Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
August 1, 2014
Ein Interview mit Yehudit Sasportas
Yehudit Sasportas ist eine israelische Künstlerin, die ihre Zeit in Berlin und Tel Aviv verbringt. Sie arbeitet mit verschiedenen Medien, einschließlich Malerei, Skulptur, Video, Film, Klang und Computeranimation. Ihre Arbeiten sind innovativ, experimentell und geheimnisvoll und eröffnen eine beeindruckende Umgebung, die den Betrachter in eine Landschaft einhüllt, die aus dieser Welt und den tieferen Räumen der Seele schöpft. Sasportas hat an zahlreichen internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen teilgenommen und viele prestigeträchtige Preise gewonnen. Im Jahre 2007 wurde sie ausgewählt, um Israel bei der 52. Biennale in Venedig zu vertreten. Dafür schuf sie die Installation „Guardians at the Threshold“ (Wächter der Schwelle). Ihre neuste Ausstellung im Israel Museum in Jerusalem war eine komplexe, vielschichtige Installation mit dem Titel „Seven Winters“ (Sieben Winter). Seit 1993 lehrt sie an der Bezalel Academy in Jerusalem.
evolve: Yehudit, wie würdest du dich bezeichnen: als Bildhauerin, Malerin, Filmemacherin?
Yehudit Sasportas: Ich würde mich als Künstlerin bezeichnen. Ich zeichne, ich schaffe Skulpturen und arbeite mit Installationen. Aber für mich ist dies nur die Oberfläche meiner Arbeit. Man sieht nur die äußere Schicht. Das Kunstwerk ist wie eine Spur der eigentlichen Handlung. Die Handlung selbst ist die Essenz des kreativen Impulses, der alle Strukturen dekonstruiert. Die Dekonstruktion von Dingen ist sehr wichtig für mich, um Zugang zum Raum zwischen den Dingen zu bekommen. Alles hat eine Struktur; alles ist eine Matrix von etwas. Wie können wir leere Quadrate, leere Zwischenräume in der Matrix dieser Strukturen offen lassen? Wie können wir die Fähigkeit entwickeln, die Leere zu halten?
Mein Fokus ist die Leere.
Dies zu tun und gleichzeitig über eine gewisse Zeit die Aufmerksamkeit zu halten, ist eine der schwersten Aufgaben. Selbst jetzt, wenn wir miteinander sprechen, ist es wichtig, dass wir darauf achten, dass wir nicht nur über etwas sprechen. Das ist das Hauptanliegen meiner Arbeit. Es ist das Gleiche, wenn ich Kunst lehre. Es ist geht nicht darum, über Kunst zu sprechen, sondern darum, die Sache selbst zu werden, über die du sprichst! Meine Studenten sind sehr intelligent; sie wissen viel. Sie sitzen da mit ihren iPads, und wenn ich einen Künstler erwähne, googeln sie ihn oder sie sofort und bekommen eine schnelle Idee davon, wer z.B. Gerhard Richter oder Olafur Eliasson ist. Sie sind es so gewohnt, Informationen zu bekommen oder schnell ein Bild zu sehen, sie wissen jedoch nicht, wie sie das Bild selbst erfahren können.
Es ist das Gleiche, wenn du ein Objekt siehst, sagen wir eine Skulptur in einem Museum. Für mich sind diese Objekte wie Ventilatoren des Bewusstsein. Sie bringen frische Luft in die dichte Matrix der kulturellen Raster. Sie funktionieren wie Mediatoren, die Frische aus einem Raum übermitteln, der noch nicht zum Ausdruck gebracht wurde, ein Raum, der noch nicht angefüllt ist mit einer Idee oder Meinung. Die intensivste Erfahrung beim Betrachten des Objekts haben wir dann, wenn die Ausdruckskraft des Objekts sehr stark ist und deshalb im Betrachter etwas ausgelöst wird. Dieser Punkt interessiert mich: Wie kann man sein Leben diesen Zwischenräumen widmen, diesen leeren Bewusstseinsräumen? Wir leben in einer sehr herausfordernden Zeit, in der wir durch tausende Bilder überschwemmt werden. Wie können wir bewusst bleiben, ohne uns eine Vorstellung über ein Kunstwerk zu machen? Wie kann ein Kunstwerk uns jetzt und hier wirklich etwas vermitteln?
Kunst ohne Künstler
e: Worauf fokussiert du dich, wenn du an einem Werk arbeitest?
YS: Mein Fokus ist die Leere. Gleichzeitig versuche ich, eine vertikale Ausrichtung einzunehmen: Je tiefer wir gehen, desto stärker erfahren wir die Strukturen des Lebens, wo wir mit Fragen der Identität oder des Geistes konfrontiert sind. Ich versuche Gewahrsein für etwas zu entwickeln, was ich als Fahrstuhl des Bewusstseins bezeichne.
Die Zeichnung wurde umso besser, je weniger ich daranbeteiligt war.
