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Als Architektin hat Anna Heringer den Lehmbau für sich wiederentdeckt und nutzt diese alte Bauweise in moderner Form bei Projekten in Bangladesch, China, Zimbabwe und Marokko. Wir sprachen mit ihr über ein ganzheitliches Verständnis des Bauens und Gestaltens von Lebensräumen.
evolve: Wie sind Sie zur Arbeit mit Lehmbauten und Ihren internationalen Projekten gekommen, bei denen Sie diese traditionelle Bauweise anwenden?
Anna Heringer: Mit 19 Jahren habe ich ein Jahr in Bangladesch gelebt und bei einer NGO gearbeitet. Dort entdeckte ich meine Leidenschaft für nachhaltige Entwicklung. Ich habe dann Architektur studiert, weil ich etwas Kreatives mit Schönheit verbinden wollte. Während des Studiums lernte ich auch die Lehmbauweise kennen und begeisterte mich sofort dafür. Die etablierte Architektur kam mir oft als ein Luxus vor, der nicht tatsächlich das Leben der Menschen verändert. Als ich den Lehmbau entdeckte, wusste ich: Das ist mein Missing Link. Bei meinem ersten Projekt im Rahmen meiner Diplomarbeit kamen diese beiden Leidenschaften zusammen: Gemeinsam mit Eike Roswag und einem Team von Handwerkern aus Bangladesch und Deutschland habe ich die Meti School in Rudrapur, Bangladesch, gebaut. Und diese Erfahrung hat meine weitere Arbeit nachhaltig geprägt.
e: Wie hat diese Erfahrung Ihr Verständnis des Bauens verändert?
AH: Jeder Bau ist ein Eingriff in die natürlichen Gegebenheiten. Wenn wir mit Lehm bauen, nehmen wir den Rohstoff von der Erde, der dem Menschen von Nutzen ist, aber auch wieder in den natürlichen Kreislauf zurückgehen kann. Quasi eine kompostierbare Architektur, die einen Garten hinterlässt und keine Wüste.
Hinzu kommt der soziale Aspekt in der Entwicklungszusammenarbeit. Ich möchte nicht nur Gebäude gestalten, sondern tatsächlich einen Katalysator für Entwicklung, bei dem viel menschliche Arbeitskraft involviert ist, die von den Menschen vor Ort geleistet werden kann. So bleibt das Bauwerk in den Händen der Menschen und es profitieren nicht irgendwelche Zementfabrikanten oder Stahlindustrielle. Ein Bauwerk soll das Leben in den Familien verbessern.
Zudem bin ich davon überzeugt, dass Schönheit ein essenzielles Grundbedürfnis des Menschen ist, ein Ausdruck seiner Würde. Auch das habe ich in Bangladesch gelernt: Selbst wenn die Armut groß ist, kleiden sich die Frauen mit Sari und Armreifen, denn wenn man das aufgibt, lebt man eigentlich im Elend. Mir hat es gezeigt, dass Armut nicht der Wegfall von Schönheit sein muss.
Der Lehmbau ist eine Möglichkeit, viele Menschen, auch Tagelöhner und ungelernte Arbeitskräfte, zu beteiligen. Dadurch entsteht ein wirklicher Mehrwert für die lokale Wirtschaft. Ich bin am Nachmittag oft mit den Arbeitern zum Markt gefahren und habe gesehen wie sie ihren Tageslohn ausgaben: Sie kauften Gemüse vom Nachbarn oder ließen das Fahrrad flicken oder die Frau hat eine neue Bluse bei der Schneiderin bestellt. Das heißt, das Geld wurde sofort wieder in die lokalen Kreisläufe weitergegeben. So entstehen kleine Wirtschaftskreisläufe, die für die lokale Bevölkerung einen echten Mehrwert bringen.
Ich möchte nicht nur Gebäude gestalten, sondern tatsächlich einen Katalysator für Entwicklung.
e: In Ihrem Verständnis ist ein Bauprojekt multidimensional in dem Sinne, dass es auch einen sozialen Aspekt hat, die Kreativität der Menschen mit berücksichtigt und etwas Kulturstiftendes oder Gemeinschaftsstiftendes hat?
AH: Ja, es ist ein unglaublich schönes Erlebnis, wenn man gemeinsam aus dem Dreck unter den Füßen und zusätzlichem lokalen Baumaterial gemeinsam eine schöne Schule baut. Es stärkt das Vertrauen für die Einzelnen und die Gemeinschaft vor Ort. Das gab es früher auch bei uns, wenn wir zusammen das Rathaus oder die Kirche gebaut haben; heute machen wir diese Erfahrungen kaum mehr. Das ist ein wichtiger Aspekt in der Gesellschaft, der uns verloren geht: ein gemeinsames Ziel zu haben, für das man gemeinsam anpackt. Ich denke, es wäre wichtig, dass wir so etwas in unsere Gesellschaft wieder integrieren. Wenn man gemeinsam das Dorf oder den Stadtteil gestaltet, gemeinsam kreativ ist, dann spürt man seine eigene Gestaltungsmacht. Heute fühlen sich viele Menschen ohnmächtig, die eigene Gestaltungskraft wird unterdrückt und das führt zu psychischen Erkrankungen oder macht sich in Aggression und Feindseligkeit Luft.
