Zum Wandel werden

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 21, 2017

Featuring:
Sonja Student
Silke Weiss
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Issue:
Ausgabe 14 / 2017:
|
April 2017
Leben lernen
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Auf dem Weg in eine lernende Gesellschaft

Sonja Student und Silke Weiß kennen die Bildungslandschaft in Deutschland nur zu gut, mit all ihren Höhen und Tiefen. Wir sprachen mit den beiden Aktivistinnen über ihre Arbeit, Visionen für eine neue Bildung, die nichts weniger ist als ein kultureller Aufbruch. Mit Beispielen aus der Praxis zeigen sie, wo dieser Wandel hierzulande schon gelebt wird.

evolve: Ihr engagiert euch in verschiedenen Bereichen für eine Erneuerung der Bildung. Könnt ihr jeweils das Kernanliegen eurer Arbeit beschreiben und wie ihr es umsetzt?

Sonja Student: Seit über 20 Jahren engagiere ich mich für die Menschenrechte für Kinder und Jugendliche, seit fast 15 Jahren für Demokratiepädagogik: dem gelingenden Hineinwachsen junger Menschen in eine demokratische Gesellschaft. Beide Themen hängen eng miteinander zusammen. Die Demokratie als Staats-, Gesellschafts- und Lebensform ist mehr als ein System. Sie basiert auf grundlegenden menschlichen Werten: Freiheit des Individuums, Solidarität und Gerechtigkeit im Miteinander, Achtung vor dem Wohl des Ganzen und des anderen, Menschenwürde und Menschenrechten. In der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 wurden diese grundlegenden menschlichen Werte und zugleich die Entwicklungsbedürfnisse aller Kinder von 0 - 18 Jahren von der Weltgemeinschaft festgeschrieben. Vorausgegangen war dem ein 10-jähriger weltweiter Dialog. Ergebnis: die bisher weitest gehende Menschenrechtsvereinbarung. Sie ist mehr als eine Erklärung; eine Konvention hat Rechtscharakter für die einzelnen Staaten, die sie ratifiziert haben. Deutschland hat das 1992 getan und seitdem haben die Kinderrechte den Status eines geltenden Bundesrechts. Ihre weitreichenden Konsequenzen sind gesellschaftlich leider immer noch weitgehend unbekannt. Sie verlangen eine andere Bildung und andere Bildungseinrichtungen. Ihr Kern ist das Subjektsein und die unveräußerliche Personalität und Würde jedes einzelnen Kindes und damit aller Kinder. Nur wenn Menschenwürde und das Wohl jedes Kindes Bezugspunkt von Sozialisations- und Bildungsprozessen ist, können junge Menschen von Anfang an eine Bindung an diese universellen Werte entwickeln, durch Erleben, Verstehen und aktives zivilgesellschaftliches und politisches Handeln, und zwar lebenslang. Ohne diese Grundlagen können wir uns in der Komplexität unserer globalen Welt nicht orientieren und Vertrauen in das Sein und Mut zum Werden entfalten und die Gegenwart und Zukunft ko-kreativ gestalten. Besondere Dringlichkeit hat dieses Anliegen in einer Zeit, in der reaktionäre Kräfte den zivilisatorischen Fortschritt nicht nur bremsen, sondern rückgängig machen wollen.

Liebe zum Potenzial

Wir müssen die universellen menschlichen Werte leben, verteidigen und offen sein für Weiterentwicklung, Veränderung und Innovation. Eltern, PädagogInnen, Politik und Gesellschaft tragen dabei eine hohe Verantwortung. Bildung muss Wesentliches in den Vordergrund stellen, Qualität und Essenz und nicht nur die Quantität von Lerninhalten und Methoden. In den Prozess der Selbst- und Welterkenntnis müssen Kinder von Anfang an aktiv einbezogen werden, denn sie sind schon immer Teil der Welt und lernen durch Teilhabe, Reflexion und Feedback, wie sie unsere Welt ko-kreativ gestalten können. Dabei sind wir heute noch weit unter unseren Möglichkeiten.

