October 26, 2015
Marianne Elliott arbeitete als Menschrechtsaktivistin in Gaza und Afghanistan. Ihr Engagement lebt von spiritueller Herzenskraft.
Wir leben in einer Welt voller Konflikte. Die meisten von uns kennen die humanitären Brennpunkte wie Gaza oder Afghanistan nur aus den Nachrichten. Aber es gibt Menschen, die sich so sehr davon betroffen fühlen, dass sie es als ihre Verpflichtung empfinden, direkt an diese Orte von Gewalt und Verzweiflung zu gehen, um zu helfen. Einer dieser Menschen ist Marianne Elliott. In ihrem Buch »Mit dem Herzen einer Kriegerin« schreibt sie über die Herausforderungen und Lernerfahrungen in einer der größten humanitären Konfliktzonen: Afghanistan. Vor einiger Zeit hatte ich die Gelegenheit, mit Marianne über ihr Leben und ihre Erfahrungen als Menschenrechtsaktivistin zu sprechen. Dabei berührten mich ihre Menschlichkeit und ihre überraschende Sicht darauf, was wirklich zu nachhaltiger Veränderung führen kann.
Marianne wuchs in Neuseeland auf und studierte Jura mit der Absicht, sich juristisch für globale Menschenrechte einzusetzen. Nach ihrem Studium arbeitete sie in einer Anwaltssozietät, um ihren Studienkredit abzuzahlen und etwas Geld zu sparen. Zwei Jahre später reiste sie durch Ostafrika, durch den Mittleren Osten und kam schließlich nach Jerusalem. In dieser historisch und politisch geteilten Stadt wohnte sie in einem Youth Hostel im arabischen, palästinensischen Teil der Altstadt und verbrachte viel Zeit mit der palästinensischen Familie, die das Hostel führte. Durch die Gespräche mit ihnen erfuhr sie mehr über die Situation der Palästinenser. Sie bemerkte, da sie überwiegend mit amerikanischen und britischen Nachrichtenquellen aufgewachsen war, dass sie fast gar nichts von dem wusste, was wirklich in diesem Konflikt geschah. Die Zeit mit dieser großzügigen, freundlichen Familie öffnete ihre Augen und ihr Herz für die Auswirkungen von Besetzung und Gewalt auf deren Leben. Diese Erfahrungen führten dazu, dass sie sich für die Bürgerrechte der Palästinenser einsetzen wollte. Nach einiger Zeit ging sie zurück nach Neuseeland und begann ihre Masterarbeit zu schreiben – aber änderte bald ihre Meinung.
Sie sagte ihrem Tutor, dass sie nicht wirklich mit ihrem Master fortfahren wolle, sie fühle sich müde, in der Bibliothek zu sitzen und zu theoretisieren, nachzudenken und zu schreiben, während es in der Welt so dringend zu bewältigende Krisen gebe. Sie wolle selbst zu diesen Brennpunkten gehen und den Menschen dort helfen. Ihr Tutor hatte einen Freund in Gaza, einen palästinensischen Menschenrechtsanwalt, der gerade einen Assistenten für Internationales Recht suchte. Marianne bekam die Stelle. Das war 1999 – und der Beginn ihrer humanitären Arbeit.
In Gaza wurden ihr zum ersten Mal die körperlichen, emotionalen, psychologischen und spirituellen Herausforderungen humanitärer Arbeit bewusst, in der man so unmittelbar mit Gewalt, Trauer, Konflikt und Ungerechtigkeit konfrontiert ist: »Ich erfuhr, wie mich die schreckliche Situation der Menschen verletzte, ich spürte ihre Wut und Machtlosigkeit.« Als sie so in die Intensität des Konflikts hineingezogen wurde, bemerkte sie, dass sie für diese Arbeit eine andere innere Haltung entwickeln musste. Aber damals wusste sie noch nicht wie. In den folgenden Jahren wurde ihr klar, dass sie eine innere Praxis der Selbstheilung und Achtsamkeit brauchte, und so begann ihr innerer Weg. Sie erkannte, dass sie nur durch diese innere Entwicklung die Stärke finden konnte, um der dunklen Seite des menschlichen Lebens in voller Präsenz zu begegnen und heilend und unterstützend zu wirken.
