Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
November 2, 2021
Die meisten unserer Lebensbereiche unterliegen heute einer Logik der Vermarktung. Doch viele unserer Bedürfnisse bleiben dabei unerfüllt. Neue Projekte und private Initiativen versuchen, diese Abhängigkeit zu durchbrechen. Sie fragen, was wir wirklich brauchen. Und sie entwickeln innovative Modelle für eine selbstbestimmte Daseinsfürsorge, bei der Mensch, Natur und Technologie regenerativ zusammenwirken.
Manchmal trifft einen die Erkenntnis, wie sehr man in unhinterfragten Vorstellungswelten lebt, aus heiterem Himmel. »Viele der Dinge, von denen wir glauben, dass wir ihnen unterworfen sind, sind eigentlich nicht Teil unserer Natur«, sagt der Anthropologe James Suzman. Für ihn kam das Aha-Erlebnis, als er in Afrika die Lebensweise der Ju/’hoansi erforschte, einem Stamm von Jägern und Sammlern, der sich seine traditionelle Lebensweise zumindest in abgeschiedenen Regionen Namibias bis heute bewahrt hat. Die Ju/’hoansi leben von der Hand in den Mund und in den Tag hinein. Was wir Arbeit nennen, bedeutet für sie, auf die Jagd zu gehen und Pflanzen zu sammeln, Pfeile und Bogen zu bauen oder aus Tierhäuten Kleidung herzustellen. Was sie brauchen, machen sie selbst und brauchen dafür gerade einmal 15 Stunden in der Woche. »Das Überzeugendste an dieser Untersuchung war, dass sie nahelegte, dass das ›wirtschaftliche Problem‹ (John Maynard Keynes) nicht ›das Hauptproblem der menschlichen Rasse seit Anbeginn der Zeit‹ war. Die Jäger und Sammler hatten nur wenige Bedürfnisse, die leicht befriedigt werden konnten«, so Suzman. Für den Anthropologen ein Wachmacher dafür, dass die Ökonomie, wie wir sie heute kennen, und der Markt, der unser aller Leben bestimmt, einer falschen These folgen: »Unsere derzeitigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Modelle sind keine unvermeidliche Folge der menschlichen Natur, sondern ein Produkt unserer (jüngsten) Geschichte. Dieses Wissen könnte uns die Möglichkeit geben, die Art und Weise, wie wir mit unserer Umwelt und miteinander umgehen, mit mehr Fantasie zu verändern. Da der Homo sapiens 95 Prozent seiner Geschichte mit Jagen und Sammeln verbracht hat, ist sicherlich noch ein wenig von der Jäger- und Sammler-Psyche in uns allen vorhanden.«
Damit trifft Suzman etwas, denn genau diese Psyche scheint inzwischen zu rebellieren. Man muss keinen Burnout haben oder in David Graebers Buch »Bullshit Jobs« lesen, um zu hinterfragen, ob unsere Arbeitswelt wirklich lebensdienlich ist. Millionen Berufstätiger investieren ihr auf dem Arbeitsmarkt verdientes Geld im Supermarkt in teures plastikverpacktes Convenience Food, um so im Job verlorene Lebenszeit am heimischen Herd wieder rauszuholen. Wie eine frisch geerntete reife Tomate schmeckt, haben sie längst vergessen. Vieles von dem, was unsere Daseinsfürsorge ausmacht, ist heute durchökonomisiert. Für Geld können wir kaufen, was wir zum Leben brauchen. Das klingt nach Freiheit. Götz Werner, Vordenker des Grundeinkommens, spricht allerdings von einer »Scheinautarkie«. Denn die gefühlte Unabhängigkeit stößt schneller an Grenzen, als uns lieb sein kann. Wenn im Auto die Warnleuchte der Handbremse aufleuchtet, können wir nicht mal schnell zum günstigen Schrauber um die Ecke oder gar selbst Hand anlegen. Wir müssen in die teure, vom Händler lizenzierte Fachwerkstatt, weil nur sie die Software hat, um die Daten des Bordcomputers auszulesen und ihn nach der Reparatur zurückzusetzen. Der Philosoph Byung-Chul Han würde sagen, dass wir in solchen Momenten Opfer der »verführenden Macht des Neoliberalismus« sind: »Statt Menschen gefügig zu machen, versucht sie, sie abhängig zu machen.«
Tiny Farms versorgen Städte effizient und ökologisch mit Lebensmitteln.
