Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 19, 2018
Seit vielen Jahren arbeitet Marilyn Hamilton an einer integralen Vision unserer urbanen Lebensräume. Als Autorin und Beraterin von Städten in vielen Ländern der Erde will sie Städte zu Knotenpunkten einer globalen Intelligenz werden lassen, die es uns ermöglicht, ganz neu mit den globalen Herausforderungen umzugehen.
evolve: Wie verstehen Sie das Wesen einer Stadt?
Marilyn Hamilton: Im umfassendsten Sinne verstehe ich Städte als Wahrnehmungsorgane oder Reflexionsorgane von Gaia. Der Physiker James Lovelock formulierte in seinem Buch »Die Gaia Hypothese« eine wissenschaftliche Beschreibung der Idee von Gaia. Er schlägt vor, die Erde als ein lebendes System zu betrachten. Vom Weltraum aus kann man Städte erkennen durch das Licht, das sie nachts ausstrahlen. Metaphorisch kann man Städte als Lichtachsen sehen, die das Ergebnis der evolutionären Entwicklung der Menschen sind, die sie geschaffen haben. Städte sind also komplexe, anpassungsfähige lebendige Systeme, die von Natur aus evolutionär sind und sich in Entwicklung befinden. Durch eine komplexe Dynamik umfassen sie alle kleineren Ebenen menschlicher Systeme.
e: Was sehen Sie als zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten der Städte?
MH: Die Nachrichten sind voll von der vielfachen Bedrohung, die wir für die Erde darstellen – und den vielen Formen, in denen sie uns bedroht. Deshalb fühle ich mich gerufen, die Möglichkeit im Bewusstsein zu halten, dass wir in unserem höchsten Potenzial tatsächlich in der Lage sind, unsere Städte intelligent, ko-kreativ und regenerativ zu gestalten. Ich bezeichne die Stadt oft als Human Hive, als menschlichen Bienenstock. Was wäre, wenn wir unsere Städte als Bienenstöcke betrachten? Wir hätten einen Hive Mind, eine geistige Sphäre, die den gesamten Bienenstock umfasst und verbindet. Das heißt, wir würden nicht mehr als Individuen oder kleinere Zusammenschlüsse arbeiten, sondern wir hätten ein starkes Empfinden für unsere gemeinsame Interaktion auf einer umfassenderen kulturellen Ebene. In den Neurowissenschaften gibt es das Konzept der Meshworks, das beschreibt, wie selbstorganisierende und selbst-strukturierende Prozesse gleichzeitig im Gehirn stattfinden. Dieses System ermöglicht uns, auf dem, was wir gelernt haben, aufzubauen, um ständig lernen zu können und auf die sich verändernden Dynamiken unserer Lebensbedingungen zu antworten. Wenn wir von einer evolutionären Perspektive aus darüber reflektieren, wie das Leben selbst entstanden ist, und dass wir die komplexe Fähigkeit in uns tragen, das ganze energetische Feld zwischen uns zu erfassen und uns dessen bewusst zu sein, dann wird das Nachdenken über das Potenzial der Städte, die Fähigkeiten eines Hive Minds zu entwickeln, zu einer außerordentlich inspirierenden Forschungsrichtung.
Wo könnten wir in 100, 1.000 oder 10.000 Jahren stehen, wenn wir uns weiterhin entwickeln und auf das achten, was wir in positiver Weise gut gestalten können? Wir könnten tatsächlich in der Lage sein, das, was um uns herum in der Welt geschieht, zu antizipieren – wie unser Gehirn, das über Synapsen ständig unzählige Verbindungen herstellt. Das würde es uns ermöglichen, uns auf einer ganz anderen Ebene der Konsequenzen unserer Entscheidungen bewusst zu sein. Wenn uns unsere positiven Absichten dazu bringen, dem Leben zu dienen, dann würden die Konsequenzen unserer Entscheidungen zunehmend dazu führen, dass Städte zu Zentren von Lebendigkeit werden und sich Lebendigkeit in unseren Städten entfaltet.
