Veränderung von innen

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Interview
Published On:

January 21, 2016

Featuring:
Ica Fernandez
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Issue:
Ausgabe 09 / 2016:
|
January 2016
Ganz nah
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Erfahrungen mit sozialem Wandel auf den Philippinen

Wie kann ein neues, integrales Denken in der Regierungsarbeit und in Konfliktgebieten angewendet werden? Ica Fernandez hatte die Gelegenheit, auf den Philippinen damit aufschlussreiche Erfahrungen zu machen.

evolve: Wodurch wurde dein Interesse an Politik ursprünglich geweckt?

Ica Fernandez: Ich studierte und lehrte ­Literatur an der Universität, deshalb war die Kultur immer mein Ausgangspunkt. Ich glaube, dass ist bei den meisten Leuten so, die sich mit Anthroposophie oder integralen Ideen beschäftigen. Viele kommen aus der Zivilgesellschaft und den Universitäten. Manche engagieren sich in der Wirtschaft. Es gibt nicht viele, die sich näher mit Politik oder Regierungsarbeit beschäftigen, denn oft wird die Politik als Feind betrachtet. Der Wendepunkt kam für mich im Mai 2010, als ein Mentor, Nicanor Perlas, sich für die Präsidentschaft auf den Philippinen bewarb. Sein Fokus war die Bedeutung der Zivilgesellschaft für den sozialen Wandel. Die Wahlen gewann Benigno Simeon ­Aquino III, der Sohn des ehemaligen Präsidenten Corazon Aquino, der eine Reform-Plattform anführte. Die Erfahrungen dieser Wahl ließen in mir die Frage aufkommen: Ist es möglich, auch aus der Regierungsarbeit heraus Wandel zu gestalten?

e: Wie kam es zu deiner Arbeit in der Regierung?

IF: Die derzeitige Aquino-Regierung ging mit dem Versprechen eines neuen Regierungsstils in die Wahlen, der viele Leute ansprach. Die Philippinen sind ein äußerst vielfältiger Archipel, der sich aus mehr als siebentausend Inseln zusammensetzt, mit mehr als siebzig Ethnien und Sprachen. Eine der wichtigsten Initiativen der Regierung war ein umfassender Friedensprozess mit nicht-staatlichen, bewaffneten Gruppen, unterstützt von Bemühungen, der Unzufriedenheit in den peripheren Gegenden der Philippinen entgegenzuwirken.

Vor meiner Zeit in der Regierung engagierte ich mich ehrenamtlich in verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen im Süden der Philippinen. Eine davon war ein gemeinschaftlich geführtes Netzwerk junger Leute, das Jugendlichen in den konfliktreichen Gegenden hilft, durch Illustrationen, Fotografie, Videos und andere krea­tive Mittel ihre Geschichten zu erzählen. Eine andere Organisation arbeitet in der medizinischen Versorgung in entlegenen Gegenden, wobei westliche und traditionelle Behandlungsformen genutzt werden. In beiden Fällen ging es darum, neue Narrative oder Erzählungen zu schaffen. Auf den Philippinen konzentriert sich alles auf Manila und es gibt kaum Narrative, die unsere Vielfalt würdigen.

Im Januar 2011 wurde ich als Assistentin des Ministers eingestellt, der die Friedensverhandlungen mit den bewaffneten Gruppen leitete. Bald danach wurde ich gebeten, an einem Entwicklungsprogramm für die Problemzonen im Süden der Philippinen teilzunehmen. Wir mussten mit den verschiedenen Behörden, die das Programm umsetzten, zusammenarbeiten, unter anderen mit Behörden für Infrastruktur, lokalen Regierungen, Wohlfahrt- und Landwirtschaftsverbänden. 2012 unterzeichnete die Regierung einen Friedensvertrag mit einer der größten, bewaffneten Gruppen, der Islamischen Befreiungsfront der Moros. Danach wurde ich beauftragt, direkt Entwicklungsprogramme für und mit dieser bewaffneten Gruppe zu erarbeiten; es war das erste Mal, dass die Regierung eine soziale und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit ihnen einging.

¬ WIR BRAUCHEN NARRATIVE, DIE DIE UNGERECHTIGKEITEN DER VERGANGENHEIT ANERKENNEN, ABER AUCH ZUKUNFTSWEISEND SIND. ¬

e: Konntest du bei dieser Arbeit auch inte­grale Ansätze nutzen?

