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Als politische Geschäftsführerin der Piratenpartei stand Marina Weisband im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Seit ihrem Rückzug aus der Parteispitze der Piraten entwickelt sie ein Kernstück ihrer politischen Ideen weiter, die liquide Demokratie. Wir sprachen mit Marina Weisband darüber, wie ein neues Verständnis von Demokratie uns alle zu Gestaltern unserer Gesellschaft machen kann.
evolve:Die Piratenpartei hat nicht nur neue Themen in den politischen Diskurs eingebracht, sondern engagiert sich auch für eine grundlegende Veränderung des politischen Prozesses selbst. Wo hat unsere Demokratie Ihrer Erfahrung nach besonderen Bedarf an Veränderung?
Marina Weisband: Das zentrale Wort für diese Veränderung ist Verantwortung. Im Moment ist es so: Die Menschen haben sehr viel Zugang zu Kommunikationsmitteln, sie könnten mehr beeinflussen. Aber viele verharren in einer Konsumentenhaltung. Die Verantwortung für politische Entscheidungen wird weiterhin an Dritte abgeschoben. Sie sehen ihre Rolle noch nicht als Gestalter der Gesellschaft, sondern eher als Konsumenten dieser Gestaltung.
e:Wie können wir zu Gestaltern werden?
MW: Es gibt zwei Dinge, die einander bedingen. Das eine ist die Möglichkeit, die Gesellschaft zu verändern, und das andere ist die Motivation, Verantwortung zu übernehmen. Beide gehen Hand in Hand. Ich bin nur motiviert, Verantwortung zu übernehmen, wenn ich die Möglichkeit habe, etwas zu verändern. Aber die Möglichkeit, etwas zu verändern, kann es nur geben, wenn wir Verantwortung übernehmen. Und das steht sich scheinbar im Wege. Von Seiten der Politik müssen wir also damit anfangen, den Menschen Verantwortung zu geben und ihnen Gestaltungsfreiräume zu lassen. Und die Menschen müssen das von ihrer Seite eben auch verantwortungsvoll wahrnehmen. Da sind beide Seiten gleichzeitig gefragt.
Netzwerke der Kompetenz
e:Die »Liquid Democracy«, die von der Piratenpartei entwickelt wurde, nutzt die Möglichkeiten des Internets, um mehr Menschen direkt in politische Prozesse einzubeziehen. Die Menschen sollen dabei nicht mehr nur alle vier Jahre einer Partei und ihrem Programm und ihren Politikern ihre Stimme geben, sondern können bei Abstimmungen zu bestimmten Themen ihre Stimme abgeben oder delegieren. Können Sie kurz erklären, wie das funktioniert?
MW: Liquid Democracy bedeutet im Grunde, dass jeder eine Stimme hat. Aber man kann diese Stimme selbst benutzen oder man kann sie an jemand anderen delegieren. Hat man sie an jemand anderen delegiert, hat man trotzdem weiter die Verantwortung dafür, denn man kann sie jederzeit zurücknehmen oder an jemand anderen delegieren. Ganz konkret bedeutet das im Ergebnis, dass ich eine Art Netzwerk schaffe und in diesem Netzwerk haben diejenigen Menschen die meiste Macht, die als vertrauenswürdige Experten wahrgenommen werden.
Liquid Democracy ist einzigartig gegenüber Modellen der repräsentativen oder der direkten Demokratie, weil sie jedem die Entscheidung überlässt, wie viel Verantwortung man sich zutraut, wie viel man tragen möchte und inwieweit man sich beteiligen möchte. Das Liquide an der liquiden Demokratie ist der Übergang von meiner Rolle als Bürger, der relativ unbeteiligt ist, zu meiner Rolle als Politiker, der aktiv wird. Das ist fließend. Ich kann heute mehr Politiker sein und morgen ist mein Kind krank, dann bin ich eher passiv. Und dieses Fließende geht insgesamt in die Gesellschaft ein. In solch einer Gesellschaft werden wir nicht mehr sagen können: Da sind die Politiker und hier bin ich.
e: Man bildet also Netzwerke, in denen Menschen in ihren Kompetenzen sichtbar werden. Ich weiß dann: Frau Weisband ist Expertin für Liquid Democracy. Und kann Ihnen für dieses Thema mein Vertrauen geben und dadurch bekommen Sie Gestaltungskraft. Ist das so gemeint?