e: Ich möchte hierzu eine kritische Frage stellen: Ich verstehe, was Sie sagen. Aber könnten Kritiker nicht sagen, dass das ein etwas zu optimistischer Blick auf unsere Städte ist? Denn globale Metropolen wie New York, London, Schanghai werden hauptsächlich durch die Systemdynamiken der Finanzindustrie zusammengehalten. Diese enormen Systemkräfte haben ihre eigene Systemintelligenz, die ziemlich problematisch sein kann. Sind Städte nicht direkt mit der Dynamik und Entwicklung des Finanzsystems verbunden? Ist die Stadt nicht bedeutsamer Teil des Problems, mit dem wir konfrontiert sind, und nicht nur Teil der Lösung, wie Sie es beschrieben haben?
MH: Ich denke, das ist eine angemessene Kritik. Ich würde nicht bestreiten, dass das aktuelle Finanzsystem global und national vernetzt ist, und sicherlich sind solche Städte wie die, die Sie erwähnt haben, daran gebunden. Ohne weiter auf diese Problematik einzugehen, denke ich aber auch, dass die vielen neuen Währungen, mit denen heute experimentiert wird, das Finanzsystem grundlegend verändern. Diese Währungen sind ein Zeichen dafür, dass diese Technologien, die wir entwickelt haben, auch Außenseiter-Systeme an den Rändern ermöglichen. Das ist zumindest meine Beobachtung. Die Schwachstelle dieser internationalen Finanzorganisationen besteht darin, dass sie schnell von unvorhersehbaren Entwicklungen überrumpelt werden. Oder ihre eigenen Feedback-Loops hindern sie an der Entwicklung, weil sie so zentralisiert sind. Von den Städten, die Sie erwähnen, sind einige intelligenter als andere und einige sind größer, als sie sein sollten.
Bienen gibt es seit hundertmillionen Jahren. Sie haben weitaus optimalere Größen für ihre Bienenstöcke gefunden als wir für unsere Städte. Und wahrscheinlich werden die riesigen Städte, von denen Sie sprachen, mit der Zeit kleiner werden und herausfinden, welchem Zweck sie wirklich dienen sollen.
Das ist ein Aspekt, der die Städte zukünftig charakterisieren wird – und eine Möglichkeit, wie sie Gaias Wahrnehmungsorgane werden können. Jedes Organsystem in unserem Körper hat einen bestimmten Zweck, den es erfüllt. Die Organe dienen nicht nur dem Zweck dieses Organs, sondern jedes steht in einer symbiotischen Beziehung mit dem gesamten Organismus. So werden sich Städte entwickeln, aus meiner zugegebenermaßen optimistischen Perspektive. Der Optimismus basiert auf einer evolutionären Antizipation, wie lebendige Systeme als Ganzes – so wie das sich entwickelnde Gehirn – die Intelligenzen begrenzen oder ausfüllen, die zur Zeit nicht optimal genutzt werden.
Die Bienen dienen der restlichen Natur und die Natur wiederum dient den Bienen.
e: Lassen Sie mich eine weitere kritische Frage stellen. Die Stadt als menschliche Lebensform war immer eine Art Antithese zur Natur. Als Menschen begannen, Städte zu gründen, gab es immer eine Befreiung von der Erfahrung, der Natur ausgesetzt und ihr unterworfen zu sein. Als Antwort auf die globale ökologische Krise sagen viele Leute, dass wir der Natur wieder näherkommen müssen; dass wir durch Biomimetik von der Intelligenz der Natur lernen müssen. Sind Städte, wenn wir sie als Organismus sehen, so weit von der natürlichen Intelligenz Gaias entfernt, dass sie ihre eigenen Organe entwickeln müssen, um mit der ökologischen Umgebung in Beziehung zu treten, damit sie die Rolle ausfüllen können, die Sie in Ihrer optimistischen Sicht der Zukunft antizipieren?
MH: Ich würde sagen, das ist eine wahrscheinliche Möglichkeit. Viele Leute sehen nur, dass Städte Probleme verursachen, wegen der Konzentration von Ressourcen, die sie angezogen haben, um gebaut zu werden. Aber sie haben auch eine Konzentration von Bewusstsein und Kultur angezogen.