Nach ihrer Zeit in Gaza arbeitete Marianne in Osttimor mit der Regierung von Timor-Leste an der Entwicklung einer Menschenrechtsstrategie. Sie sagt über diese Zeit: »Dort entdeckte ich, wie wichtig es ist, zuzuhören und einen Anfänger-Geist zu entwickeln: die Fähigkeit, jeder Situation und Geschichte mit einem frischen Blick und mit Neugier zu begegnen.« Schließlich kam sie nach Afghanistan und leitete ein Büro der UN-Mission in Afghanistan, wo sie an einem UNIFEM-Bericht über Gewalt an Frauen mitarbeitete. Dort begegnete sie einer weiteren Herausforderung humanitärer Arbeit: Isolation. Für sie war es die örtliche Isolation in einer fremden Kultur, sie sieht es aber als eine allgemeine Herausforderung sozial engagierter Menschen: »Wann immer wir uns in Bereichen des Lebens engagieren, die viele von uns meiden wollen, kann es zu Isolierung führen, weil unsere Freunde vielleicht nichts davon wissen wollen.«
¬ KULTURELLE DEMUT IST EINE HALTUNG, IN DER WIR UNS EINGESTEHEN, DASS WIR NICHT WISSEN, WIE EINE ANDERE KULTUR TATSÄCHLICH FUNKTIONIERT. ¬
Marianne begann Yoga zu praktizieren, um mit dem körperlichen Stress umzugehen, und sie praktizierte Achtsamkeits-Übungen, um inmitten des Chaos einen stabilen Geist und Mitgefühl zu bewahren: »In der Meditation fand ich einen Weg, mich selbst anzunehmen wie ich bin – mit all meiner Verwirrung und Traurigkeit. Es war keine Selbst-Verbesserung, wie so viele Dinge in meinem Leben, sondern ein Prozess der Selbst-Erkenntnis und Selbst-Akzeptanz. Wenn ich die Kraft des Mitgefühls entfalten möchte, kann ich damit beginnen, mir selbst mit Mitgefühl zu begegnen.« Auch die Herzensübungen des traditionellen Buddhismus wurden für Marianne wichtig, weil sie die Gefühle der Isolation heilen konnten: »Dank dieser Praxis der liebenden Güte fühlte ich eine tiefe Herzensverbindung mit allen Wesen und konnte diese Verbundenheit auch in herausfordernden Situationen spüren, zum Beispiel wenn ich Stammesälteste traf, deren Wertvorstellungen und Entscheidungen für mich schwer zu verstehen waren.«
Ihre Zeit in Afghanistan machte sie demütig in Bezug auf die Wirkung, die Außenstehende in einer fremden Kultur haben können: »Es ist schwierig für jemanden, der nicht dem spezifischen sozialen und kulturellen Kontext entstammt, sich so sehr in diesen Kontext einzufühlen – in die Sprache, Kultur, Machtstrukturen und Beziehungen –, um wirklich unterstützend zu wirken. Auf der anderen Seite gibt es spezifische Aspekte, bei denen jemand von außerhalb dieser Kultur eine wertvolle Perspektive beisteuern kann.« Aufgrund ihrer Erfahrungen an verschiedenen Orten der Welt erkannte sie die Grenzen der Idee einer kulturellen Kompetenz als Fähigkeit, in unterschiedlichen Kulturen kompetent zu sein. Für sie ist eine Haltung der kulturellen Demut angemessener, in der wir uns eingestehen, dass wir nicht wissen, wie eine andere Kultur tatsächlich funktioniert. Für Marianne war diese Einsicht eine große Erleichterung: »Für mich war das eine tiefe Einsicht, dass ich nicht bereits alle Antworten haben muss, und dass ich nicht so tun muss, als würde ich verstehen, was vor sich geht.« Kulturelle Demut ist für sie eine Herzenskraft der Verletzlichkeit, in der wir uns wirklich berühren lassen.
Nach ihrer Zeit in Afghanistan ging Marianne zurück nach Neuseeland und gründete eine Bewegung für soziale Gerechtigkeit. Diese Arbeit gründet auf einer Erkenntnis, die sie während ihrer Arbeit in Afghanistan hatte: »Die Dinge, die wirklich einen positiven Einfluss hatten, waren in lokalen Gemeinschaften eingebettet und wurden vor Ort von Aktivisten und engagierten Bürgern getragen.« Sie ist überzeugt, dass Wandel effektiv nur durch Menschen, die sich auf der Basis bestimmter Werte miteinander verbinden, möglich ist. Ihr Ziel ist es, viele Menschen zu mobilisieren und in ihnen das Gefühl zu stärken, dass sie politischen Einfluss haben und Werte wie Verbundenheit, Großzügigkeit und Mitgefühl miteinander teilen und in die Gesellschaft bringen können. Das ist ein weiterer Ausdruck der Vision, die sie schon ihr ganzes Leben bewegt: »Im Kern jeder wichtigen Entscheidung, die ich getroffen habe, ging es um Wandel und eine neue Geschichte für uns Menschen. Heute beschäftige ich mich vor allem damit, wie man bewussten Wandel gestalten, hervorbringen und unterstützen kann, und wie man Geschichten sammeln, formulieren, erzählen, teilen und verstärken kann, durch die wir uns selbst, andere Menschen und die Zukunft in neuem und hoffnungsvollen Licht sehen können.«