MW: Genau. Dadurch bekomme ich in diesem speziellen Bereich zwei Stimmen, wo ich vorher nur eine hatte. Wenn ich jemand anderen für noch kompetenter halte, besteht die Möglichkeit, dass ich meine Stimmen weitergebe und dann hat derjenige drei Stimmen – nämlich meine, Ihre und seine eigene. Im Prinzip kann ich also Vollblutpolitiker in der Bildungspolitik sein, während ich in Sachen Finanzpolitik jemand anderem vertraue. Während soziale Netzwerke einfach eine Verbindung von Menschen sind, hat diese Vernetzung nicht nur mit Kommunikation zu tun, sondern mit der Übertragung von Einfluss. Und das Schöne an diesem Netzwerk ist, dass es intelligenter ist als eine Einzelperson oder eine Masse von Menschen. Es besteht aus dickeren und dünneren Knotenpunkten, die sich ständig verändern, die in Veränderung begriffen sind und eigentlich genauso funktionieren wie unser Gehirn. Netzwerke sind nämlich am besten geeignet, komplexe Probleme zu lösen.
e:Liquid Democracy wird vor allem in der Piratenpartei selbst praktiziert, die nach ihrem kometenhaften Aufstieg inzwischen vielerorts wieder von der Bildfläche verschwindet. Gibt es jenseits der Partei Beispiele für funktionierende demokratische Prozesse, die das Prinzip nutzen?
¬ SELBST WENN ICH MEINE POLITISCHE RICHTUNG GEFUNDEN HABE, WEISS ICH, DASS MEINE POLITISCHEN GEGNER AUCH RECHT HABEN UND DASS ICH SIE BRAUCHE.¬
MW: Wir haben Liquid Democracy in der Kommunalverwaltung eingesetzt, zum Beispiel in Friesland. Da lief das recht erfolgreich. Liquid Democracy ist in einigen Uniparlamenten im Einsatz, zumindest in den Fraktionen, die den Piraten nahestehen. Und demnächst versuche ich das selber zu testen, und zwar an Schulen. Ich möchte ein Modell der Schülerbeteiligung über liquide Demokratie entwickeln.
Ich brauche meinen Gegner
e: Sie haben, auch zu Zeiten, als Sie Sprecherin der Piraten waren, immer wieder die Notwendigkeit von Kommunikation betont, die Notwendigkeit, unterschiedliche Standpunkte zu halten. Ich würde das als Kommunikationskompetenz bezeichnen. Sie versuchen, verschiedene Positionen mit der eigenen Sichtweise zu verbinden. Wie kamen Sie zu dieser Einsicht – und habe ich Sie da überhaupt richtig verstanden?
MW: Ja, das ist schon richtig. In der Politik erkennen wir immer wieder Widersprüche, es gibt immer wieder Punkte, wo beide Seiten Recht haben. Dazu kommt, dass ich sehr dialektisch aufgewachsen bin. Ich komme aus einer jüdischen Familie und da lernt man von Anfang an die Kunst der Dialektik, d. h. man findet die Wahrheit, indem man widerspricht. Daraus habe ich auch gelernt, dass es gefährlich ist, wenn man sich nicht ständig widerspricht, wenn man seine eigenen Thesen nicht ständig prüft. Das heißt aber auch, es ist sehr wichtig, dass es im politischen Spektrum Konservative und Progressive, Autoritäre und Liberale gibt. Selbst wenn ich meine politische Richtung gefunden habe, weiß ich, dass meine politischen Gegner auch Recht haben und dass ich sie brauche. Denn wenn die Gesellschaft nur auf mich hören würde, würden wir uns alle zu schnell entwickeln und in eine Falle stolpern, die ich nicht habe kommen sehen.
e:Das ist schon ein ungewöhnlicher Standpunkt, den wahrscheinlich nicht jeder unterschreiben würde: Ich brauche meinen politischen Gegner. Warum ist es für Sie so wichtig, in einem solchen Spannungsfeld zu stehen?