Wenn wir sagen, dass Städte eine Antithese zur Natur sind, sind wir in einem Missverständnis, weil alles, was wir in Städten zu unserem Wohl versammelt haben, aus der Natur stammt. Alles, was wir zusammengefügt oder durch unsere Erfindungen neu zusammengefügt haben, entsteht durch uns, als »Zellen«, die sich auf diesem Gaia-Organismus entwickelt haben.
Ja, in der momentanen Weltsicht der Städte erscheinen sie wie die Antithese zur Natur. Aber das ist ein bisschen so, als würden wir auf dem Weg der Bewusstwerdung unachtsam sein. Wenn wir uns entwickeln und uns dessen nicht bewusst sind, dann wissen wir nicht, dass unsere Weltsicht Wurzeln hat, dass die eigene Selbstperspektive, die eigene Achtsamkeitsfähigkeit eine große Rolle spielt, nicht nur für die Lebensqualität, sondern auch für die Beziehung zu allem um uns herum, einschließlich der Natur. Wenn man bedenkt, wie sich dieser Prozess auf individueller Ebene zeigt und wie sich ein solches Selbst-Gewahrsein durch alle anderen Ebenen menschlicher Systeme in der Stadt entwickeln müsste, dann ist es wahrscheinlich keine Überraschung, dass viele Menschen Städte als Antithese zur Natur verstehen, statt als mögliche Lern-Laboratorien, um in Ko-Kreation mit der Natur unsere Lebensräume zu gestalten.
e: Sie haben schon erwähnt, dass Städte eine Art Bienenstock-Intelligenz entwickeln können. Dieses Bild des Bienenstocks ist sehr imaginativ. Es impliziert, dass Menschen auf eine andere Art zusammenkommen können, in einer Form von kollektiver Organisation oder Intelligenz. Wie kann eine solche Bienenstockintelligenz entstehen?
MH: Der Bienenstock ist eine kraftvolle Metapher, weil Bienen nicht nur ihren eigenen Bienenstock erhalten, indem sie pro Jahr etwa 18 Kilo Honig produzieren, sondern weil sie auch das Äquivalent ihrer Ökoregion bestäuben. Dadurch erneuern sie die Energievorräte, die sie im darauffolgenden Jahr brauchen. Die Bienen dienen der restlichen Natur und die Natur wiederum dient den Bienen. Wenn man sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber anschaut, wie Bienen sich zusammen mit ihren Ökoregionen entwickelt haben, dann versteht man, dass sich die Blumen und Pflanzen, die die Bienen bestäuben, entwickelt haben, damit die Bienen von ihnen angezogen werden, um sie zu bestäuben und so ihr Überleben und ihre Erneuerung zu sichern. Es ist eine zutiefst interaktive, dynamische Ökologie.
Menschliche Bienenstöcke – wie ich die Städte gern nenne – werden sich jetzt erst langsam bewusst, dass es eine enge Verbindung zwischen dem menschlichen Lebensraum und der Ökoregion gibt. Alles lebt in einer einzigartigen Ökologie. Es gibt Städte in den Bergen, am Meer, in Ebenen, auf offenen Flächen, in Seegebieten. Man unterscheidet 17 geografisch unterschiedliche Formen auf der Erde, in jeder dieser Erdformen gibt es Städte. Deshalb muss sich jede dieser Städte auf einzigartige Weise dieser Ökologie anpassen und zudem herausfinden, wie sie diese Ökologie regenieren kann, damit diese ökologische Umgebung auch die Stadt unterstützt.
