Wir Kinder des Kalten Krieges

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April 17, 2019

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Ausgabe 22 / 2019:
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April 2019
Soziale Achtsamkeit
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Heilung durch Verstehen

Auch 25 Jahre nach der deutschen Einheit sind die Folgen des Lebens in zwei Staaten mit verschiedenen sozialen Wirklichkeiten immer noch spürbar. Ein Projekt in Dresden will durch Begegnung einen Impuls setzen, um Trennung in Verstehen und Verbundenheit zu wandeln.

Etwa 60 Menschen stehen dicht gedrängt in einem langgezogenen Seminarraum in Dresden. Am Boden vor ihnen eine lange Folie, die sich nach wenigen Metern in zwei Stränge teilt und dann wieder notdürftig geflickt wird. Die Folie symbolisiert Deutschland und die Stränge stehen für seine beiden Teile in der Zeit von 1949 bis 2018. Die Teilnehmer der Werkstatt »Wir Kinder des Kalten Krieges« im Haus Glaser sind eingeladen, die deutsche Nachkriegszeit als Raum-Zeit-Kontinuum zu erkunden. Bedeutsame Daten aus der Zeit vor, während und nach der Teilung sind entlang der Folie durch Kartons markiert. Obwohl der wiedervereinte Folienstrang inzwischen länger ist als der Geteilte – unser Zusammenleben in Deutschland ist durch den Abschnitt davor mehr geprägt als vielen bewusst ist.

70 Jahre sind vergangen, seit die ökonomische und politische Entwicklung Deutschlands in zwei grundverschiedene Richtungen führte. Das ergab sich nicht zufällig. Denn mitten in Europa standen sich nicht nur zwei neue Staaten gegenüber. Hier stießen größere, geopolitische Systeme aufeinander, die in Bundesrepublik und DDR ihre jeweils deutsche Ausprägung fanden. In beiden Teilen kamen deutsche Kinder zur Welt, die nun mit Feindbildern über die jeweils andere Seite aufwuchsen. Diese Feindbilder dienten den Machtinteressen der Besatzungsmächte ebenso wie der innerseelischen Abwehr von Schuld und Scham auf beiden Seiten Deutschlands. Und sie wurden zu den Weltbildern ganzer Generationen. In einem Land, das eben noch schuldhaft vereint war, wuchsen Generationen von Kindern des Kalten Krieges heran.

An diesem Wochenende im November 2018 kommen sechzig von ihnen im Haus Glaser zusammen. Viele von ihnen sind erfahren in der Aufarbeitung ihrer persönlichen Geschichte. Doch die Verletzungen aus Trennung und Wiedervereinigung haben bisher wenig heilsame Aufmerksamkeit gefunden. Der Vereinigungsprozess ist politisch vollzogen. In den Herzen vieler Menschen ist er aber noch lange nicht vollendet.

Der Vereinigungsprozess ist in den Herzen vieler Menschen noch lange nicht vollendet.

Begleitet vom 15-köpfigen Team des »Resonanzraums « durchläuft die Gruppe einen intensiven und teils aufwühlenden Prozess, der dem mythologischen Prinzip der Heldenreise folgte. Deren drei große Akte sind: Aufbruch ins Neue, Landschaft der Prüfungen, in der das Elixier des Neuen gefunden wird, und Rückkehr in die alten Welten. Stück für Stück werden dabei archetypische Erfahrungen in äußeren Ereignissen oder inneren Einstellungen lebendig. Fragen stehen im Raum: Was hat mich bewegt in der Zeit der Wiedervereinigung? Welche inneren Bilder trage ich von »den Anderen«? Mit welchen unerlösten Gefühlen bin ich unterwegs?

Teils getrennt nach Herkunft, teils in gemischten Gruppen tragen die Teilnehmenden ein gesamtdeutsches Mosaik von Sichtweisen und Erlebnissen zusammen. Unwissenheit und Stereotype stehen einander unvermittelt gegenüber. Doch auch das gehört dazu: Der Schmerz über die ungerechte Abwicklung von Betrieben im Osten trifft auf den nie gehörten Dank für den Milliardentransfer im Zuge der Wiedervereinigung im Westen. Beides ist wahr. Und beides tut weh. »Ich konnte euch noch nie so hören« bringt eine Teilnehmerin die heilsame Erfahrung dieser Dialoge auf den Punkt.