MW: Es gibt politische Ansichten, die brauchen wir nicht, weil sie nichts mit Politik zu tun haben, sondern auf Hass beruhen, wie beispielsweise Rechtsextremismus. Die Konservativen allerdings brauche ich. Und zwar deswegen, weil ich ein Mensch bin, der sehr nach vorne gewandt ist, der in Richtung Zukunft strebt. Aber Menschen können sich nur so schnell entwickeln, wie es für sie möglich ist, das betrifft sowohl unsere kulturelle Evolution als auch unsere biologische. Unser Gehirn ist immer noch auf dem Stand des Mittelalters. Wir dürfen eine Gesellschaft also nicht zu schnell verändern, weil sie sonst aus dem Ruder laufen kann. Wenn ich Dinge zu schnell verändere und hinterfrage – z. B. »Was ist eigentlich Familie?«, »Was für eine Art von Liebe ist erlaubt?« –, dann riskiere ich, dass die Gesellschaft mit einer Debatte um Werte nicht hinterherkommt. Das braucht Zeit. Und diese Zeit ist konservativ, weil wir ständig innehalten und sagen: »Moment mal. Über die Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften müssen wir noch mal reden.« Selbst wenn ich denke, dass die andere Seite Unrecht hat, ist es dennoch wichtig, dass wir als Gesellschaft diese Debatte führen.
Heraus aus der Blase
e:Diese anti-ideologische Haltung ist spannend. Sie nehmen bewusst eine Perspektive ein, die sich von anderen Meinungen berühren lässt. Das deutet auf eine Intelligenz hin, die das Individuum übersteigt und aus einer weiteren Kompetenz schöpft. Hier sehe ich auch eine Verbindung zu Liquid Democracy. Auch dort geht es ja darum, Gegensätze miteinander dialogisch im Gespräch zu halten. So kann sich eine Art multiperspektivische Intelligenz entwickeln. Wir haben zwar unterschiedliche Standpunkte, aber diese sind in stetem Dialog.
MW: Ich denke, Sie haben sehr Recht. In unserer globalisierten, immer komplexeren Welt ist es unsere einzige Chance, bei Problemen auf eine Intelligenz zurückzugreifen, die größer ist als unsere eigene. Und das ist die Intelligenz unserer Kooperationen. Allerdings ist das nur ein Potenzial, denn die sozialen Netzwerke führen da nicht hin. Die sozialen Netzwerke sorgen oft dafür, dass Gruppen sich teilweise einem Austausch verschließen. Wenn ich online unterwegs bin, habe ich weltweit vor allem mit den Menschen zu tun, die zu mir passen. Ich werde zum Beispiel tendenziell eher mit progressiven, linken Menschen zu tun haben. Das kann den Eindruck erwecken, dass die ganze Welt so denkt und alle Menschen, mit denen ich zu tun habe, mir zustimmen. Mit Menschen, die mir nicht zustimmen, umgebe ich mich gar nicht. Dadurch schafft das Internet soziale Filter und verhindert eine Debatte.
e:Wobei auch interessant ist, dass dies kein Engpass des Systems ist, sondern eine Limitierung unseres jeweiligen Bewusstseins. Das Internet gewährt mir in bisher nie dagewesenem Maße Zugang zu einer Vielfalt von Weltsichten. Sie haben das mit Ihrem interessanten Begriff der »Kooperationsintelligenz« angesprochen. Diese Kooperationsintelligenz ist heute in einer Weise real möglich, wie es historisch gesehen noch nie der Fall war – weil es dazu nur weniger Klicks bedarf. Die Limitierung, diese Möglichkeiten auch zu nutzen, liegt in unserem Bewusstsein.
MW: Eine Limitierung besteht aber auch darin, dass in diesem System kein Anreiz vorhanden ist. Ein Anreiz zur Beschäftigung mit anderen Perspektiven wäre Liquid Democracy. Darin muss ich mich nicht unbedingt mit Menschen auf der ganzen Welt verbinden, aber mit Menschen, mit denen ich bestimmte Probleme lösen muss, z. B. in meinem Unternehmen oder in meiner Schule. Wichtig dabei ist, dass man gemeinsame Probleme lösen will. Wenn in einer Organisation Liquid Democracy eingesetzt wird, dann entstehen Widersprüche, die tatsächlich ein Anreiz sind, mich mit der anderen Seite auseinanderzusetzen.
e:Ist nicht gleichzeitig auch so etwas wie gezielte Bewusstseinsbildung notwendig, damit wir erkennen, dass wir als Menschheit zu einer höheren Intelligenz im Dialog fähig sind?