Mit der Form der Globalisierung, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entstand, importieren wir alle Ressourcen, die wir brauchen, von überall her auf der Erde. Uns wurde erst vor Kurzem klar, dass wir so etwas wie einen Fußabdruck hinterlassen. Er kann an den Ressourcen, die wir verbrauchen, gemessen werden, wie unser CO² -Footprint und die Energien, die wir verbrauchen. Durch den tatsächlichen Fußabdruck können wir die Ressourcen berechnen, die wir brauchen, um eine Stadt am Leben zu erhalten. Der erste Schritt der Achtsamkeit, den wir gehen müssen, besteht darin, dass die Städte beginnen, für ihre Verbindung mit der Ökoregion Verantwortung zu übernehmen. Jede Stadt muss sich fragen: Wenn wir nicht für die Ökologie, in der wir leben, sorgen, wer wird es dann tun? Jede Stadt in den verschiedenen Teilen der Erde hat tatsächlich ihre eigene ökologische Umgebung, für die sie Verantwortung übernehmen muss. Und wenn wir hoch genug fliegen und aus einem Flugzeug schauen oder aus dem Weltraum, dann sehen wir, dass jede Ökoregion, wenn man sie zusammennimmt, von Stadt zu Stadt und die Ökoregionen, die dazwischenliegen, miteinander verbunden sind. Alle Landschaftsformen des Planeten sind miteinander verbunden.
Hier sprechen wir über traditionelle, klug eingesetzte und resiliente Energien, die in materiellen Begriffen gemessen werden. Aber in einer wahrhaft integralen Stadt werden die eigenen Energien auch aus dem evolutionären Impuls entstehen – dem Impuls,der unser Gehirn und den Bienenstock entstehen ließ –, der uns Möglichkeiten eröffnet, die heute wie unmögliche Träume oder reine Fantasie erscheinen.
Es gibt Organisationen und Wissenschaftler, die in dieser Richtung spannende Möglichkeiten erforschen. Alliander, der wichtigste Energielieferant der Niederlande, hat vor einigen Jahren einen Wettbewerb mit dem Titel Energetic City 2050 initiiert. Dabei machte ein Team einen Vorschlag, den sie INNERGIE nannten. Sie erkannten, dass Energie weit mehr ist als Treibstoff oder Elektrizität. Die innere Energie der Menschen und der Gesellschaft – INNERGIE – ist mindestens genauso wichtig. Was geschieht, wenn man diese Erkenntnis als Ausgangspunkt nimmt, um eine Stadt zu betrachten und zu gestalten? Wie Paul de Ruiter, ein Mitglied der Jury des Wettbewerbs, den Vorschlag des Teams kommentierte: »Die Stadt der Zukunft wird Energie generieren müssen, nicht nur im technischen Sinne, sondern auch im menschlichen Sinne.«
e: Wie wenden Sie das Verständnis von Städten als menschliche Bienenstöcke in Ihrer praktischen Arbeit an?
MH: Howard Bloom hat herausgefunden, dass es in einem Bienenstock verschiedene Rollen gibt. Die erste Rolle nannte er die »Konformitätsbewahrer«. Diese Bienen fliegen los und bringen Nektar und Pollen zum Bienenstock zurück; sie passen sich an die Grundbedürfnisse des Bienenstocks an. In einem Bienenstock sind 90 Prozent der Bienen solche Bewahrer der Konformität. Die zweite Rolle sind die »Vielfaltserzeuger«, sie sammeln auch, aber sie fliegen nicht zu den gleichen Pflanzen und Blüten wie die Konformitätsbewahrer. Sie machen fünf Prozent der Bienen aus, und stellen sicher, dass es im Bienenstock Pollen aus verschiedenen Quellen gibt. Die dritte Rolle sind die »Ressourcenverteiler«, sie prüfen, ob der Bienenstock alles so tut, dass das Überleben gesichert ist. Und die vierte Rolle wird als »innerer Richter« bezeichnet, den man als die Intelligenz des Bienenstocks, den Hive Mind verstehen kann.
Alle Landschaftsformen des Planeten sind miteinander verbunden.
Auch in einer Stadt können wir diese vier Stimmen finden. Die »Konformitätsbewahrer« sind die Bürger der Stadt, die arbeitende und produzierende Bevölkerung, die innerhalb der Gesetze und Normen lebt. Die »Ressourcenverteiler« sind die städtischen Angestellten, die Leute im Rathaus und in der Stadtverwaltung, in der Bildung, im Gesundheitswesen, im Rechtswesen und in der Notfallversorgung. Sie sorgen dafür, dass die Stadt funktioniert. Die »Vielfaltserzeuger« sind Unternehmen, innovative Denker, Künstler und Ingenieure. Und der »innere Richter» ist die Rolle, die die städtische Zivilgesellschaft spielt, deren Akteure versuchen, die Bürger, die Organisationen und die Angestellten der Stadt zusammenzubringen, damit sie zum Wohlergehen der Stadt beitragen.
