Unsere Verbindung mit dem Wunderbaren

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

January 31, 2019

Featuring:
Dalai Lama
Thomas Kuhn
James Fowler
William James
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Ausgabe 21 / 2019:
|
January 2019
Die Zukunft der Religion
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Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Religiosität

Es ist eines der Verdienste der integral-evolutionären Bewegung, Religiosität und aufgeklärtes Denken neu zu verbinden. Wir haben für diese Ausgabe von evolve zwei ihrer herausragenden Vertreter zu einem Dialog über Religion gebeten: Ken Wilber – der integrale Philosoph –, hat mit seinem Denken neue Grundlagen für ein umfassendes Verständnis von Religion und Spiritualität geschaffen, zuletzt auch in seinem Buch »The Religion of Tomorrow«. Der Benediktinermönch Bruder David Steindl-Rast verkörpert für viele weltweit die mystische Tiefe seiner Tradition auf eine Weise, die sie für uns heutige Menschen neu zugänglich macht. Wir sprachen mit beiden über die Rolle der Religion in einer säkularen Zeit, über die Bedeutung der spirituellen Erfahrung und über die Möglichkeit einer für uns alle zugänglichen Religiosität.

evolve: Was ist eurer Ansicht nach die Rolle der Religionen in unserer postmodernen säkularen Gesellschaft?

David Steindl-Rast: Zunächst müssen wir differenzieren, dass es zwei Möglichkeiten gibt, sich dem Wort Religion anzunähern. Wenn wir von Religion sprechen, meinen wir gewöhnlich eine von vielen Religionen, also ein historisches und kulturelles Phänomen. Aber wir sagen manchmal auch, dass jemand religiös ist. Das bezieht sich auf unsere grundsätzliche Religiosität, die wir heute meist als Spiritualität bezeichnen. Ich denke, es ist gut, im Bewusstsein zu behalten, dass man es auch als Religiosität bezeichnet kann, weil es auf den Nährboden jeder Religion hinweist. Denn die Religionen entspringen aus der allen Menschen gemeinsamen Religiosität. Das Wort Religion kommt von der Wurzel »religare«, was so viel bedeutet wie »wieder verbinden« – die zerbrochenen Verbindungen zwischen uns und unserem wahren Selbst, zwischen uns und allen anderen Lebewesen und zwischen uns und dem großen Mysterium, das die, welche das Wort benutzen wollen, Gott nennen. Das Wiederherstellen und Heilen dieser zerbrochenen Verbindungen kommt aus unserer Religiosität und ist – idealerweise – die Aufgabe jeder Religion, sie durch Lehre, Moral und Ritual zu verwirklichen.

Nun können wir fragen, auf welche Weise die verschiedenen Religionen aus der uns allen gemeinsamen Religiosität entspringen. Ganz kurz gefasst: Zu verschiedenen Zeiten der Geschichte und inspiriert durch besonders religiöse Menschen – die Religionsstifter – bringt eine Gemeinschaft Religiosität zu einem für ihre Kultur stimmigen Ausdruck. Daraus kann eine Tradition entstehen, die in der Geschichte fortbesteht. Religiosität ist also der Mutterschoß, aus dem die Religionen geboren werden.

Ken Wilber: Triffst du hier die Unterscheidung, die manchmal als »Ich bin spirituell, aber nicht religiös« bezeichnet wird? Ich denke, beide Formen der Religiosität müssen zusammen betrachtet werden, weil der religiöse Impuls auch in der institutionellen Religion zum Ausdruck kommt.

DSR: Übersetzt in meine Terminologie würde diese Unterscheidung so heißen: »Ich bin religiös, aber ich gehöre keiner bestimmten Religion an.«

KW: Richtig. Und hier sehen wir vielleicht zwei verschiedene Aspekte des spirituellen Bewusstseins, die sich historisch auf verschiedene Art entwickeln und die sich nicht immer gut vereinbaren ließen. Wir Menschen können scheinbar zwei verschiedene Beziehungen mit dem haben, was wir als göttlich oder spirituell bezeichnen könnten …

DSR: … zum großen Geheimnis.

