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Was bedeutet Intimität in Zeiten digitaler Vernetzung? Nimmt durch soziale Medien unsere Verbundenheit oder Entfremdung zu? Und wo gibt es Erfahrungsräume für eine tiefere Intimität mit uns selbst, miteinander und der Welt?
Vor einiger Zeit besuchte ich eine Veranstaltung zum Thema »Mensch und Smartphone« im Schloss Freudenberg, einem Ort, der sich als Erfahrungsfeld der Sinne und des Denkens versteht. Unter dem Motto »iSinn« untersuchten und diskutierten wir in verschiedenen Kontexten, ob das Internet, soziale Medien und Smartphones unsere Sicht der Welt erweitern oder vielleicht auch einschränken. Öffnen sie uns einen neuen Blick auf die Wirklichkeit, verbinden sie uns, machen sie uns mehr Informationen und Erfahrungen zugänglich, oder verdecken sie eher unsere direkte, unmittelbare Begegnung mit der Welt, der Natur, unseren Mitmenschen? Oder anders gefragt: Gibt es eine Intimität, die sich uns insbesondere durch unsere digitale Vernetzung erschließt? Und gibt es zugleich im Internetzeitalter eine neue Entfremdung, die uns so im abstrakten Raum digitaler Vernetzung hält, dass wir unsere eigene Stimme nicht mehr hören, den anderen nicht mehr sehen und die Welt nicht mehr spüren?
Der Tag, an dem ich dieses Seminar besuchte, war der 14. November, der Tag nach den Terroranschlägen in Paris. Am Abend, als ich nach Hause kam, setzte ich mich vor mein Laptop und ging auf Facebook. Viele bewegende Posts und Videos zeugten von Trauer und Verunsicherung, aber auch von Mut und Widerstand. Meine eigene Trauer und meine Fragen verbanden sich mit den Emotionen, die mich digital vermittelt erreichten. Ich bekam keine Antworten, meine Gefühle fanden keine Erleichterung, aber ich fühlte mich verbunden. Die Reaktionen auf das Ereignis hatten ein spürbares Netz des Mitgefühls über die Erde gespannt, in das ich eingebunden war.
Gerade auf Facebook beobachte ich aber auch ein Phänomen, das eher in die andere Richtung geht. Immer wieder sehe ich, dass sich Menschen in Kommentarspalten und Diskussions-Threads in einer Vehemenz angreifen und beleidigen, wie sie es wohl nie tun würden, wenn sie dem Menschen gegenüberstünden und in die Augen schauen würden. (Ganz abgesehen von den unsäglichen Hasskommentaren, die hier auch grassieren.) Dieser zwiespältige Eindruck hat mich dazu gebracht, mir immer wieder bewusst »facebookfreie Zeiten« zu nehmen, auch weil das einfache Abscrollen der Posts und Nachrichten, die oft nur an der Oberfläche bleiben, mich selbst in eine »oberflächende« Stimmung bringt – die Masse zählt, nicht die Tiefe.
Ich habe knapp über 900 Facebook-»Freunde«, davon kenne ich etwa die Hälfte persönlich, mit vielleicht 100 habe ich eine Beziehung, die man Freundschaft nennen kann, und wenn es zu wirklich engen Freunden kommt, bleiben vielleicht 25. Auf diese Weise wird ein Begriff wie »Freund/in« neu definiert oder eben auch verflacht, ausgehöhlt. Gleichzeitig habe ich über dieses soziale Netzwerk alte Freunde wiedergefunden, wodurch sich Freundschaften weiter entfalten konnten, und der Online-Austausch hat auch zu wertvollen neuen Freundschaften geführt, die ich nicht missen möchte.
Während des Freudenberger Seminars kamen wir letztlich zu dem Schluss, dass es an jedem selbst liegt, ob Internet, soziale Medien und Smartphone unsere Verbundenheit oder Entfremdung verstärken. Der entscheidende Punkt, so folgerten wir, ist die Verbindung zu unserer eigenen Kreativität, ist unsere Freiheit im Umgang mit diesen digitalen Möglichkeiten. Für mich war es der Auslöser, weiter über die Beziehung zwischen der Erfahrung einer Verbundenheit mit der Welt und unseren neuen medialen Welten nachzudenken. Dabei fand ich als Dialogpartner einige spannende Denker, die sich des Themas Intimität im weitesten (und tiefsten) Sinne angenommen haben.
Eine Kultur des Glatten
Eine besonders herausfordernde Entdeckung ist für mich das Buch »Die Errettung des Schönen« von Byung-Chul Han. Natürlich entscheiden wir selbst, wie wir mit digitalen Medien umgehen, aber für Han liegt das Problem tiefer und ist grundsätzlicher.