Wenn ich in einer Stadt arbeite, nutze ich diese vier Stimmen. Aber ich gehe nicht mit Erwartungen heran. Meine Aufgabe besteht darin, zuzuhören. Ich höre sehr tief auf diese vier Stimmen. Ich möchte mit Repräsentanten des ganzen Systems arbeiten: den Bürgern, den städtischen Angestellten, den Unternehmern und Künstlern und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Wenn ich diese Leute zusammenbringe, frage ich mich: Wo ist die Energie für Veränderung? Wo ist die Energie für das, was wir für die Stadt als das Beste wahrnehmen? Das bedeutet, dass ich bei der Arbeit mit einer Stadt überall beginnen kann. Es muss nicht im Rathaus sein, es kann jede Gruppe von Menschen sein, die Energie für das hat, was sie verändern will.
In der Stadt in Oklahoma in den USA, die ich beraten habe, führte ich innerhalb von vier Jahren zwölf Dialoge. Diese Dialoge schufen ständiges Feedback, so wie die Bienen einander ernähren, tauschten wir die gefundenen Informationen miteinander aus. Ich höre also nicht nur zu, sondern ich schaffe mit meinem Team eine dialogische Umgebung, damit jeder jedem anderen in der Stadt zuhören kann. Das ist ein faszinierender Prozess – sie wachen zusammen auf und entdecken zusammen die Stadt, die für sie unsichtbar war.
e: Wenn wir über Bienenstöcke reden, finde ich etwas besonders spannend. Soweit ich weiß, sind sich die Forscher nicht ganz sicher, ob sie den Bienenstock als ein System unterschiedlicher Insekten oder als ein Wesen sehen sollen. Wenn Sie über integrale Städte sprechen, wollen Sie scheinbar auch eine integrierte Intelligenz schaffen, ein integriertes Ganzes, das zu einer ganzheitlichen Intelligenz wird. Ist das ein Aspekt Ihres Ansatzes?
MH: Bei der Arbeit mit menschlichen Systemen auf der Ebene der Städte habe ich so etwas wie einen »Master Code« entdeckt. Meiner Ansicht nach entsteht dieser Code aus der evolutionären Intelligenz und wir können ihn gut bei den Bienen beobachten. Dieser Code besagt im Grunde: Man muss für sich selbst sorgen damit man für andere sorgen kann, damit wir zusammen für das Wohl des ganzen Bienenstocks sorgen können. Auf diese Weise können wir für das Wohl unseres Planeten sorgen. Die Bienen haben dieses Gefühl für ihre individuelle Funktion, sie müssen als Individuum leben, sie dienen dabei aber immer auch dem gesamten Bienenstock. Das individuelle Leben und Gestalten steht im Kontext des Wohlergehens des Bienenstocks. Das ist der Hive Mind, die Intelligenz der Bienen als Ganzes. Ja, das möchte ich auch in Städten entwickeln.
e: Mich begeistert diese Vision eines Superorganismus sehr, und auch wie Sie ein Netzwerk integraler Städte beschreiben, die eine globale Intelligenz ko-kreieren können. Ist das Ihre Vision für das positive Potenzial der Städte und unsere menschliche Zukunft?
MH: Ja, ich denke das Potenzial der Städte besteht darin, innerhalb der Städte und zwischen ihnen als Knotenpunkte überall im Organismus Gaias neue Feedbackschleifen zu schaffen, zu verstärken, zu verbinden und zu erhalten. Man könnte sie mit dem alten indischen Mythos von »Indras Netz« vergleichen. Jede Stadt ist ein Knotenpunkt. Wenn wir verstehen, dass jeder dieser Knotenpunkte die Möglichkeit hat, einem lebensförderlichen Sinn für Gaia zu dienen, dann kann jeder auch von den anderen lernen, wie sie einander unterstützen können. Sie können voneinander lernen und die Intelligenz, die uns die Evolution geschenkt hat, weiterentwickeln.