Erfahrung und Institution

KW: Ja. Die Religionen gehen davon aus, dass es einen ewigen, absoluten und letztendlich unbeschreibbaren Urgrund des Seins gibt. Wir Menschen scheinen eine innewohnende Fähigkeit zu haben, unsere Einheit mit diesem Urgrund des Seins zu erkennen. Und darauf fokussieren sich die mystischen Traditionen in Ost und West. Die Entdeckung unserer tiefsten Identität mit diesem absoluten Seinsgrund wird als Erleuchtung, als Erwachen, Metamorphose, Moksha, Fana oder große Befreiung bezeichnet. Das ist ein Anzeichen dafür, dass sich eine tiefe Durchdringung des Menschen mit diesem letztendlichen Urgrund des Seins ereignet hat.

Das sind die lebensverändernden Erfahrungen, die viele Heilige und Mystiker machten und viele Religionsgründer erlebten eine oder mehrere solcher Offenbarungen. Insbesondere scheint es die Erfahrung zu sein, die sie weitergeben wollten. Und in dem Ausmaß, in dem ihre Nachfolger diese Erfahrungen machten, konnten sie ihre Einheit mit dem Urgrund des Seins erkennen und dadurch zu ihrer wahren Natur erwachen.

DSR: Das ist die mystische Dimension und die andere ist der Bereich der institutionalen Religion, nicht wahr?

KW: Ja, wir machen eine spirituelle Erfahrung, wenn wir in diese tiefe, formlose Stufe der Versenkung gelangen und spüren, dass wir eins sind mit dem unendlichen formlosen Urgrund des Seins. Ohne jeden Gedanken ist unser Geist völlig still und wir sind tief versunken in diese universelle Präsenz von Liebe und Glückseligkeit. Früher oder später werden wir aber aus dieser gedankenfreien, formlosen Erfahrung herauskommen und darüber nachdenken, was wir eigentlich erfahren haben. Wir müssen dieser Erfahrung eine Bedeutung geben. Wenn ich einem religiösen Glauben angehöre, werde ich sagen: »Oh, das war eine Erfahrung des Christusbewusstseins oder der Buddha-Natur oder des Brahman.«

DIE GRUNDLEGENDE RELIGIOSITÄT IST DER NÄHRBODEN, AUS DEM DIE RELIGIONEN ERWACHSEN.

e: Danke, Ken, wenn ich dich richtig verstehe, beschreibst du die verschiedenen Interpretationen, mit denen man diese tiefen spirituellen Erfahrungen des Christusbewusstseins oder des Buddha-Bewusstseins beschreiben kann. Diese Art der Erklärung und Sinngebung war die traditionelle Rolle der Religionen. Bruder David, du lebst in einer der großen religiösen Traditionen und bist mit deinem mystischen Weg ein Ausdruck des religiösen Impulses. Darf ich dich fragen: Welches ist die traditionelle Rolle der Religionen, um diesen religiösen Impuls zu bewahren?

DSR: Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Ken eine hoch entwickelte mystische Form von Religiosität beschrieben. Ich verstehe Religosität nicht notwendigerweise so hoch entwickelt, wie Ken sie beschrieben hat. Ich sehe sie eher als ein Talent, ein Geschenk, eine Fähigkeit, die in jedem Menschen angelegt ist. Nicht jeder entwickelt diese Begabung aber zu solcher Höhe. Man könnte sagen, dass Religiosität eine uns angeborene Fähigkeit ist, die der Fähigkeit zu sprechen ähnelt. Alle Menschen sind mit der Sprachfähigkeit geboren, aber um zu reden, müssen wir eine bestimmte Sprache sprechen. Ebenso ist allen Menschen Religiosität angeboren, die ihren Ausdruck aber in einer bestimmten Religion finden muss – einer traditionellen oder einer privat entwickelten.

