühle uns oft in unserer Beziehungsfähigkeit blockieren. Das ist ein erster Schritt, um global zu einem fühlenderen Bewusstsein zu kommen. Dabei können wir auch wahrnehmen, wie viele Widerstände wir dagegen in uns tragen, ökologischer und weniger konsumorientiert zu leben. Jeder von uns hat eine Menge Vermeidungs- und Projektionsstrategien, weil es schmerzt, auf Dinge zu verzichten, das eigene Verhalten genau anzuschauen und sich angesichts dieses gigantischen Geschehens als hilflos und klein zu erleben.
e: Um dich besser zu verstehen, möchte ich gerne ein Beispiel einbringen, das vielleicht das, was du ansprichst, berührt. Viele von uns kennen die Erfahrung, wenn wir in einen Wald gehen, dass wir oft nach einer gewissen Zeit im Wald beginnen, diesen Wald anders wahrzunehmen. Anfangs besitzt der Wald vielleicht eine gewisse unzugängliche Fremdheit. Sobald man sich auf ihn einlässt, entsteht eine ganz eigene Beziehung, als würde der Wald in einem selbst lebendig werden.
SR: Was du beschreibst, ist aus meiner Sicht die zweite Stufe der Bewusstseinsbildung. Die erste Stufe, das mikrosphärischen Bewusstsein, hat damit zu tun, die Beziehungsaufnahme zu mir selbst, meinem Innenraum zuzulassen, der aber doch weiter geht als meine Körpergrenzen. Wenn ich dann in eine Beziehung, in eine Begegnung mit anderen gehe, vielleicht auch mit den Bäumen des Waldes oder der Waldwesenheit, dann entsteht etwas, was Hartmut Rosa als »Resonanz« beschrieben hat. Es entsteht, wenn ich mich ausreichend öffne, ein vibrierendes, vitales Beziehungsgeschehen zwischen mir und dem anderen. Diese Beziehung entsteht, wenn ich in mir irgendetwas in Resonanz bringe, was dann das Äußere empfangen kann. Das ist von Eichendorff in der Romantik schon beschrieben worden: »Schläft ein Lied in allen Dingen/die da träumen fort und fort,/und die Welt hebt an zu singen,/ triffst du nur das Zauberwort.«
Wenn ich in mir das richtige Wort, den richtigen Begriff – und im Goethischen Sinne würde man sagen das richtige Organ – finde, dann ist da ein Zauber in meiner lokalen Beziehungsumwelt spürbar. Ich merke plötzlich, ich bin in einer Beziehung, ich bin eingebettet, ich bin nicht isoliert. Jeder von uns kennt solche Erlebnisse im Lokalen. Und das gilt es auf das Globale auszudehnen. Das ist ein Schritt, es muss so etwas wie ein Bewusstseins-Tor durchschritten werden, um von der lokalen Ebene, die ich die mesosphärische Ebene nenne, ins Globale zu gehen.
Wie kann ich meine erlebenden Antennen für das Globale ausbilden? Das ist die entscheidende Frage, die von möglichst vielen Menschen bewegt werden müsste. Das ist eine Forschungsarbeit, an der möglichst viele Menschen, die auch einen transpersonalen und spirituellen Ansatz haben, denkend und erlebend mitwirken müssten: Wie können wir Erkenntnisorgane in uns ausbilden, die das Beziehungserleben, das lokal, also mesophärisch, möglich ist, auch ins Makrosphärische erweitern?
e: Die Resonanzfähigkeit, von der Hartmut Rosa spricht, hört also nicht bei mir oder meiner unmittelbaren Umgebung auf, sondern ist auf das Ganze der Erde ausdehnbar.
SR: Ja, aber in der Entwicklung dieser Empfindungsfähigkeit brauchen wir auch eine innere Halte- oder Tragekraft. Wir haben im nicht-menschlichen Bereich und auch im sozialen Bereich so viel Leid kreiert. Da wirklich hinzuschauen und hinzuspüren, ist nur möglich, wenn wir in unserem Innenraum, in unserer individuellen Mikrosphäre, ausreichend daran arbeiten, Trage- oder Haltekraft dafür zu entwickeln. Denn dieses Leid ist nicht leicht zu »ertragen«. Das ist auch ein Grund, warum so viele Menschen wegschauen. Wir alle leiden, die ganze Gesellschaft leidet. Aber wir schieben es weg, weil wir das Leid nicht ertragen können. Und das Leid wird noch größer, wenn man in ein Erspüren von globalen Zusammenhängen kommt. Das heißt, einerseits brauchen wir noch mehr Kraft, um das ertragen und halten zu können. Andererseits – und das ist das, was ich aus meinem persönlichen Prozess und den Prozessen von vielen anderen sagen kann: Je mehr man sich darauf einlässt, desto mehr innere Kraft widerfährt einem auch. So, wie es Hölderlin formulierte: Das Rettende wächst auch.
e: Um für die sich abzeichnende Klimakatastrophe Antworten zu finden, müssen wir also erst lernen, zu ertragen, dass sie bereits unterwegs ist und auch, dass wir mit dafür verantwortlich sind. Sich darauf seelisch einzulassen, verlangt viel – von jedem von uns. Wenn wir das aber nicht tun, ist es nicht möglich, in Beziehung zu sein.
SR: Joanna Macy, die Pionierin der Ökopsychologie, war schon in den 1980er-Jahren eine der ganz wenigen, die dieses Thema von der psychologischen Seite betrachtet hat – sie nannte es »Verzweiflungsarbeit«. Es ist immer wieder eine Verzweiflungsarbeit notwendig, um überhaupt in diese Beziehung zu kommen. Jeder muss bei sich anfangen, sonst kommt man aus meiner Sicht schwer in ein globales Fühlen und Empfinden. Aber man darf auch nicht bei sich stehenbleiben. Das ist wiederum die andere Gefahr, wenn man die ökologische oder atmosphärische Frage nicht mitdenkt. Dann kann man sich zu einem spirituellen oder integralen Menschen entwickeln, der in seiner Mikrosphäre weit ist und in seiner lokalen Mesosphäre auch sensibel ist, aber den nächsten Schritt nicht macht. Dabei kann von zwei Seiten eine Problematik entstehen: Man fängt gleich beim Globalen an und kommt zu wenig in ein inneres Fühlen und damit auch nicht wirklich zu einem Verwandeln des eigenen Bewusstseins. Oder man fängt im Individuellen an und kommt vielleicht nur maximal bis zum Lokalen. Ein integraler Bewusstseinswandel würde bedeuten, diese beiden Ebenen in eine Durchdringung zu bringen, die sowohl unsere Selbstwahrnehmung erweitert und unsere Verbundenheit erlebbar macht, als auch zu einem individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Handeln führt, das aus dieser Verbundenheit entspringt. Eigentlich ist das unsere einzige Chance, dieser Herausforderung gerecht zu werden – und sie als einen Anstoß zur Erweiterung unseres Bewusstseins zu nutzen.