In den letzten 20 Jahren interessierte ich mich für alles, was mit Bewusstsein und Evolution zu tun hat. Mir wurde immer bewusster, was für ein kraftvoller Ausdruck von Bewusstsein Kunst sein kann. Durch Kunst kann ich den Menschen etwas über den Raum vermitteln, den wir offen halten müssen. Als Künstlerin habe ich die Verantwortlichkeit, diesen Raum offen zu halten.
Aber das ist nicht leicht, denn man muss mindestens vier Perspektiven in einer Zeichnung aktivieren. Es wird sehr komplex und gleichzeitig sehr einfach. Ich brauche Reibung mit realen Dingen, um die Energie zu aktivieren, die einen Raum öffnet. Natürlich kann man Menschen auch durch Schönheit überzeugen, was ein sehr interessantes Mittel ist. Während der letzten neun Jahre hat sich die Art, wie ich Skulpturen erschaffe, zeichne, filme und Töne produziere, vollständig verändert.
e: Was hat sich für dich verändert?
YS: Ich interessierte mich immer mehr dafür, wie man für längere Perioden zeichnen kann, ohne dass Geräusche oder Gedanken mein Konzentrationsniveau senken. Anfangs konnte ich 20 Minuten lang bei der einfachen Tätigkeit des Zeichnens bleiben; nach sieben Jahren konnte ich es sieben Stunden lang. Zwei Dinge wurden mir dadurch klar: 1) das Subjekt betrachtet etwas und 2) es gibt zwei völlig getrennte Dinge. Je mehr du praktizierst, desto mehr beginnst du die zweite Tatsache zu verstehen und zu durchschauen. Du beginnst zu verstehen, dass du dem, was du zeichnest, gleichst. Das Übersetzen des Objektes in ein Kunstwerk, deine Gedanken darüber und wie du das Objekt darstellen willst, werden immer unwichtiger. Weniger von dir selbst ist an dem Prozess beteiligt, wichtiger wird vielmehr die wirkliche Begegnung mit dem Objekt, das du zeichnest. Es gibt einen gesunden Energieaustausch zwischen dir und den Objekten, die du betrachtest. Die Objekte fangen sozusagen an, mit dir zu kommunizieren.
Unser Verständnis von Wirklichkeit hängt von unserer Bewusstseinsebene ab.
In meiner Erfahrung ging mit einer Verbesserung der Technik immer auch etwas anderes einher: Ich konnte beim Zeichnen in einen tieferen Bewusstseinszustand sinken. Das heißt, es ist weniger Yehudit, die Künstlerin, die zeichnet. Es fühlt sich freier an, als ob ich weniger in den Prozess des Geschehens eingreife. Ich habe entdeckt, dass die Zeichnung umso besser wurde, je weniger ich daran beteiligt war. Also mit weniger Anstrengung wird es besser.
Wie kann ich mich selbst aus dem Feld nehmen? Das wurde meine Priorität. Ich bemerkte, dass die Wirkung meiner Kunst stärker wurde, und dass immer mehr Leute begannen, auf die Zeichnungen oder Filme aus mehr Perspektiven heraus zu reagieren.
Jenseits der Geschichte
e: Du hast über verschiedene Perspektivebenen gesprochen. Kannst du beschreiben, was du damit meinst?
YS: Ich glaube, dass es vier Wirklichkeitsebenen gibt, durch die wir im Grunde alles betrachten. Die erste Ebene ist die einfache Ebene, die Ebene der Geschichte, wo wir in das Drama des Lebens involviert sind. Auf der zweiten Ebene pendeln wir hin und her zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten. Auf der dritten Ebene beginnen wir, nach der Bedeutung des Lebens zu suchen, und das wird zum Wichtigsten für uns. Hier erforschen wir ständig die Beschaffenheit der Dinge.
Die höchste Ebene ist natürlich die geheime, und nur die großen Meister können in diese Ebene eintreten und den Text sozusagen „von hinten“ lesen. Sie können dies, weil sie in keiner Weise vom Vordergrund oder vom oberflächlichen Teil des Textes, also der Geschichte, gefangen sind. Die Meister sind Eins mit dem nicht-persönlichen Raum oder dem Non-Dualen, mit dem Nichts. Das fasziniert mich. Darin wuchs ich auf.
e: Sprichst du über die Kabbala?
YS: Ja, ich wuchs in einem sehr religiösen Haushalt auf. Alle großen jüdischen Meister waren die Grundlage meines Denkens. Ich interessierte mich immer mehr dafür, wie man ihr Wissen in die künstlerische Praxis übersetzen kann und wie man zeitlose Weisheit mit postmoderner Kunst verbinden kann.
Der Sumpf betrachtet mich
e: Gab es eine besondere Erfahrung, durch die sich deine künstlerische Praxis verändert hat?