KW: Ich denke, diese Unterscheidung zwischen Religiosität und Religion oder Spiritualität ist wichtig, wenn wir überlegen, wie sich Religion weiterentwickeln kann, insbesondere in unserer säkularen Welt. In der Tat ist Spiritualität oder Religiosität ein Impuls, den alle Menschen besitzen. In der Vergangenheit wandten sich die meisten Menschen den religiösen Institutionen zu, die als Vermittler für den Ausdruck ihrer Religiosität dienten. Wir können zumindest theoretisch unterscheiden zwischen diesem religiösen Impuls, den jeder Mensch besitzt, und der Art, wie er ihn zum Ausdruck bringt.

Auch wenn der Urgrund des Seins immer präsent und von Moment zu Moment unveränderlich ist, gibt es über die verschiedenen religiösen Institutionen und Zeiten hinweg viele Variationen im Ausdruck, in der Sprache und den Praktiken, die wir verwenden, um mit diesem Urgrund in Berührung kommen. Bis vor hundert Jahren war es üblich, die religiösen Interpretationen dieser Religiosität als adäquat zu akzeptieren. Jedoch mit dem sogenannten »Tod Gottes« und dem Aufstieg der Aufklärung und des säkularen Humanismus entstand eine Situation, in der Religiosität zwar noch da ist, aber wir noch nicht verstehen, wie sie in den säkularen, humanistischen Formen ausgedrückt werden kann, die heute unsere Kultur bestimmen.

DSR: Leider finden viele Leute heute, dass ihre Religiosität in den ihnen vertrauten Formen der Religion nicht mehr ausgedrückt wird, können aber keine neuen Formen schaffen. Sie wissen mit der Lehre, der Moral und den Riten ihrer eigenen institutionellen Religion nichts mehr anzufangen. Jede religiöse Institution ist ursprünglich gegründet worden, um die uns innewohnende Religiosität bis zum höchsten Grad zu entwickeln. Aber wir sehen ja auch in anderen Bereichen, dass jede Institution dazu neigt, in kürzester Zeit ihren ursprünglichen Zweck zu vergessen und stattdessen an der eigenen Aufrechterhaltung interessiert zu sein. Und hier liegt einer der Gründe dafür, dass viele spirituelle Menschen institutionelle Religionen überhaupt ablehnen – es sei denn, sie hatten das Glück in einer Religion aufzuwachsen, die ihnen half, ihre innewohnende Relgiosität zu bewahren, zu entwickeln und zum Ausdruck zu bringen.

Aufwachen und Aufwachsen

e: Wie du erwähnt hast, Ken, leben wir heute, speziell in Europa, in einer Zeit, die wir als pluralistischen Säkularismus bezeichnen könnten. Es gibt zwei Fundamente: Unsere Gesellschaft ist säkular, d. h. das wissenschaftliche Paradigma bestimmt die Rahmenbedingungen, nicht der religiöse Glaube. Und unsere Gesellschaft ist pluralistisch und offen – ohne eine dogmatische Grundlage der Religion. Hier stellt sich die Frage, wie der religiöse Impuls einen neuen Ausdruck finden kann, der sich in Kommunikation mit unserer säkularen pluralistischen Gesellschaft befindet.