Viele Menschen haben diese Abhängigkeit satt. Wo der Markt Lebensbereiche fragmentiert, die in früheren Gesellschaften noch ein Ganzes bildeten, versuchen neue Initiativen und private Aufbruchsbewegungen sich vorzustellen, wie die Dinge auch gänzlich anders, nährend und lebensfördernd sein könnten. Sie fragen beispielsweise: Wie können wir eine Landwirtschaft gestalten, die die Menschen unkompliziert mit gesunden, regionalen, umweltverträglich produzierten Lebensmitteln versorgt? Wie können wir Gebrauchsgegenstände herstellen, die robust sind und sich reparieren lassen? Wie können wir unser Leben so entfalten, dass wir nicht zwischen Arbeit und Familie, zwischen Selbstfürsorge und Engagement hin- und hergerissen sind? Ihre Ideen erwachsen aus dem Sinn für die regenerative Verbundenheit unserer Lebensbereiche, der den größten Teil unserer Kulturgeschichte prägte und in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere in den westlich-modernen Gesellschaften zusehends verschüttet wurde. Sie brechen das Denken auf, das zuerst danach fragt, was dem Markt dient. Und sie stellen stattdessen wieder den Menschen mit seinen authentischen Bedürfnissen ins Zentrum ihrer Überlegungen.
Diese Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen, ist gar nicht so einfach. Denn die neoliberale Wohlstands-Erzählung hat sehr erfolgreich ein in sich geschlossenes System geschaffen. Wo Vollzeiterwerbstätigkeit als Zentrum des Wohlergehens gesetzt wird, sind die Gravitationskräfte groß und ziehen auch andere Lebensbereiche in die Logik der Vermarktung hinein. Lebensmittel besorgen, Mahlzeiten zubereiten, sich um die Kinder oder Familienangehörige kümmern – am Anfang unserer menschlichen Geschichte lebte diese Daseinsfürsorge noch aus einem vitalen Beziehungsnetz, und diese Tätigkeiten verbanden Menschen miteinander, mit den Ressourcen, die sie nutzten, und mit ihrem Lebensraum. Online-Shopping, Fertigprodukte oder Ganztagsbetreuung mögen oberflächlich betrachtet sehr effizient sein, doch höhlen sie diese menschlichen Verbundenheiten aus. Die wachsenden Burnout-Raten in westlichen Volkswirtschaften sind vielleicht nicht nur Folge von steigendem Stress, sondern auch ein Hinweis darauf, dass hier etwas auseinandergerissen wird, das eigentlich zusammengehört. In aktuellen Studien bekundet die Hälfte der Berufstätigen in Deutschland, dass sie ihre Arbeitszeit gerne reduzieren würde, jede:r Fünfte davon sogar um mehr als zehn Wochenstunden. Sie wünschen sich mehr echtes Leben anstelle eines gekauften.
Das Downshiften wird hier zur Detox-Kur. Freie Zeit lässt auch das Denken freier werden. Und in den gewonnenen Freiräumen tun sich neue Handlungsfreiheiten auf. »Ich bin achtsamer mit mir selbst geworden, habe aber noch nicht die Kraft gefunden, mich an meinem freien Tag gemeinnützig zu engagieren. Ich würde gern noch weniger arbeiten, um mich stärker sozial in meiner Umwelt einbringen zu können«, erzählt Elli, die nur noch vier Tage in der Woche ins Büro geht, in einer Umfrage der »Zeit«. Sebastian, Programmierer und Vater, sagt: »Beim Gehalt muss ich Abstriche hinnehmen. Ich komme trotzdem klar, da ich sehr sparsam lebe und wenig konsumiere. Für mich persönlich hat die Zeit für Familie und Freunde sowie das Engagement für Projekte einen größeren Wert als materielle Dinge.« Menschen werden sich dessen wieder bewusst, was sie zum Leben wirklich brauchen. Auf YouTube kann man dabei zusehen, wie neue Lebensstile entstehen, die nicht nur das persönliche Wohlbefinden verbessern, sondern auch den ökologischen Kollateralschäden des Marktes entgegenwirken. Wer braucht noch Tetrapaks, wenn er Zeit hat, seine Pflanzendrinks aus Haferflocken oder Nüssen selber zu machen? Secondhand-Kleidung spart nicht nur viel Geld, sondern reduziert auch den Verbrauch von Rohstoffen und Chemikalien. In ein Tiny House zu ziehen, senkt Heizkosten und den Aufwand für die Haushaltsführung dramatisch. Wenn man selbst daran mitbaut, gibt es das unschlagbare Gefühl von Selbstwirksamkeit gratis dazu. Die marktwirtschaftliche Ausbeutung von Ressourcen, von Mensch und Natur, weicht hier einem wieder erstarkenden Sinn für eine regenerative Lebensgestaltung und die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen, wie sie den größten Teil unserer zivilisatorischen Geschichte prägten.