Han bezeichnet unsere Gegenwart als eine »Kultur des Glatten«. iPhone, Brazilian Waxing und die Skulpturen von Jeff Koons nennt er als Symptome einer Kultur, die den Blick auf die Oberfläche der Dinge lenkt. Es ist eine Kultur der Gefälligkeit, eine Kultur des »Like«. Han nennt es »Positivgesellschaft«, weil wir die Oberfläche der Dinge verehren, positive, glatte Touchscreen-Erfahrungen machen wollen, aber verlernt haben, uns erschüttern zu lassen. Erschüttern zu lassen vom Anderssein des anderen, von der Wirklichkeit, dass jeder von uns ein Universum ist, das nicht in ein Facebook-Profil passt. Für Han entsteht wirkliche Nähe mit einem anderen oder mit der Welt immer auch in der Erfahrung eines Widerstands. Tiefe Intimität ist nicht glatt, sie entwickelt sich, erprobt sich, differenziert sich in einem Prozess, in dem sich Widerstände, Erschütterungen, Brüche zeigen. Es ist eine Nähe, in der auch ihr scheinbares Gegenteil, die Ferne, Einzug halten kann: »Ohne Distanz ist keine Mystik möglich. Die Entmystifizierung macht alles genieß- und konsumierbar.« Der Fokus auf das Sichtbare, Geheimnislose, Konsumierbare macht für Han unsere Kultur auch zu einer pornografischen Kultur. Alles muss sofort sichtbar sein. Selbst Information wird für Han pornografisch: »Die Information ist eine pornografische Form des Wissens. Ihr fehlt die Innerlichkeit, die das Wissen auszeichnet. Dem Wissen wohnt insofern eine Negativität inne, als es nicht selten gegen einen Widerstand zu erringen ist.«
¬ ICH MÖCHTE IN EINER KULTUR DER STILLE LEBEN, IN DER ES VOR ALLEM DARUM GINGE, DIE EIGENE STIMME ZU FINDEN. ¬ Peter Bieri
Für Han sind all dies Symptome einer »Krise des Schönen«: Wir haben dem Schönen die Tiefe und Verbindlichkeit genommen. Er schreibt: »Die Sexyness ist der moralischen Schönheit oder der Charakterschönheit entgegengesetzt. Moral, Tugend oder Charakter haben eine besondere Zeitlichkeit. Sie beruhen auf der Dauer, Festigkeit und Beständigkeit.« Und weiter: »Je charakter- und gestaltloser, je glatter, je aalglatter man ist, desto mehr Friends hat man. Facebook ist ein Markt der Charakterlosigkeit.« Diese Krise des Schönen diagnostiziert Han in unserem Umgang mit Kunst, Politik, Moral, Wahrheit. Für ihn kann uns nur eine »Errettung des Schönen« weiterführen. Und wie sieht die aus?
In gewissem Sinne kommt auch Han zu unserer innewohnenden Kreativität und Schöpferkraft zurück, er nennt es »Zeugen im Schönen«. Denn eine Gefahr unserer digitalen Kultur ist, dass sie uns passiv macht, steuerbar, konsumfreudig, durchsichtig. So ist auch das Schöne nach den Vorgaben des Konsums geglättet, verflacht, beliebig, bequem und behaglich geworden. Das »Zeugen im Schönen« ist für Han auch eine Wiederentdeckung des Verbindlichen. Ein schönes Wort, finde ich, weil es Verantwortungsgefühl oder Treue mit Verbundenheit zusammenführt.
Resonanzraum
Verantwortungsgefühl und Verbundenheit berühren auch eine andere Erfahrung, die mir beim Nachdenken und -spüren zum Thema Intimität immer wieder begegnet ist: Resonanz. Denn was Han kritisiert, ist auch eine Unfähigkeit zur Resonanz. Der Soziologe Hartmut Rosa, der den Begriff der Resonanz momentan stark in den Diskurs bringt, meint damit, »dass einem Menschen die Welt als antwortend, atmend, tragend, wohlwollend oder sogar gütig erscheint.« Es ist eine Erfahrung der Verbundenheit, die viele von uns in menschlicher Begegnung, ästhetischen Erfahrungen, in der Natur oder auch in Gebet, Meditation und spiritueller Praxis finden. Für Rosa kann aber auch Politik mehr oder weniger Resonanz erzeugen, nämlich je nachdem, wie sehr sich die Menschen wirklich gemeint fühlen, ob ihre Anliegen bei politischen Entscheidungsträgern eine Stimme finden. Politikverdrossenheit ist also vielleicht auch ein Symptom mangelnder sozialer Resonanz.