DSR: Wie Ken bereits sagte, können wir alle in einer direkten spirituellen Erfahrung unsere Einheit mit dem Urgrund des Seins erkennen. Wir können uns also einer Wahrheit bewusst werden, die außerhalb von Raum und Zeit ist und sich nicht verändert. Aber ihr Ausdruck sollte sich verändern, weil die Zeiten sich ändern und neue Bedürfnisse auftreten. Um zu beschreiben, wie ich diese zwei Dimensionen in meiner eigenen Religion erlebe, verwende ich die Metapher von rostigen Rohren. Die Formen sind verrostet, aber das Wasser, das hindurchfließt, ist immer noch das lebensspendende Wasser. Ich kann entweder auf den Rost schauen oder ich kann das Wasser trinken. Unser säkulares Klima ist jedoch kalt und das lebensspendende Wasser gefriert durch unsere kalte Gleichgültigkeit. Wir brauchen also eine Form der Lehre, die uns zurückführt zu der spirituellen Erfahrung, von der Ken gesprochen hat. Wir brauchen Rituale, die uns helfen, diese Erfahrung immer wieder lebendig zu erneuern. Und wir brauchen eine Moral, die zeitgemäß ausdrückt, wie Menschen handeln, wenn sie sich dessen bewusst sind, dass sie zusammengehören. Aber sehr oft gefriert die Lehre und wird zu Dogmatismus, das Ritual wird zu Ritualismus und die Moral wird zu Moralismus. Wie können wir dann dieses Eis wieder auftauen und in lebensspendendes Wasser verwandeln? Wir können dieses gefrorene Wasser nur durch die Wärme unseres eigenen Herzens auftauen – durch das Feuer unserer Religiosität. Dann wird es wieder lebendiges Wasser für uns selbst und für alle, denen wir begegnen. Deshalb ist es so wichtig, immer und immer wieder zu unserer Religiosität tief in unserem Herzen zurückzukehren. Nichts anderes kann uns genug innere Wärme geben, um das Eis von Dogmatismus, Moralismus und Ritualismus wieder aufzutauen.

Der Dalai Lama sagt, dass Ethik wichtiger ist als Religion. Die Religionen neigen dazu, uns zu trennen, aber wir brauchen eine Ethik, die uns verbindet. Damit stimme ich vollkommen überein, muss aber betonen, dass in unserer Religiosität die Ethik bereits enthalten ist. Das ist der Grund, warum wir heute die Religiosität ernstnehmen müssen, denn sie bietet uns das breiteste Fundament für eine allgemeine Ethik. Wir brauchen eine Spiritualität für alle, nicht nur für diejenigen, die Zeit haben, sich in spirituellen Erfahrungen zu spezialisieren, und genug Geld haben, um Zentren für spirituelle Fortbildung zu besuchen. Die allen zugängliche Religiosität eröffnet uns grundlegende ethische Einsichten – zum Beispiel: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.« Wäre das nicht ein guter Anfang? Es wäre genug, um die Welt zu verändern.

KW: Ja, und hinzu kommt die direkte Erfahrungskomponente der Spiritualität. Das ist der Prozess, der in der integralen Theorie als »Aufwachen« bezeichnet wird. Diese Erfahrungen interpretieren wir dann durch Ideen und Konzepte, die unsere spirituelle Intelligenz formen. Diese Intelligenz wächst und entwickelt sich durch verschiedene Entwicklungsstufen, die immer umfassender werden und in der Lage sind, mehr Perspektiven zu sehen. Das bezeichnen wir als »Aufwachsen«. Das trifft für alle Formen der Intelligenz zu, wie zum Beispiel die emotionale, moralische oder ästhetische Intelligenz. Sie bewegen sich durch eine Abfolge von Stufen; wir bezeichnen sie als archaisch, magisch, mythisch, rational, pluralistisch/relativistisch bis hin zu integral oder systemisch. Der Theologe James Fowler fand in Studien mit Hunderten von Menschen heraus, dass ihre intellektuellen Interpretationen und ihr Verständnis von dem, was sie absolute Wirklichkeit nannten, durch diese Hauptstufen der Entwicklung gingen. Dabei spielte es keine Rolle, welche Erfahrung des Aufwachens sie gemacht haben.

Eine der schockierendsten Entdeckungen ist, dass Erfahrungen des Aufwachens relativ unabhängig sind von den Stufen des Aufwachsens. Man kann sehr tiefe Erfahrungen des Aufwachens machen, aber im Aufwachsen noch sehr am Anfang stehen. Im Westen ist es oft so, dass die Menschen im Aufwachsen weit fortgeschritten sind – sie befinden sich auf einer rationalen, pluralistischen oder integralen Stufe – aber sie hatten in ihrem Leben nie ein Satori-Erlebnis und brachten ihre Religiosität nie direkt zum Ausdruck. Natürlich besitzen sie diese grundlegende Religiosität, aber sie sind nicht so sehr in Kontakt damit. Sie sind sich dessen nicht sehr bewusst.