¬ Der Kern der Kinderrechte ist das Subjektsein und die unveräußerliche Personalität und Würde jedes einzelnen Kindes. ¬

Silke Weiss: Viele, die in der Bildung tätig sind, spüren eine Diskrepanz zwischen dem, was in Schulen oft passiert, und dem, was möglich ist – was man vielleicht auch selbst schon in Sternstunden erlebt hat. Ich habe meinen Fokus auf die Lehrerbildung gelegt, weil ich darin einen Akupunkturpunkt sehe, der Veränderung anstoßen kann. Denn nichts ist so wirksam wie die gelebte Haltung von LehrerInnen. Sie beeinflusst das Werteverständnis von Generationen von Schülern.

Ich stimme Sonja zu, dass es viele gute alternative Ideen und Entwürfe gibt, allerdings fehlt bisher die Durchsetzung in der Breite. In meiner Arbeit bin ich der Frage nachgegangen, warum diese Veränderung so schwer ist. Welche Faktoren lassen uns in Strukturen verharren, die nicht zu uns passen? Wie funktioniert Wandel? Durch einen integralen Blick wird klar, dass wir in verschiedenen Bereichen ansetzen sollten, damit wirklich Veränderung möglich ist: der Organisationsform Schule, der zwischenmenschlichen Kultur, den persönlichen Werten und dem Rollenverständnis von Lehrer-Sein. Welches Bildungsziel, welches Menschenbild steht im Zentrum einer neuen Ausrichtung, gleich einer höheren In-stanz, die wie ein Magnet die einzelnen Elementarmagnete in eine Richtung bewegen kann?

Durch meine Tätigkeit in der Beratung und Entwicklung von Schulen bemerke ich eine Kluft zwischen offenen, an Entwicklung interessierten KollegInnen und anderen, die an Bestehendem festhalten möchten. Je mehr Bewegung in einem System initiiert wird, umso mehr beharren Kollegien auf ihren Strukturen und richten sich an konservativen Werten aus. Eine hierarchische Organisationsstruktur, die sich zunehmend an wirtschaftlichen Gesichtspunkten orientiert, birgt in sich eine enorme Spannung. Die flexiblere Welt, in der wir heute leben, und die Kinder, für die Schule durch den verstärkten Ganztags-Unterricht zum Lebensort wird, fordern wiederum etwas ganz anderes. So bildet sich ein Stau von Veränderung, die zu durchblicken einen mehrperspektivischen Standpunkt erforderlich macht und daher ganz eng gekoppelt ist mit individueller und kollektiver Bewusstseinsentwicklung.

Netzwerke des Neuen

SSt: Auf diesen Bedarf an Veränderung antworten einige Menschen, indem sie neue, freie Schulen gründen. Das ist als Modellversuch berechtigt und wichtig. Für mich kommt es heute vor allem darauf an, dass nicht einige wenige, meist Kinder aus begüterten und gebildeten Schichten, von den notwendigen Veränderungen unserer Bildungseinrichtungen profitieren, sondern alle Kinder – unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrer Religion oder Rasse. Nicht die Vergangenheit allein darf Bildung bestimmen, sondern unsere gemeinsame menschliche Zukunft in der Einen Welt. Heute gilt es, das, was wir in einzelnen Schulen oder Netzwerke erprobt und als förderlich erkannt haben, im gesamten Bildungs- system umzusetzen. Wir brauchen einen grundlegenden Wandel und Entwicklungschancen für alle Kinder und Jugendliche. Die verschiedenen Reformbewegungen, ihre Träger und Netzwerke müssen sich zusammenschließen und auf das grundlegend Verbindende, statt nur auf das Trennende schauen. Es gibt mittlerweile viele hundert Schulen, die neue Wege gehen. Sie sind Keime des Neuen im Alten.