Interessant finde ich, dass Resonanz diesen Pol der Verbundenheit hat, aber auch den Pol der eigenen Verantwortung, vielleicht auch im Sinne einer Fähigkeit zum Antworten. Aber dazu muss ich mich selbst kennen, muss mit mir selbst innig verbunden sein, meine eigene Stimme hören, meine kreativen Impulse spüren. Das ist in unserer lauten Kultur gar nicht so einfach. Der Philosoph Peter Bieri bringt es auf den Punkt: »Ich möchte in einer Kultur der Stille leben, in der es vor allem darum ginge, die eigene Stimme zu finden.«
Erst auf dieser Grundlage habe ich überhaupt die Charakterstärke und den inneren Raum, um in Resonanz zu gehen. Deshalb ist für Rosa auch unsere Beschleunigungs- und Reizüberflutungskultur ein Resonanzverhinderer.
In der Atmosphäre
In einer kreativen Spannung zwischen Zutiefst-bei-mir-sein und dem berührungsfähigen Antworten auf die Welt lebt auch die Erfahrung der Atmosphären. Wir alle kennen die Erfahrung einer heiteren, traurigen, aufgeladenen, angespannten oder entspannten Atmosphäre in Räumen, in Landschaften, im Erleben mit anderen Menschen. Wenn man diese Erfahrungen genauer betrachtet, sind sie ein Geheimnis, weil sie weder ganz in einem selbst zu leben scheinen, noch in den Gegenständen oder Räumen. Der Philosoph Gernot Böhme, der »Atmosphäre« als Grundlage einer ästhetischen Theorie aufgegriffen hat, schreibt: »Unbestimmt sind Atmosphären vor allem in Bezug auf ihren ontologischen Status. Man weiß nicht recht, soll man sie den Objekten oder Umgebungen, von denen sie ausgehen, zuschreiben oder den Subjekten, die sie erfahren.«
Vor einiger Zeit sah ich in einer Ausstellung »Die Straßenbahnhaltestelle« von Joseph Beuys. Eine Installation mit einer Straßenbahnschiene und einer Stele mit einem Kopf darauf. Als ich sie betrachtete, war mir das, was ich da sah, zunächst sehr fremd. Aber ich spürte eine Atmosphäre. Und in den folgenden Minuten hatte ich das Gefühl, in die Atmosphäre dieses Kunstwerkes einzutauchen, in Resonanz zu gehen. In mir stieg ein Strom von Assoziationen auf, die mit Weichenstellung im Leben, dem Treffen von Entscheidungen, mit Ankunft und Abschied, mit Auf-dem-Weg-sein zu tun hatten. Fragen, die für mich eine Bedeutung hatten. Das Kunstwerk antwortete mir. Aber was in mir angeregt wurde, war nicht nur in mir, es war auch nicht objektiv im Kunstwerk, es entstand, emergierte im Dazwischen, in dem merkwürdigen Raum, in dem Fremdheit und Nähe zusammenfließen zu der Erfahrung einer bedeutsamen, einer sprechenden Welt. Ähnliche Erfahrungen kennen viele von uns in den Atmosphären der Natur, einem dichten Wald, am Meer, im Gebirge. In solchen Erfahrungen brechen wir den Panzer eines von der Welt getrennten Ichs auf, für Böhme werden wir aber gleichzeitig einer tieferen Natur der Dinge gewahr. Er nennt es die »Ekstase der Dinge«. Die Dinge der Welt sind nicht einfach nur da, sie sind ekstatisch, sie treten aus sich heraus, sie schwingen, sie resonieren, sie antworten.
Vielleicht kann man sagen, dass Erfahrungen wie Resonanz und Atmosphäre auf das Offene hindeuten: ein offenes Selbst und eine offene Welt. Ich öffne mich der Welt, ihrer Schönheit und ihrem Grauen, lasse mich berühren, erschüttern, verunsichern, erfüllen und ich antworte mit meiner eigenen Stimme, meinem »Zeugen im Schönen«. Ich antworte einer Welt, die nicht mehr ein verschlossenes Gegen-über ist, voller Gegen-stände. Die Welt öffnet sich, sie lässt sich sehen, erkennen, spüren, gestalten, verändern. Und unsere Antwort kann wie ein Schlüssel sein, wie es Joseph von Eichendorff in seine bekannten Verse gebracht hat:
Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.