Eine Brücke bilden

e: Ein Aspekt unserer globalen Krise ist, dass Menschen, die aus traditionellen Gesellschaften kommen, die einen Bezug zum Heiligen haben, in einer Art Schockzustand sind – da unsere postmoderne relativistische Gesellschaft jeden Bezug zu dieser heiligen Dimension verloren zu haben scheint. Aus deren Sicht ist die postmoderne westliche Gesellschaft gottlos. Dies verstärkt auch verschiedene Formen des Fundamentalismus.

Meine Frage ist: Können Menschen, die ein tiefes Bewusstsein der Würde der modernen Kultur haben, der westlichen Aufklärung, der Errungenschaften des postmodernen Pluralismus, neue Wege finden, um das Heilige auszudrücken und sich auf das Heilige zu beziehen? Und könnte das auf eine Weise geschehen, die eine Brücke zwischen der säkularen Gesellschaft und den religiösen Empfindungen bildet?

DSR: Ich kann die Gefühle religiöser Menschen völlig verstehen, die auf unsere westliche Gesellschaft blicken, sie unreligiös nennen und in dieser Hinsicht schwer kritisieren. Wir müssen zugeben, dass unsere Gesellschaft die Beziehung zum göttlichen Geheimnis verloren hat und dadurch verantwortungslos geworden ist: Wir können uns heutzutage herausnehmen, was immer wir wollen, und sind niemandem gegenüber verantwortlich. Der Grund dafür ist, dass wir einen absolut erstaunlichen Aspekt des großen Mysteriums aus dem Blick verloren haben: Wir können zum Mysterium in einer ganz persönlichen Beziehung stehen. Wir in der westlichen Gesellschaft haben aber den persönlichen Bezug zum großen Geheimnis verloren und damit auch das Bewusstein unserer Verantwortung. Wir denken nur selten über das große Geheimnis nach und erkennen es noch seltener als unser »Ur-Du«. Wir haben den Sinn für diese tiefste aller persönlichen Beziehungen eingebüßt. Das göttliche Geheimnis ist aber mein eigentliches »Du«. Ich kann nur »ich« sagen, weil ich ganz persönlich auf dieses Geheimnis bezogen bin. Nur in dem Maße, in dem uns das bewusst wird, erleben wir Verantwortungsbewusstsein – das Angerufenwerden vom Geheimnis und das Antworten auf diesen Ruf. Das große Geheimnis begegnet uns konkret als das Leben. In jedem Augenblick gibt uns das Leben irgendeine Gelegenheit, die wir als Aufruf zu einer Antwort verstehen dürfen. Wenn wir lernen, hinzuhorchen und zu antworten, dann und nur dann leben wir verantwortungsvoll – wir antworten dadurch letztendlich dem großen Geheimnis. Wir müssen dieses Mysterium nicht »Gott« nennen. Ich bin sehr vorsichtig mit dem Wort Gott; es wird zu oft missbraucht. Wenn wir uns des Lebens als Mysterium wusst werden und uns bemühen, dem täglichen Leben in jedem Augenblick gerecht zu werden, dann ist das genug, um unser verloren gegangenes Verantwortungsbewusstsein wiederzugewinnen.

WIR MÜSSEN HEUTE DIE RELIGIOSITÄT ERNSTNEHMEN, DENN SIE BIETET UNS DAS BREITESTE FUNDAMENT FÜR EINE ALLGEMEINE ETHIK.