¬Nichts ist so wirksam wie die gelebte Haltung von LehrerInnen. ¬

Nur durch Kooperation auf der Grundlage eines klaren Wertefundaments können Verschiedenheiten fruchtbar gemacht werden und sich gegenseitig bereichern. Wir als bewusste und lernende Erwachsene in lernenden Systemen und Lebenswelten schaffen die Welt, in die Kinder hineinwachsen. Unsere Haltungen, Handlungen und unser Miteinander prägen die Heranwachsenden, wir können Kindern ein Vorbild sein und ihnen zugleich eigene Möglichkeitsräume für Selbsterkenntnis und Weltgestaltung eröffnen. Das ist eine komplexe Aufgabe, die wir immer neu ausloten müssen und dabei aus Fehlern lernen. Nur kognitive Einsicht reicht nicht – wenn wir die Einsichten nicht verkörpern, machen wir uns unglaubwürdig. Wir sind immer Vorbilder und beeinflussen andere, im Guten wie im Schlechten – wir können entgegenkommende Verhältnisse für das Aufwachsen unserer Kinder schaffen oder das Gegenteil.

SW: Damit Lehrer diese Vorbildrolle übernehmen können, sollten wir sie in der Lehrerausbildung dazu ermutigen, das eigene Potenzial zu entfalten und die eigene Persönlichkeit zu entwickeln, um aus dieser Erfahrung heraus solche Räume selbst anbieten zu können. Die Themen Empathiefähigkeit und Persönlichkeitsentfaltung tauchen bisher in der Ausbildung von Lehrern kaum auf. In meiner eigenen Arbeit habe ich die LernKulturZeit als Erfahrungsraum konzipiert, in dem Lehrer diese und andere Fähigkeiten sozusagen »nachlernen« und durch einen persönlichen Transformationsprozess in eine Kultur der Potenzialentfaltung hineinwachsen können.

Eine Kultur des Lernens

e: Worauf ihr hindeutet, ist auch eine neue Lernkultur im umfassenden Sinne, dass also Lehrer und Schüler und die gesamte Gesellschaft zu einer Lerngemeinschaft, einer lernenden Gesellschaft werden, in der wir alle Lernende sind und uns dabei unterstützen. Es geht also auch um ein anderes Verständnis von Lernen in unserer Gesellschaft.

SSt: Ja, der Zweck der Schule bei uns ist, dass Kinder ihr Potenzial in einer demokratischen Gesellschaft in der Einen Welt entfalten können. Kinder brauchen dafür Erwachsene, die ihnen diese Möglichkeitsräume zur Verfügung stellen und klare menschliche Werte verkörpern. Das können sie nur, wenn sie selbst Lernende sind. Die innere und äußere Evolution macht nicht bei uns halt. Das erfordert eine Haltung für jeden einzelnen Menschen und für jede menschliche Gemeinschaft, sei es die Familie, ein Unternehmen, eine Kita, Schule oder außerschulische Einrichtung.

SW: Lebenslanges Lernen ist hier ein viel zitiertes Stichwort. Schule sollte vermitteln, dass wir als Gesellschaft immer noch lernen, und dass Schulbücher nicht der Weisheit letzen Schluss enthalten. Gerade in der Wissenschaftsgeschichte gibt es viele Beispiele dafür, dass sich unser Kenntnisstand an dem orientiert, was für uns möglich erscheint. Durch eine neue Beobachtung kann sich ein ganzes Weltbild verändern. Schüler darauf aufmerksam zu machen, dass wir ständig Neues entdecken, erhält die Neugier auf die Welt und das, was wir noch nicht wissen. Lebenslanges Lernen beginnt also in der Lehrerbildung. Offen zu sein für Neues ist eine vorgelebte Haltung. Meine Vision ist es langfristig, ein Studium für LehrerInnen zu konzipieren, das diese Haltung vermittelt.

Wenn wir uns bewusst werden, welche Möglichkeiten wir haben, in Schulen neue Impulse zu setzen und uns dann auf das große Ganze ausrichten, eröffnet sich eine ganz neue Vision für die Bildung und ihre wichtige Rolle bei der Schaffung einer nachhaltigen, lernfähigen, innovativen Kultur. Dann können Schulen die Orte sein, an denen man sein will, weil dort die Zukunft kreiert wird. Es gibt schon viele Projekte, die sich dieser Aufgabe verschrieben haben, vielerorts dämmern neue Impulse auf.

Author:
Mike Kauschke
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