Welche Zukunft wollen wir?

Our Emotional Participation in the World
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Essay
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October 19, 2016

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Ausgabe 12 / 2016:
|
October 2016
Was können wir tun?
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Deutschland am Scheideweg

Otto Scharmer, der Begründer der Theorie U, lebt seit vielen Jahren in den USA und arbeitet global als Berater für Unternehmen, Regierungen und NGO’s. Aus dieser globalen Perspektive blickt er in seinem Beitrag auf die Potenziale und Herausforderungen in einem Deutschland im Umbruch.

Vor einigen Monaten arbeitete ich in Schanghai mit einer Gruppe von Führungskräften der chinesischen Regierung. An einem Punkt in unserem Workshop lud ich die Führungskräfte zu einer sogenannten »4-D-Mapping-Übung« ein, d. h. die Teilnehmer stellen sich physisch in die Rolle der wichtigsten Stakeholder innerhalb und außerhalb des Systems, in dem sie gemeinsam arbeiten. Die internationalen Rollen umfassten auch die »USA« und »Europa«. In diesem Mapping wird in einem ersten Schritt die Gegenwartssituation dargestellt und dann, in einem zweiten Schritt, werden diese Rollen in Richtung einer entstehenden Zukunft weiterentwickelt. Im dritten Schritt werden alle Rollen aus der Sicht aller beteiligten Stakeholder reflektiert.

In diesem spezifischen Fall war interessant, dass keiner der chinesischen Teilnehmer ein genaues Bild davon hatte, für was Europa eigentlich wirklich steht und wo sich Europa hinbewegt. Die Rolle der USA hingegen war sämtlichen Teilnehmern sehr deutlich. Diese Beobachtung ist symptomatisch. Trotz eines gewaltigen Wortgeklappers über Europa ist die Frage, was Europa wirklich will, offen und unbeantwortet. Diese Leerstelle scheint mir auch für die Frage nach der Zukunft Deutschlands zentral zu sein.

Drei Bilder waren in diesem Zusammenhang prägend für mich, wenn ich an die letzten Jahre zurückdenke: der Fall der Mauer, das Sommermärchen zur WM 2006 und der Hauptbahnhof München 2015, als Flüchtlinge aus Budapest willkommengeheißen wurden. Diese drei Bilder stehen für die Überwindung von alten Mauern und Grenzen – der Mauer zwischen West und Ost, der Mauer zwischen uns und einem mehr spielerisch-entspannten Umgang mit unserer Nation und der Mauer zwischen uns und dem, was außerhalb der europäischen Grenzen passiert.

Wie kam es zu diesen drei Grenzüberschreitungen? Sie wären undenkbar gewesen ohne den Kniefall in Warschau (Willy Brandt) und die blockübergreifenden Friedens- und Bürgerbewegungen in den Jahrzehnten vor 1989; die Kultur- revolution, die Klinsmann (und Löw) in die verstaubten Strukturen der Nationalmannschaft gebracht haben (und die nach 10 Jahren mit dem WM-Titel belohnt wurde) und die Zivilcourage einer ­Angela Merkel und der zahllosen freiwilligen Helfer und Helferinnen in München und in der ganzen Republik.

Was sind die Schatten- oder Gegen- bilder? Das Gegenbild zum Fall der Mauer ist der Umgang mit der Griechenland- krise: anstatt alte Mauern einzureißen, werden neue Grenzen hochgezogen. Was ist das Gegenbild zur multikulturellen Nationalmannschaft, deren alte Führungs- hierarchie heute postmodern umgestülpt, d. h. eher ko-kreativ organisiert ist? VW, DFB und Beckenbauer: Intransparenz, Seilschaften, Korruption und Täuschung. Das Gegenbild zum Münchner Hauptbahnhof? Brennende Flüchtlingsheime an viel zu vielen Orten der Republik.

Und wo steht Deutschland? Genau dazwischen.

Die Abbildung auf der rechten Seite fasst die drei Bilder und Schattenbilder zusammen. Was haben der Umgang mit der Griechenlandkrise, die brennenden Flüchtlingsheime und die ignorant- arrogante Reaktion der VW-Führung auf den Diesel-Betrugsskandal gemeinsam? Verantwortliche leugnen die eigene Rolle (denying), sie bringen der Situation und den beteiligten Menschen kein Mitgefühl entgegen (de-sensing), sie sind nicht mit ihrem wirklichen Ich, dem höheren Selbst anwesend (absencing) und sie nehmen Zerstörung (von Umwelt, Gemeinschaften, anderen – und sich selbst) in Kauf (destroying).

Was haben der Fall der Mauer, das Sommermärchen und der Empfang am Münchner Hauptbahnhof gemeinsam? Hier zeigt sich ein Aufmerksam-Werden, ein neues Sehen und Aufwachen (seeing), größere Zusammenhänge werden empathisch erspürt und mit dem Herzen gesehen (sensing), die höchste zukünftige Möglichkeit tritt in die Gegenwärtigkeit (presencing), man ist bereit, das Neue kommenzulassen und zu verdichten (crystallizing) und realisiert es schöpferisch und ko-kreativ (co-creating).