KW: Eine unserer Hauptschwierigkeiten mit dieser Beziehung zum Mysterium sehen wir in der historischen Entwicklung der Religionen. Wenn wir zum Beispiel das Christentum betrachten, begann diese Religion mit einer Vielzahl von mystischen Erfahrungen. Man kann kaum eine Seite im Neuen Testament lesen, wo nicht irgendjemand durch einen Feuerring um den Kopf gekrönt wird oder eine weiße Taube herabkommt. Sogar Jesus Christus beschrieb sein mystisches Erwachen im Fluß Jordan. Doch als die ersten zwei oder drei Jahrhunderte voranschritten, sammelte das Christentum all seine Mythen und die Religion selbst wurde mythisch. James Fowler nennt diese Stufe »mythisch-wörtlicher Glaube«, weil die Wahrheit in der Bibel, insbesondere für Fundamentalisten, empirisch und absolut wahr ist: Moses teilte wirklich das Rote Meer, Lots Frau erstarrte wirklich zu einer Salzsäule, Jesus Christus wurde wirklich von einer biologischen Jungfrau geboren. So wurde die Religion in ein mythisch-wörtliches Glaubenssystem gesperrt. Die westliche Aufklärung war der Versuch, sich aus dem mythisch-wörtlichen Denkmodus zu befreien und ein rational- wissenschaftliches Denken zu entwickeln. Deshalb begannen die modernen Wissenschaften und damit die moderne Physik, Chemie, Astronomie, Geologie usw. All diese Disziplinen entstanden mit dem Auftauchen dieser neuen rationalen Bewusstseinsstufe.

ERFAHRUNGEN DES AUFWACHENS RELATIV UNABHÄNGIG SIND VON DEN STUFEN DES AUFWACHSENS.

Die mythische Denkweise korrespondiert mit einer ethnozentrischen Identität, in der Sklaverei eine allgemeine Praxis ist. Alle Weltreligionen akzeptierten Sklaverei; buddhistische und christliche Klöster hatten Sklaven. Aber mit dem Auftauchen der rationalen Stufe sehen wir die Formung einer weltzentrischen Identität, in der die allgemeinen Menschenrechte einen Wert bekamen. In den 100 Jahren zwischen 1770 und 1870 verbot jedes Industrieland auf unserer Erde die Sklaverei. Das gab es niemals zuvor.

In Anbetracht dessen würde ich sagen, dass das heutige Hauptproblem mit der westlichen Religion darin besteht, dass sich ihre grundlegenden interpretativen Voraussetzungen häufig noch auf der mythisch-wörtlichen Stufe bewegen.

DSR: Du richtest dein Hauptaugenmerk auf die Religionen. Aber ich denke, wir befinden uns heute weltweit in einer sehr dringlichen Situation. Wir können nicht warten, bis die Religionen langsam heranwachsen. Wenn wir einer Religionsgemeinschaft angehören, müssen wir unser Bestes tun, um in ihr diesen Reifeprozess zu unterstützen. Aber nur alle gemeinsam – als Menschheitsfamilie über die Religionen hinaus – können wir der gegenwärtigen Herausforderung gewachsen sein. Wir brauchen etwas, das zu allen Menschen spricht, ob sie sich mit einer religiösen Tradition identifizieren oder nicht – wir brauchen eine weltumspannende Ethik. Wir bräuchten daher ein Bildungssystem, das Ethik bewusst fördert. Das wäre ein Ansatzpunkt, um unsere heutige verantwortungslose Gesellschaft dazu zu bringen, Verantwortung für uns persönlich, für die Menschheitsfamilie und für den ganzen Planeten zu übernehmen.

KW: Damit stimme ich überein. Und ich möchte noch etwas hinzufügen: Wenn wir zurückgehen zur westlichen Aufklärung, zum Beginn der modernen Wissenschaften, hätten sich die modernen Wissenschaften auch zusammen mit einer modernen Interpretation der Religion entwickeln können. Weil aber die Religion und ihre populären Anhänger so stark mit den dogmatischen Glaubenssätzen identifiziert waren, blieb sie dem mythischen Glaubenssystem verhaftet, was es nahezu unmöglich machte, sich zu einer Ausprägung der Religion zu bewegen, die mit der Wissenschaft vereinbar ist. Denn es gibt durchaus rationalere Erklärungen für Dimensionen, die selbst nicht rational sind. Wir können über sie rational sprechen, und es gibt Praktiken, die man ausführen kann, um im Inneren diese Dimensionen zu finden und so aufzuwachen.