Das gemeinsame Bauen ist wirklich eine starke Erfahrung. Beim Bau der Schule in Bangladesh waren zwei Montessori-Lehrerinnen dabei, die nur dafür zuständig waren, die Kinder in den Prozess zu inkludieren. Die Mädchen haben natürlich nur leichte Arbeiten verrichtet, zum Beispiel Stroh zerteilen, Sand für den Lehmputz sieben oder Stroh um Bambus wickeln für die Dachstürze. Aber es waren notwendige Arbeiten und nicht nur eine Bespaßung. Sie waren in den Bau integriert und fühlten sich natürlich unglaublich toll, dass sie dabei halfen, ihre eigene Schule zu bauen. Solche Erfahrungen schaffen großes Vertrauen in sich selbst und die Gemeinschaft. In meiner Arbeit ist das Wichtigste, dass man wieder Vertrauen in die eigenen Potenziale und die eigenen Materialressourcen bekommt. Oft meinen wir, dass das, was von außen eingekauft wird, mehr wert ist. Das ist in der Entwicklungszusammenarbeit über Jahrzehnte vorgelebt worden. Das Geld kommt von außen und wird in ein ordentliches Gebäude mit ordentlichen Ziegeln, Zement und Beton investiert. Das Sinnbild von Entwicklung ist nicht der traditionelle Lehmbau, sondern Gebäude mit industrialisierten Materialien. Das lässt aber die Menschen vor Ort spüren, dass ihre eigenen Materialien nicht gut genug sind. Das ist eine vernichtende Aussage. Dieses Denken müssen wir umdrehen: Das, was die Menschen vor Ort haben, ist etwas Besonderes, man muss nur die Kreativität entwickeln, um es zu veredeln und etwas Einzigartiges zu schaffen, das auf diesen Ort, sein Klima und seine Kultur zugeschnitten ist.
e: Worin liegen für Sie der Wert und die Schönheit der Lehmbauten?
AH: Der Lehmbau strahlt eine archaische Wärme und Schönheit aus. Wenn er steht, kann man nicht mehr sagen, ob er 500 Jahre alt ist oder ob er gerade gestern erbaut wurde. Trotzdem können Lehmbauten sehr modern sein. Durch seine Färbung passt sich Lehm gut in die Landschaft ein. Selbst wenn man moderne Formensprache wählt, ist das Gebäude kein »Alien«, sondern hat immer eine Verbindung mit der Umgebung. Die Schönheit des Lehms ist sensibel und trotzdem kraftvoll. Nicht laut schreiend kraftvoll, sondern ganz sensibel und selbstverständlich kraftvoll.
Ich versuche, mit Lehm eine moderne Formensprache zu verwenden, um zu beweisen, dass man mit einem alten Material moderne Architektur gestalten kann. Die Kernkompetenz einer Planerin ist, dass sie die Formensprache adäquat an den Bedürfnissen einer Gesellschaft entwickelt, aber auch an dem, was das Material kosten und leisten kann. Das Besondere beim Lehm ist die Verletzlichkeit, die meist als etwas Negatives gesehen wird. Lehm ist überall anders, von der Färbung, der Zusammensetzung. Je nachdem muss man eine andere Technik wählen und zudem ist das Klima allerorts unterschiedlich. So entsteht eine maßgeschneiderte Architektur, eine Einzigartigkeit, die aus der Logik der Umgebung heraus entsteht. Zudem ist Lehm ein sehr gesundes Material, weil er die Luftfeuchtigkeit perfekt ausbalanciert.
e: Wie sehen Sie die Lehmbauten im Zusammenhang mit der Suche nach einem nachhaltigen Bauen?
AH: Ein Gebäude ist dann nachhaltig, wenn es auf ökologischer Ebene mit der Umwelt in Harmonie ist. Dazu gehört aber auch, dass im soziokulturellen Gefüge viele Menschen davon profitieren und viele gute Gedanken damit verbunden sind. Und natürlich auch, dass es auf formaler Ebene schön ist und gut funktioniert. Wenn ein Gebäude auf all diesen Ebenen ganzheitlich stimmig ist, dann ist es auch nachhaltig. Wenn es wirtschaftlich, sozial und ökologisch in Harmonie ist. Diese Nachhaltigkeit hat eine Strahlkraft und nicht nur eine äußere Schönheit, sondern eine Schönheit, die von innen kommt. Ich glaube, tiefgründige Nachhaltigkeit hat wirkliche Schönheit in sich, die anzieht und guttut.
Das Gespräch führte Mike Kauschke.
Author:
Mike Kauschke
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