MW: Es ist ja erst einmal Fakt, dass Menschen in einer Masse dümmer sind als ein einzelner Mensch. Wenn Menschen aber in einem Netzwerk verbunden sind, das intelligent gestaltet ist, sind sie hingegen klüger als ein einzelner Mensch. Genauso wären Neuronen in einer ungeformten Masse auch ziemlich dumm, während Neuronen, die im Gehirn vernetzt sind, sehr klug sein können. Auf dieser Grundlage sollte man Netzwerke gestalten. Die Teilnehmer dieser Netzwerke müssen sich dessen zunächst nicht bewusst sein. Aber sie werden es spüren, wenn sie daran teilnehmen und so kann auch ihr Bewusstsein für die Qualitäten vernetzter Intelligenz wachsen.
Menschen vertrauen
e:Sie haben Psychologie studiert. Lassen Sie mich Ihnen auch eine psychologische Frage stellen: Gespräche können auch davon leben, dass wir bewusst in etwas Gemeinsamem zusammen sind und merken, wir schöpfen aus der gleichen Menschlichkeit. Kann diese Wahrnehmung, in der wir die Isolation des Egos überschreiten, eine Liquid Democracy unterstützen?
MW: Es gab Modelle von Liquid Democracy, wo man versucht hat, die Stimme nicht auf Menschen, sondern auf Themen zu delegieren. Dieses Modell ist gescheitert. Wir haben gemerkt, dass eine Politik ohne die Übertragung dieses Vertrauens nicht funktioniert, weil wir uns nicht nur nach kalten Themen richten können. Das Modell produziert keine klugen Entscheidungen. Der Mensch ist inhärent immer ein soziales Tier und insbesondere soziale Entscheidungen, die ja politische Entscheidungen sind, treffen wir immer aus einem Beziehungsstatus heraus. Beim Modell der Liquid Democracy, so wie ich es vertrete, ist das zentrale Wort tatsächlich Vertrauen – und zwar in andere Menschen. Es geht nicht anders, wir können keinem Thema vertrauen.
e:Liquid Democracy zielt auf politische Transformation. Sehen Sie gegenwärtig weitere soziale Entwicklungen, die einen Beitrag zu einem grundlegen Systemwandel leisten?
MW: Ein solcher Trend ist definitiv die Dezentralisierung. Das erleben wir sowohl in der Wirtschaft als auch bei gemeinnützigen Organisationen immer stärker. Immer mehr vor allem junge Leute finden sich einfach zusammen und machen etwas, bieten etwas an. Beispiele dafür sind Sharing Economy oder Self Publishing. Diese Entwicklungen sind im Prinzip ein Zeichen dafür, dass wir selbst große Unternehmen leicht ersetzen können, weil diese Unternehmen vor allem die Funktionen der Kommunikation und der Verbindung übernommen haben, die wir heute in Zeiten des Internets nicht mehr brauchen. Eine große Gefahr für die Dezentralisierung von Diensten ist, dass die alten Unternehmen ihre Monopolmacht dagegen einsetzen. Das Beispiel, das ich hier meistens vor Augen habe, ist die Netzneutralität. Wenn die Netzneutralität bedroht ist, bedeutet es tatsächlich, dass sich nur noch Großkonzerne durchsetzen können.
e:Wenn wir den Bogen noch weiter spannen über die nächsten Jahrzehnte, was sind die konkreten Utopien, die Marina Weisband für möglich erachtet?
MW: Optimalerweise werden wir in einer Gesellschaft leben, in der Rollen nicht mehr so fix und starr verteilt sind. Ich kann heute Politiker sein und morgen Mutter und übermorgen kann ich einen Beruf ausüben und in drei Tagen eben nicht. Die Menschen werden sich nicht mehr nach Nationalstaaten sortieren, sondern mehr nach Interessen. Einerseits nach wirtschaftlichen und andererseits nach menschlichen Interessen. Ich denke, dass die Städte eine weitgehende Unabhängigkeit bekommen werden, was den lokalen Bezug betrifft. Und insgesamt werden die Grenzen sehr viel fließender sein.
Author:
Dr. Thomas Steininger
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