Weil wir aber diese Stufen des Aufwachsens nicht sehen können, wenn wir nach innen schauen, hat keine Religion auf der Welt ein Verständnis für die spezifische Natur dieser Stufen des Aufwachsens entwickelt. In unserer Menschheitsgeschichte gab es kein System, in dem beides praktiziert wurde: Aufwachen UND Aufwachsen. Die Menschen praktizieren entweder nur das eine oder das andere, und damit praktizieren sie im Grunde die Spaltung. Denn das Ideal wäre eine authentische Erfahrung des Aufwachens, die wir von der höchstmöglichen, umfassendsten Entwicklungsstufe aus interpretieren. Aufgrund dieser Spaltung gibt es diese idiotische, lächerliche Trennung zwischen der Wissenschaft, die modern ist, und Religionen, die mythisch sind. Das ist eine Katastrophe. Wir müssen also unsere religiöse Ausrichtung von diesen mythischen Interpretationen abkoppeln. Dies ist auch eine der wichtigsten Veränderungen in der Bildung.

Ehrfurcht lernen

DSR: Der nächste Schritt wäre, dass wir die Lehren unserer eigenen Religion – sofern wir einer angehören – mit einer aufgeklärten Weltsicht verbinden, welche die Wissenschaft ernstnimmt.

KW: Das ist ein zentrales Anliegen integraler Ansätze. Denn es gibt diese nächste Entwicklungsstufe jenseits der pluralistischen relativistischen Stufe, die von vielen Entwicklungsforschern als integriert, integral, systemisch, inklusiv, ganzheitlich, im besten Sinn, bezeichnet wird. Diese Stufe integriert Wissenschaft und Religion.

DSR: Das bedeutet aber auch, dass wir eine neue Haltung innerhalb der Wissenschaft brauchen, wir brauchen eine Wissenschaft mit Ehrfurcht vor unserer Umwelt. All das, was Wissenschaft uns lehrt, kann Heranwachsenden auf solche Art vermittelt werden, dass es ihre Ehrfurcht stärkt. Das ist dann eine große Bereicherung. Es ist auch eine wundervolle Art, den Menschen, die keine Verbindung mehr zu einer Kirche haben, etwas zu vermitteln, was früher die Kirchen ihren Gläubigen zu geben vermochten: ein Gefühl von Ehrfurcht und Verantwortung.

e: Diese Ehrfurcht in der Wissenschaft ist auch ein Ausdruck des religiösen Impulses, wenn wir ihn aus mythisch-wörtlichen Interpretationen befreien. Die Ehrfurcht vor dem Geheimnis ist eine Ehrfurcht, die auch offen ist für einen Agnostiker oder Atheisten, denn wir müssen keinen religiösen Hindergrund haben, um Ehrfurcht zu empfinden.

KW: Wenn wir darüber sprechen, den Raum der Wissenschaft zu erweitern, ist noch ein weiterer Punkt wichtig: Die inneren mystischen Wege wie Meditation, Kontemplation, Yoga oder andere Formen von aktiver spiritueller Praxis, die die Erfahrung des Erwachens, der Erleuchtung, der Erlösung, der Metamorphose oder des Satori unterstützen, folgen der grundlegenden Struktur der Wissenschaft.

Nehmen wir als Beispiel die Zen-Meditation. Wir beginnen mit einem Paradigma, also einer tatsächlichen Praxis. Paradigmen sind nicht einfach Super-Theorien. Der Physiker Thomas Kuhn, der den Begriff »Paradigma« geprägt hat, war erschüttert, wie dieses Wort bald benutzt wurde, weshalb er es nicht mehr verwendete, und stattdessen den Begriff »Beispiel« nutzte, was einer beispielhaften Handlungsanweisung entspricht. Wenn wir wissen wollen, ob es draußen regnet, gehen wir zum Fenster und schauen hinaus. Das ist das Paradigma – wir müssen etwas tun, um uns den Daten anzunähern. Wenn wir es richtig machen, wird eine direkte, unmittelbare Erfahrung die Folge sein. Der Psychologe William James sagte, dass dies die zutreffende Definition für »Daten« ist. Wenn wir diese Daten betrachten, die auch ein Satori-Erwachen oder eine spirituelle Erfahrung beinhalten können, kommen wir zum dritten Schritt: Wir vergleichen die Daten und überprüfen sie mit jemandem, der die ersten beiden Schritte durchlaufen hat – zum Beispiel einem Zen-Lehrer –, um sicherzugehen, dass wir keiner Halluzination oder Fehlwahrnehmung unterliegen.