Das Konzert der Welt
Gernot Böhme führt als einen frühen Vertreter einer »Resonanzphilosophie« seinen Namensvetter, den Mystiker Jakob Böhme an. Er lebte im 16. Jahrhundert und galt Hegel als »der erste deutsche Philosoph«. Aber Böhme war eben auch und vor allem Mystiker, der in seiner Schrift »De Signatura Rerum« die Wirklichkeit als ein großes Konzert beschreibt. Jeder Gegenstand und jedes Wesen sind für ihn ein Resonanzkörper, der einen spezifischen Klang hervorbringen kann. »Ein jedes Ding hat seinen Mund zur Offenbarung. Und das ist die Natur-Sprache, daraus jedes Ding aus seiner Eigenschaft redet, und sich immer selber offenbaret, und darstellet, wozu es gut und nütz sey.« Was wir Welt nennen, ist also in dieser Vision eine Wechselwirkung zwischen klingenden Körpern, die erst im Zusammenklang ihre Bestimmung, ihren Ausdruck finden. Für Böhme ist dieser große Klang vom »Hall« Gottes durchdrungen, der dieses kosmische Konzert erst möglich macht. Für den Menschen als bewusstes Wesen besteht die Aufgabe und Möglichkeit darin, mit diesem Klang der Dinge in Beziehung zutreten, ihn in den Dingen zu erwecken, das »Zauberwort« zu finden.
In diesem Sinne ist Intimität mit dieser klingenden Welt etwas von Grund auf Aktives, Schöpferisches, ein »Zeugen im Schönen«. Es ist der Gegenentwurf zu einer Kultur des Konsumierens, des Glatten und des Gefallens. Für Jakob Böhme ist die Voraussetzung für diese schöpferische Nähe mit allem die »Gelassenheit«, womit er meinte, dass wir unserer »Ichheit absterben« und uns Gott »einergeben«. Für ihn ist aber Gott nicht getrennt von dieser Welt, sondern das Konzert der Welt ist der »Hall«, in dem sich Gott ausdrückt und schafft. Der ganze Kosmos ein heiliger Resonanzraum, in dem die Schöpfung schwingt, und jede konkrete Begegnung ein Ton in der Symphonie des Seins. In ihr erfüllt sich die Innigkeit zwischen uns und der Welt – oder eben nicht.
¬ DIE SEXYNESS IST DER MORALISCHEN SCHÖNHEIT ODER DER CHARAKTERSCHÖNHEIT ENTGEGENGESETZT. ¬ Byung-Chul Han
Klingende Nähe
Damit sich diese Innigkeit erfüllen kann, brauchen wir Raum. Eine innere Freiheit, die uns aus einer gewissen »Tyrannei der Nähe« befreit, die uns durch digitale Medien, ständige Verfügbarkeit, psychologische Selbsthilfemethoden und schnelllebige Informationen oft in kommerzieller Absicht »nahegebracht« wird. Nähe, schöpferische, lebendige, klingende Nähe braucht einen Raum, in dem sich unsere Verbundenheit zeigen, erkennen und entwickeln kann. Dia-log, das »Zwie-gespräch«, ist eine Erfahrung, in der das tiefe Ich-selbst-sein mit dem Anders-sein in einem Raum der Freiheit zu schöpferischer Verbundenheit findet. Deshalb sagt es viel über unsere Kultur, dass Dialog so selten geworden ist. Byung-Chul Han beobachtet: »Die Fähigkeit zum Dialog, die Fähigkeit zum Anderen, ja zum Zuhören verschwindet heute auf allen Ebenen.«
Bei der Arbeit an dieser Ausgabe hatte ich eine eindrückliche Erfahrung der Möglichkeit des Dialogischen. Ich rief Stephan Guber an, den Künstler, dessen Arbeiten wir in dieser Ausgabe für die Gestaltung nutzen dürfen. Ich wollte einen Telefontermin für ein Interview mit ihm verabreden. Er aber bestand darauf, dass wir uns persönlich treffen, das Thema sei doch schließlich »Intimität.« Als wir uns dann gegenübersaßen, verstand ich, was er meinte. Seine Kunst hatte mich immer beeindruckt, und doch waren sie und auch er selbst als Künstler und Mensch mir immer auch etwas fremd geblieben. Als wir uns aber in diesem Gespräch aufeinander einließen, auf die Andersheit des anderen, in wachem Interesse, im offenen Zuhören, berührten wir immer wieder diese Punkte, wo wir aus verschiedenen Blickwinkeln auf eine existenziell bedeutsame Erfahrung blickten, sie gemeinsam spürten, nachhallen ließen, zusammen ahnend die Wahrheit des Kosmos berührten. Es war ein »Zeugen im Schönen«, im Konzert der Welt, als wären wir zwei Instrumente, deren Klang einander und dem Ganzen antwortete. Einfach. Menschlich. Intim.
Author:
Mike Kauschke
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