Über ein Jahr hatte sich das bunt gemischte Team der »Resonanzgruppe OSTWEST« um Barbara von Meibom auf diese Heldenreise vorbereitet. Zusammen erschufen sie in Vorbereitung und Durchführung ein stabiles Feld für die schwierigen Abschnitte der Reise.

Was wurde auf dieser Heldenreise in Dresden deutlich? Die Dominanz der ökonomischen Perspektive im öffentlichen Raum verdeckt die menschlichen Themen wie Identitätsverlust, Scham und verdrängt sie ins Private. Das gilt auch für den unterschiedlichen Umgang mit der Schuldthematik nach dem Krieg. Im Gegensatz zu offiziellen Debatten, die meist von politischen Standpunkten ausgehen, stand bei dieser Werkstatt das Herz im Zentrum. Wertschätzung, Würde und das Bemühen um eine umfassende und integrierende Haltung waren das Ziel. Denn mögen Schuldzuweisung, Vorwurf und Anklage auch die Wächter am Beginn der Reise sein, Heilung passiert jenseits davon und kommt mit der Anerkennung aller Perspektiven. Ein wichtiger Schritt ist dabei, über die Täter-Opfer-Dynamik hinauszugehen. Verletzungen und Ungerechtigkeiten werden sichtbar. Sie werden gehört und anerkannt. Der Blick wird frei auf Stärken und Schwächen, Projektionen und Abwehrmechanismen, die die Nachkriegszeit auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs hervorgebracht hat.

Noch ein Weiteres zeigte sich bei dieser Werkstatt: Die Verschiedenheit der Wege beinhaltet zugleich ein breites Spektrum an Einsichten und Erfahrungen. Das intensivere Zusammengehörigkeitsgefühl im Osten erweist sich als ebenso wertvoll wie die stärkere Individualisierung im Westen. Aufgrund der alten Feindbilder wird der jeweilige Erfahrungsschatz jedoch bis heute kaum als Wert gesehen. In der Werkstatt zeigte sich gleichwohl, dass genau darin das heilende Elixier des Prozesses liegen könnte. Das Elixier zu erlangen erfordert, über die Abwehr und tiefsitzenden Vorurteile der eigenen Geschichte hinauszugehen. In Dresden wurde dieser Prozess von jedem Einzelnen durchlebt. Ob der Gang durch die Höhlen der Transformation gewählt wurde, machte dabei jede und jeder für sich allein aus.

In der Heldenreise folgt auf Prüfungen und Finden des Elixiers der schwierige Weg zurück in die alten Welten. Ziel dieses Rückwegs und zugleich Ziel der ganzen Werkstatt war es, ein neues Narrativ für unser vereintes Land zu finden: keine Story von Gewinnern und Verlierern, sondern die Geschichte einer Synthese, die das Beste aus beiden Teilen Deutschlands zusammenführt.

Der Titel »Wir Kinder des Kalten Krieges« steht dabei exemplarisch für eine menschlichere Art der Inbesitznahme politischer Themen. Es ist an der Zeit, unser Sein in dieser Welt aus den Deutungshoheiten von Politik und Ökonomie zurückzuholen. Die Einbettung der gesamten Werkstatt in einen künstlerischen Prozess war dafür ein tragendes Element. Immer wieder stand die Einladung, in einen gestaltend-kreativen Raum zu gehen. Aus den Kartons der markanten Daten entlang der Folie trugen die Teilnehmer einen »Steinhaufen« der deutschen Geschichte zusammen. Zettel kamen hinzu. Sie erzählten von Hoffnungen, Sehnsüchten und Verlusten. Ein ständiger Auf- und Umbau formte aus dem alten Steinhaufen immer neue Gestalten dieses einen Deutschlands. Aus dem ganzen Prozess erwuchs schließlich ein künstlerisches Artefakt als sicht- und fühlbarer Umriss des neuen Narrativs. Die zu Herzen gehende Musik von Dieter Kraft und Florian Noack reflektierte an vielen Punkten unsere Berührtheit mit diesem Thema. Ging es doch um Heimat oder die seelische Verbundenheit innerhalb einer Nation, die es von den grässlichen Schatten ihrer spezifisch deutschen Vergangenheit zu reinigen gilt. Das bringt natürlich auch Widerstände hervor. Doch sich der Heilung dieser Themen zu verschließen bedeutet, diesen wichtigen Aspekt unseres Seins regressiven Impulsen in uns und anderen Gruppierungen zu überlassen. Insofern war der Prozess persönlich und politisch zugleich.

Author:
Sven Werchan
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