Diese Sehnsucht nach mehr Gestaltungsfreiheit macht auch vor einem Grundprinzip des Marktes, der Trennung von Produzenten und Konsumenten, nicht halt. Marcin Jakubowski, von vielen als »Held der Disruption« gefeiert, fordert mit seinem Projekt »Open Source Ecology« die Industrie alter Schule heraus. Sein Ziel: all die Maschinen, die für ein modernes Leben notwendig sind, im 3D-Druck selbst zu bauen. Seine Geschichte als Farmer in Missouri gleicht der vieler frustrierter Verbraucher, die sich Herstellern hilflos ausgeliefert fühlen, weil teuer bezahlte Geräte ihr Verkaufsversprechen nicht erfüllen. Er erzählt: »Ich kaufte einen Traktor. Dann ging er kaputt. Ich zahlte für die Reparatur. Er ging wieder kaputt. Recht bald ging mir das Geld aus. Ich brauchte robuste, modulare Werkzeuge, hocheffizient und optimiert, kostengünstig, aus regionalen und wiederverwerteten Materialien, die ein Leben lang halten und die nicht auf Obsoleszenz ausgelegt sind.« Der von ihm in nur sechs Tagen gebaute Traktor kostet in der Herstellung nur ein Fünftel des Marktpreises. Und man kann ihn selbst reparieren, wenn er mal streikt. »Die große Frage ist doch: Wie schaffen wir eine Ökonomie, die für alle sorgt? Hier kommen Zusammenarbeit und Open Source ins Spiel. Mit dem ›Global Village Construction Set‹ wollen wir 50 Maschinen entwickeln, mit denen sich eine moderne Zivilisation aufbauen lässt. Das wahre Versprechen der Technologie ist Selbstbestimmung, Freiheit und Wohlstand für alle«, so Jakubowski. Sein Vorstoß demokratisiert den Zugang zu Produktionsmitteln. Mit den frei erhältlichen Bauplänen für Mikrohäuser oder Generatoren können bisher unmündig gehaltene Verbraucher zu Schöpfern neuer Lebens- und Arbeitswelten werden. Sie kaufen nicht mehr einfach das, was es eben gibt, sondern bauen das, was sie sich vorstellen und was in ihren Augen zu einem besseren Leben beiträgt.
Dezentral zu produzieren und dabei möglichst viele Menschen zu beteiligen, ist auch das Anliegen des Start-ups »Tiny Farms«. Der Agrarwissenschaftler Tobias Leiber und der Ökonom Jacob Fels wollen ein Gegenmodell zur landwirtschaftlichen Großproduktion schaffen, die lange Transportwege mit sich bringt und selbst beim Bioanbau – man denke nur an die riesigen Foliengewächshäuser im spanischen Almeria – oft schädlich für die Umwelt ist. Ihre Idee: »Tiny Farms setzt auf Kostenreduktion und Flexibilisierung durch die radikale Minimierung von Flächenbedarf und Investitionen. Mit unserem biointensiven Anbau entwickeln wir auf nur einem halben Hektar einen tragfähigen Betrieb. Mit einem light-tech Ansatz minimieren wir Investitionskosten und benötigen kaum fossile Treibstoffe, arbeiten äußerst bodenschonend und mit hoher Flächeneffizienz.« Durch die Vernetzung mehrerer Farmen können die Tiny Farms auch die Wünsche größerer Abnehmer bedienen. Angebaut wird, was die Kunden, darunter Schulkantinen und Lebensmittelgeschäfte, zuvor bestellt haben. Ihre eigene Farm gründeten Leiber und Feld im brandenburgischen Fürstenwalde. Eine zweite mit sechs Neu-Farmern, die an der eigenen Akademie von Tiny Farms ausgebildet werden, ist bereits im Aufbau, und mittelfristig soll das Projekt auf ganz Deutschland ausgeweitet werden. So können Lebensmittel dort wachsen, wo sie auch gegessen werden, und kleine Flächen in Stadtnähe lassen sich produktiv nutzen. Man fühlt sich fast ein wenig an die Ju/’hoansi erinnert, die das, was sie zum Leben brauchen, auch in ihrem unmittelbaren Lebensraum finden.
Vieles von dem, was unsere Daseinsfürsorge ausmacht, ist heute durchökonomisiert.
Womöglich brauchen wir gar nicht allzu viel Fantasie, um uns vorzustellen, wie ein Wirtschaften aussehen könnte, das unserem Leben wirklich dient und dabei unsere Umwelt nicht zerstört. Der Anthropologe James Suzman erzählt: »Ein Jäger sagte einmal zu mir: ›Die Jagd macht mein Herz glücklich, meine Beine schwer und meinen Bauch voll.‹ Diese Fähigkeit, effizient zu arbeiten und unsere Fertigkeiten einzusetzen, ist Teil unseres evolutionären Erbes.« Wir haben heute immer noch einen Sinn dafür, was unserem Leben gut tut (und was nicht). Und wir haben mehr denn je die Mittel und Möglichkeiten, eine entsprechende Lebensweise zu verwirklichen. Wo der allumfassende Mythos des Marktes brüchig wird, tun sich neue Öffnungen auf. Und wir erkennen, dass die Ökonomisierung all unserer Lebensbereiche nicht der einzige Weg ist, in dieser komplexen Welt zu leben. Neue Technologien und Formen des Miteinander-Wirkens lassen uns auf völlig neue Art zu Gestaltenden werden. Das Bild einer Zukunft, die uns und unsere Mitwelt nährt statt zu zerstören, die Menschen aufblühen lässt anstatt sie abhängig zu machen, ist in seinen Umrissen schon erkennbar. Und wir alle können Co-Schöpfende sein.