Ich denke, es ist nicht übertrieben, jede Stadt als ein eigenes morphogenetisches Feld zu sehen. Wenn man dies auf die Ebene eines ganzen Planeten voller integraler Städte überträgt, dann sind diese Felder nicht nur angefüllt mit der Intelligenz in Bezug auf alles, was zwischen Menschen bisher entstanden ist, sondern auch das, was in Zukunft geschehen wird. Dabei können wir den integralen Ansatz der Entwicklung anwenden, mit seinen Aspekten des Aufwachens, Aufwachsens und Aufräumens, der psychologische, soziale und spirituelle Praktiken miteinander verbindet. Ko-kreative Räume für eine solche Praxis könnten in den Städten entstehen und zu der Möglichkeit führen, beste Vorgehensweisen zu finden, die zuerst in Regionen und dann überall auf dem Planeten angewendet werden.
Jede Stadt in den verschiedenen Teilen der Erde hat tatsächlich ihre eigene ökologische Umgebung, für die sie Verantwortung übernehmen muss.
Ich denke, dass dies keine verrückte Fantasie ist. Ich gebe Ihnen ein überraschendes Beispiel: Russland. Mein Buch »Integral Cities« wurde 2014 ins Russische übersetzt und ich bin mehrere Male dorthin gereist. Zuerst, um mein Buch vorzustellen und daraufhin entstand dort eine Organisation namens »Lebendige Stadt«. Sie hat das Ziel, bis 2030 eintausend russische Städte zu transformieren. Ich fand, das war ein extrem ehrgeiziges Ziel. Aber im November letzten Jahres wurde ich eingeladen, um vor den Bürgermeistern von 300 Städten zu sprechen. Ich dachte, das wären monotone Städte, die von der Ära des Kommunismus ge prägt sind und deshalb in Stagnation verharren und die Lebensqualität der Bewohner verschlechtern. Denn in der Planung dieser Städte spielten Innovation und Vielfalt keine Rolle. Aber sie haben schon große Veränderungen auf den Weg gebracht, indem sie sich zwei Jahre lang darauf konzentrierten, ihre menschlichen Ressourcen und ihre Lebensräume zu energetisieren und zu entwickeln. In einem Artikel in der »The Washington Post« über Russland und sein Regierungssystem gab es kürzlich die oft geäußerte Kritik am föderalen System, aber dann wurde darin die Ebene der Städte und Gemeinden untersucht. Der Autor bemerkte, dass es auf dieser Ebene spürbare Veränderungen gibt. Der Grund dafür ist, dass Städte in einer Föderation stark zentralisierter Systeme nur am Rand berücksichtigt werden. Viele Ressourcen, die sie schaffen, kommen ihnen nicht selbst zugute. Sie müssen sehr kreativ sein, um mit den geringen Ressourcen zu arbeiten, die man ihnen zurückgibt. Sie sind das Ökosystem der Innovation, die ein Grund dafür ist, dass ich optimistisch bin: Diese Städte sind der Ort, wo umfassende menschliche Veränderungen geschehen können.
Aber das Potenzial für Veränderung liegt bei jedem von uns. Wie ich schon anmerkte, als ich die vier Stimmen einer Stadt erwähnt habe, die Rolle des Hive Minds, der Intelligenz der Stadt, wird von der Zivilgesellschaft übernommen, wozu religiöse Gruppen, gemeinnützige Organisationen und Vereine und Nichtregierungsorganisationen gehören. Jeder von uns ist Teil dieser Zivilgesellschaft und kann dazu beitragen, unser Zusammenleben in Gemeinden und Städten zu verändern. Wenn die Bienen, die seit 100 Millionen Jahre unseren Planeten bewohnen, so viel Wert für die Erde erbringen können, muss unsere Spezies des Homo Sapiens Sapiens nun in den evolutionären Strom eintreten, um durch die Evolution unserer Städte das Überleben von Gaia zu sichern und neue Formen von globaler Intelligenz zu schaffen.
Das Gespräch führte Thomas Steininger.
Video zum Thema: Marilyn Hamilton über ihren Ansatz »Integral City«: www.bit.ly/2yl3pUH