Der Kreis in der oberen Hälfte verkörpert das soziale Feld der Zerstörung (absencing), der Kreis in der unteren Hälfte das soziale Feld der Ko-Kreation (presencing), d. h. das In-die-Welt-Kommen des Neuen. Deutschland steht, wie viele andere Länder auch, genau im Brennpunkt dieser beiden Felder. Es sind zwei fundamental unterschiedliche Antworten auf die Disruption der Gegenwart. Die eine Antwort basiert auf einer Öffnung des Denkens, des Herzens und des Willens (open mind, heart, will). Sie schöpft aus Neugier, Mitgefühl und Mut (curiosity, compassion und courage). Die andere Antwort basiert auf dem Verschließen des Denkens, des Fühlens und des Wollens (closed mind, heart, will), sie mobilisiert Vorurteile, Wut und Angst. Bewegungen im unteren Feld bauen Mauern ab, während im oberen Feld neue Mauern errichtet werden. Im ersteren Fall entstehen Architekturen der Kooperation, im letzteren Fall Architekturen der Trennung.

¬ Drei Bilder prägen für mich die Baustelle D: der Fall der Mauer, das Sommermärchen zur WM 2006 und der Hauptbahnhof München 2015. ¬

Welche Zukunft wollen wir? Diese Frage ist heute eine globale Frage, die überall in der Welt zu hören ist. Aber in Deutschland stellt sich diese Frage doch ein wenig anders. Die deutsche Frage war schon immer auch eine europäische Frage. Die »verspätete Nation« (Plessner) war historisch schon immer mehr föderal und dezentral organisiert, als dies in vielen anderen Staaten der Welt der Fall gewesen ist. Ein Beispiel: Am Ende des 30-jährigen Krieges (1648) gab es im heutigen Deutschland ca. 1800 Fürstentümer. Je mehr dann Deutschland die Zentralisierung der Macht in der Form eines klassischen Nationalstaats fantasielos kopiert (1871) und weitergeführt hat, desto mehr Probleme gab es tendenziell für die Vielzahl der europäischen Nachbarländer. Die Weltkriegskatastrophen von 1914 bis 1945 haben komplexe Entstehungsgründe, aber sind letztlich extreme Varianten des Feldes der Zerstörung: zu viel Ego-Bewusstsein und zu wenig Öko-Bewusstsein, also zu wenig Sinn für das größere Ganze.

Die Entstehung der EU in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat ein neues Muster hervorgebracht: das Zusammenwachsen einer Region, ohne hierbei durch eine singuläre Hegemonialmacht dominiert zu sein. Insofern hatte die EU in der Vergangenheit teilweise Merkmale des presencing und zwar in dem Maße, in dem die Partnerländer über ihr Eigen­interesse hinaus kooperiert haben (empathisches sensing). Die erstaunlichen Integrationserfolge der EU nach dem Zweiten Weltkrieg hängen zum Teil sicherlich auch damit zusammen, dass Deutschland als ökonomisches Schwergewicht zwar immer bezahlt, aber nie eine dominante politische Führung beansprucht hat (was sich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten natürlich von selbst verstand). Aber genau dort, wo die EU durch ein gesundes Harmonieren zwischen Ego- und Öko-Bewusstsein in der Vergangenheit funktioniert hat, sehen wir heute mehr und mehr Rückfälle in die alten Muster des absencing, so wie dies bei der Griechenlandkrise und bei der Flüchtlingskrise zu sehen ist.

Was braucht man in einer solchen Situation? Leadership. Genauer: eine neue Form von Leadership. Nämlich die, die wir u. a. bei der deutschen Nationalmannschaft gesehen haben, als bei der WM in Südafrika Philipp Lahm zum damals jüngsten Kapitän gemacht wurde und damit begann, diese Rolle weniger als Top-down-Lautsprecher (wie die meisten seiner Vorgänger), sondern eher als Facilitator innerhalb einer Gruppe von Teampartnern zu interpretieren. Im Falle der Nationalmannschaft hat dies zu einer intelligenteren, verteilteren und flüssigeren Spielweise geführt. Aber wohin sehen wir die EU driften? In die umgekehrte Richtung (absencing).

Womit wir wieder nach Schanghai zurückkommen: Was will Europa eigentlich wirklich? Europa – die Menschen in Europa – wissen es nicht. Das ist genau der Gegenwartsmoment. Ein Moment, der nach Leadership ruft. Nicht nach einer Führungsmacht, die unverhohlen ihre nationalen Ego-Interessen auslebt. Davon gibt es schon genug. Sondern nach einer Facilitation, die allen Beteiligten hilft, das Ego-Bewusstsein ein wenig mehr loszulassen und das Öko-Bewusstsein ein wenig mehr kommenzulassen.

Anders geht es heute nicht. Denn für die heute drängende Grunderneuerung unseres ökologischen, ökonomischen, demokratischen und kulturellen Betriebssystems ist der Bewusstseinsumschwung von Ego zu Öko und eine soziale Technik, die diesen Umschwung im Alltag praktisch und nachhaltig macht, das Alpha und das Omega.

Author:
Otto Scharmer
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