YS: Ja. Es begann sehr merkwürdig. Ich saß in einem Zug nach Leipzig hinter einer Frau. Sie las Zeitung, und auf der Titelseite war ein wunderschönes Landschaftsbild. Aber ich konnte nicht erkennen, was es war. Als sie aufstand, nahm ich die Zeitung und entdeckte, dass die Fotos einen Sumpf in Nordwesten Deutschlands zeigten, der in einem ökologisch zerstörten Gebiet lag. Es hatte den Anschein, als ob die Landschaft sich mit ihrem Niedergang nicht abfinden wollte. Für mich war es eine perfekte Metapher für mein Interesse an Lichtungen, die mich einige Jahre lang beschäftigt hatten. Der Sumpf streckte sich sozusagen nach der Haut unter einer Lichtung. Er eröffnete Zugang zu tieferen Schichten. Ich notierte die Information über das Bild, damit ich herausfinden konnte, wo sich der Ort befand. Der Zutritt war der Öffentlichkeit verboten, weil es ein Sperrgebiet war. Aber ich fand einen Zugang mit Wissenschaftlern, die das Gebiet untersuchten.
Warum ich unbedingt dorthin gehen wollte, kann ich nicht sagen. Ich brauchte acht Jahre, um zu verstehen, was das alles bedeutete. Ich besorgte mir ein Kanu und saß in dem Sumpf drei oder vier Stunden lang, ohne irgendein bestimmtes Ziel. Ich fragte mich: „Warum tue ich das?“ Es war eine Herausforderung für unsere kulturelle Idee, dass man nichts Unproduktives tun sollte. Wir haben eine kollektive Neigung, uns schuldig zu fühlen, wenn wir nichts tun, sogar als Künstler. Ich ging gegen diese Strukturen in mir selbst an.
Wir müssen auch den Raum der Stille würdigen.
Aber ich fühlte mich sehr genährt während meiner Zeit im Sumpf, obwohl ich nicht genau wusste, was mich nährte. Wenn ich in den Sumpf ging, wiesen mir die Wissenschaftler fast fünf Jahre lang immer den gleichen Bereich zu. Zuerst dachte ich: „Oh Gott, ist das langweilig! Ich sitze immer vor demselben Ast.“ Aber mit der Zeit gewöhnte ich mich daran. Es spielte keine Rolle, ob es vier Uhr morgens, später Frühling oder früher Winter war. Ich begann zu filmen, oder manchmal saß ich bloß. Es wurde immer mehr mein Forschungsgebiet, aber ich verstand nicht genau, was ich tat. Der Sumpf wurde mein innerer Schwerpunkt. Ich kam zu dem Punkt, an dem ich verstand, dass der Sumpf mich betrachtete. Ich begann, die unbekannte Energie des Sumpfes in den bekannten Raum meines Studios mitzunehmen. Und in sehr bewusster Weise fing dieser wilde Raum, der in diesen geordneten Raum meines Stadt-Studios hineingebracht wurde, an zu wachsen.
Ich machte eine Ausstellung von Arbeiten, die von dem Sumpf inspiriert waren. Das war eine sehr starke Erfahrung, weil ich beobachtete, wie viele Menschen auf diese Arbeit reagierten. Viele Leute schrieben mir, weil sie mystische Erfahrungen in dem Museum hatten. Die Reaktionen der Besucher auf die Arbeit überzeugten mich davon weiterzumachen. Ich glaube, dass es ein menschliches Bedürfnis nach Verbundenheit und Verlangsamung gibt, was nicht gleichzusetzen ist mit Entspannung. Es ist vielmehr die Suche nach einem Ort der Synchronizität, den man durchdringen und nähren kann.
e: Ich höre heraus, dass du in dem Raum, den du schaffst, den Beobachtern ein Gespür für Potenzial und Möglichkeit gibst. Versuchst du, die Menschen auf etwas aufmerksam zu machen?
YS: Unser Verständnis von Wirklichkeit hängt von unserer Bewusstseinsebene ab. Deine Bewusstseinsebene bestimmt ziemlich weitgehend deine Erfahrung. In meiner Arbeit thematisiere ich oft die nicht-integrierten Bereiche der kollektiven Landschaft. Ich versuche, Kunst zu schaffen, die mit unbewussten Feldern nicht-integrierter Aspekte arbeitet. Die meisten meiner Zeichnungen handeln von diesen unbewussten Feldern, von den Teilen, die nicht voll integriert sind.
e: Nicht-integrierte Aspekte sind Teil des Lebens, es ist wichtig sie zu thematisieren.
YS: Ja, und gleichzeitig müssen wir auch den Raum der Stille würdigen. Wir müssen nicht über alles reden. Wir können Raum für Integration zulassen, wenn es erforderlich ist. Es ist wie eine aktive Stille, eine aktive, verantwortliche, wache Stille – das ist etwas sehr Schönes.
Deshalb ist Kunst für mich ein sehr kraftvolles Werkzeug, um unbequeme Energien aufzunehmen. Als Künstlerin habe ich erkannt, dass der Druck zunimmt, wenn mein System offen ist für unterschiedliche Energieebenen. Je sensitiver ich werde, umso verantwortlicher werde ich, und umso mehr Druck wird auf feststeckende Bereiche in mir, die befreit werden wollen, ausgeübt. Es ist wie Wasser, das durch mich hindurch fließen will. Wie reagiere ich auf die Tatsache, dass es nie einfacher werden wird? Ich glaube, es ist nicht unähnlich unserem Gespräch heute: Wir treffen uns in einem Raum der Leere. Das ist ein seltenes Geschenk.