IF: Ich konnte mich nicht auf bereits bestehende Systeme verlassen, sondern konnte nur durch Dialoge und Gespräche neue Impulse geben. Als ich neu in der Regierungsarbeit war, gab ich meinen Kollegen eine Ausgabe von Otto Scharmers Buch »Theorie U«. Aber sie konnten damit nichts anfangen. Das sind sehr intelligente, erfahrene Leute, aber die Ideen werden so dargestellt, dass sie für die philippinischen Entscheidungsträger nicht nachvollziehbar waren. Soziale Methodiken wie Theorie U können zu abstrakt und fremd sein, wenn man so etwas nicht gewohnt ist. So musste ich es für eine Weile völlig außen vor lassen und solche Ansätze in einer nicht intellektuellen Weise nutzen. Glücklicherweise entdeckte ich ähnliche Begriffe und Konzepte im Islam und in unseren indigenen Traditionen. Es gibt Grundprinzipien, die wir dort wiederfinden: die eigenen Absichten klären, einer Situation oder anderen Menschen mit offenem Geist, Herzen und Willen begegnen, und andere in einem Raum zusammenbringen, in dem gemeinsam etwas Neues möglich ist. Es geht also nicht darum, bestimmte Denkansätze zu benutzen, sondern darum, einen Weg zu finden, wie man diese Prinzipien gemeinsam entdecken kann. Man muss es in der Praxis finden, statt von außen ein Konzept aufzustülpen. Durch meine Arbeit in der Regierung erkannte ich die Wahrheit in den Worten, dass Institutionen aus Leuten mit ihren Denkweisen und Paradigmen bestehen. Die einzige Möglichkeit, diese riesigen Institutionen zu transformieren, ist tatsächlich, mit den Menschen in diesen Institutionen zusammenzuarbeiten.

e: Was hast du durch die Arbeit für die Regierung gelernt?

IF: Die Arbeit in der Regierung war für mich eine Offenbarung, obwohl einige Leute in der Zivilgesellschaft das sehr kritisch sahen. Sie sagten, ich sei mir selbst untreu geworden. Trotz der Reformbemühungen bleiben Korruption und Ineffizienz tief verwurzelt. Aber was nützt es, wenn niemand versucht, die Dinge zu verändern? Die Bürokratie, besonders auf regionaler und lokaler Ebene, muss immer noch reformiert werden. Auf den Philippinen leben 100 Millionen Menschen und wir haben nicht genug Arbeitsplätze. Die Unterschiede zwischen einzelnen Gesellschaftsgruppen und Klassen sind immer noch beschämend. Aber die drei Jahre, die ich in der Regierung verbracht habe, haben mir gezeigt, dass ein Wandel von innen möglich ist.

Ich schied 2013 aus der Regierungsarbeit aus und kam durch einige Zufälle zur Weltbank. In dieser Arbeit führte ich den Dialog mit den bewaffneten Gruppen fort, weil viele internationale Organisationen Entwicklungsprojekte vor Ort finanzierten. Eine meiner Verantwortlichkeiten als Teil eines gemischten Teams war, den Menschen zu helfen, einen Wiederaufbau- und Entwicklungsplan für ihre Gemeinden auszuarbeiten: eine Vision, die sie selbst formulieren und beschließen konnten. Die Aufgabe der Berater war es, diese Bedürfnisse und Wünsche in einer Sprache zu formulieren, die Planer, Entscheidungsträger und Geldgeber verstehen können. Es ist eine Ironie dieses nationalen Konflikts, dass aufgrund des Umgangs der Regierung in Manila mit Regionen wie Mindanao viele ethnische Minderheiten den internationalen Geldgebern und multilateralen Organisationen wie den Vereinten Nationen oder der Weltbank eher trauen als der Zentralregierung.

e: Was half dir am meisten bei der Arbeit mit diesen Konflikten?

IF: Die Ursachen solcher Konflikte haben oft mit den Denkweisen zu tun, mit denen wir ein Problem wahrnehmen. Integrale Ansätze geben uns eine Grundlage, um diese Konflikte aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Der Mindanao-Konflikt wurde die meiste Zeit als ein religiöser Krieg zwischen den Christen im Norden und den Muslimen im Süden verstanden. Aber wenn wir mit solch einer vorgefassten Wahrnehmung herangehen, bleibt nicht viel Raum, um zuzuhören, was wirklich geschieht. Ein integrales Verständnis der Situation gab mir eine tiefere Fähigkeit, zuzuhören. Nur deshalb konnte ich diese Arbeit als junge, nicht-­muslimische Frau machen, die mit 21 Jahren in diesem Bereich zu arbeiten begann.

Ich finde es angemessener, den Konflikt als einen Zusammenprall von kulturellen Narrativen oder Erzählungen zu verstehen. Mit diesem Verständnisrahmen kann ich meine Annahmen und vorgefassten Konzepte loslassen und sehen, dass die Probleme dieser Gemeinden auch meine Probleme sind. Als Philippinos sind wir darin zusammen und können nur gemeinsam neue Erzählungen für die Situation unseres Landes entwickeln. Wir brauchen Erzählungen, die die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit anerkennen, aber auch zukunftsweisend sind. Ich glaube nicht, dass es irgendeinen anderen Weg in die Zukunft gibt.

Author:
evolve
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