WIR ANTWORTEN, INDEM WIR UNS DER MÖGLICHKEIT ÖFFNEN, DIE UNS DAS LEBEN IM HIER UND JETZT ANBIETET.

Im Zen wurden diese Daten für einige Tausend Jahre überliefert. Es ist klar, dass das nicht nur innere persönliche oder private Erfahrungen sind. Wir können diese Zustände trainieren, und damit sind es allgemeingültige oder öffentlich zugängliche Zustände. Damit folgen wir also einer Wissenschaft des Inneren. Wir suchen reale, direkte und unmittelbare Erfahrungen, die trainiert und weitergegeben werden können. Und sie geben den Menschen, die sie erfahren, das Gefühl, das summum bonum, das höchste Gut gefunden zu haben, dessen Freude, Liebe und Frieden überwältend ist.

Überall auf der Welt finden wir ähnliche mystische Erfahrungen von endgültigem Einssein und Einheit mit dem Urgrund des Seins; sie tauchen in nahezu jeder größeren Zivilisation auf. Dieser Ansatz sympathisiert sehr stark mit der Wissenschaft, nicht auf der theoretischen Ebene, aber in der eigentlichen Praxis.

Dankbar leben

DSR: Ich stimme dir da vollkommen zu, Ken. In einer vereinfachten Form müsste dieser Ansatz auch in unsere Schulen gebracht werden. Deshalb setze ich mich für eine spirituelle Praxis ein, die genügend einfach ist, um allen, auch Kindern, zugänglich zu sein: dankbar leben. Diese Praxis ist ganz einfach: Stop – Look – Go, oder Innehalten – Hinschauen – Handeln. Innehalten, weil wir sonst von Ablenkungen mitgerissen werden. Wenn wir es schaffen innezuhalten, können wir gelassen hinschauen und fragen: Welche Möglichkeit bietet mir das Leben jetzt an? Sobald wir diese Möglichkeit klar erkennen, heißt es zugreifen, das heißt handeln. Im Handeln antworten wir und zeigen Verantwortung, indem wir uns der Möglichkeit öffnen, die uns das Leben hier und jetzt anbietet. Diese drei einfachen Schritte, Innehalten – Hinschauen – Handeln, bringen uns in den gegenwärtigen Augenblick. Und im Jetzt zu sein ist ja das Ziel aller spirituellen Übungen, auch der komplizierteren.

Dankbar leben als spirtuelle Praxis hat also überraschende Vorteile: Authentische Spiritualität kann in der Schule vermittelt werden. Beispielsweise basiert das Konzept der Evangelischen Schule Berlin Zentrum auf dankbarem Leben. Dabei ist es bemerkenswert, dass dankbares Leben zwar mit jeder Religion vereinbar, aber nicht auf eine bestimmte Religion beschränkt ist. Es ist eine spirituelle Praxis, die jedem offensteht.

KW: Absolut. Und wie du wahrscheinlich weißt, gibt es gegenwärtig eine große Anzahl von wirklich guten Forschungen in diesem Bereich. Es gibt ein Experiment, bei dem man sechs Tage lang jeden Tag drei Dinge aufschreiben soll, für die man dankbar ist. Das Ergebnis ist ein spürbarer Glückszuwachs von über 30 Prozent. Und das Erstaunliche ist, dass bei dieser Übung über sechs Tage dieser Glückszuwachs sechs Monate anhält. Das ist ein unglaublich wirkungsvoller Aspekt unserer Religiosität, der in den Vordergrund gebracht werden muss, so wie du es in deiner Arbeit tust. Die Wirkung dieser Praxis ist unglaublich und sie ist wunderbar leicht zugänglich.

Author:
Ken Wilber
Author:
David Steindl-Rast
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