Brennende Sehnsucht

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

July 21, 2016

Featuring:
Prof. Dr. Claus Eurich
Sebastian Painadath
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Ausgabe 11 / 2016:
|
July 2016
Lebendigkeit
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Wo Gott lebt

Lebendigkeit hat viele Facetten. Die wurden beim diesjährigen Heiligenfeld-Kongress unter dem Motto »Spiritualität im Leben« auch auf ihre Tiefendimension hin erforscht. evolve-Redakteur Mike Kauschke war dort und spürt in Reflexionen und Interviews mit Sebastian Painadath und Claus Eurich der spirituellen Wandlungskraft von Lebendigkeit nach.

 

Was ist Lebendigkeit? Jeder von uns hat wahrscheinlich eine spontane Reaktion, wo wir Lebendigkeit suchen und versuchen. Und wenn man sich bei Menschen umschaut,die sich dem Thema vertieft gewidmet haben, dann findet man ganz verschiedeneZugänge zu der Frage, was Lebendigkeit eigentlich ist. Geht es um dieVerlebendigung unseres Körpers, um die ihn durchströmende Lebenskraft undinnere Weisheit wiederzufinden, die uns ein wirklich verkörpert präsentes Lebenermöglicht? Oder um die Wiederverbindung mit unserer emotionalen Lebendigkeit,dem Spüren, dem Empfinden in seiner ganzen Fülle und poetischen Kraft?Vielleicht wollen wir auch ein lebendiges, kreatives Denken entwickeln, in demwir nicht nur den konditionierten Denkmustern folgen, sondern uns öffnen fürdie Frische neuer Erkenntnis. Und wenn wir es gemeinsam tun, erleben wir dieLebendigkeit des Dialogs, eine Form inter­subjektiver Lebendigkeit. Es wirdschnell klar, wie vielschichtig Lebendigkeit sein kann, und dass wir uns bei Gesprächen darüber auch klar sein müssen, worauf wir uns beziehen.

Meineigenes Nachdenken und Nachspüren über diese Frage wurde auch durch meineBegegnungen während des diesjährigen Heiligenfeld-Kongresses in Bad Kissingen inspiriert. Im Laufe der Jahre ist dieses »Kongress-Erlebnis« zu einemlebendigen Forum im Umkreis einer progressiven Spiritualität geworden. DiesesMal vertieften sich die über tausend Menschen in ein Thema, das sehr viel mitden verschiedenen Dimensionen von Lebendigkeit zu tun hat: »Spiritualität imLeben«. Die vielen Aspekte oder Ausdrucksformen von Lebendigkeit wurden währenddes Kongresses, so könnte man vielleicht etwas verkürzt sagen, auf ihre spirituelle Tiefe hin erforscht – inwieweit sie uns also mit einemübergreifenden Ganzen verbinden und daraus Orientierung geben können. Meineeigenen Reflexionen wurden vor allem auch durch Interviews, die ich im Rahmender Konferenz führen konnte, angeregt. Mein Gespräch mit Joachim Galuska, demMitinitiator des Kongresses, über seine Erfahrung einer Spiritualität desLebens, lesen Sie auf Seite 46. Daneben waren es vor allem die Begegnungen mitdem Jesuitenpater Sebastian Painadath und dem Kontemplationslehrer ClausEurich, die für mich das Verständnis von Lebendigkeit vertieft haben: als Ausdruck der Verbundenheit mit einem uns übersteigenden und umfassendengrößeren Leben.

MystischeLebendigkeit

Denn alle Formen von Lebendigkeit haben auch etwas gemein: Sie deuten auf einetiefere Verbundenheit, vielleicht sogar Einheit mit dem Leben hin. Unser Wesenals Mensch und damit unser Körper, unser Fühlen, unser Denken, unsere Intuitionusw. können erfüllt und Ausdruck von Leben sein oder aber betäubt, abgestumpft,eingefahren, tot in dem Sinne, dass wir im Gleichen verharren und denMorgenwind des Lebens nicht mehr spüren.

Denn eine Erfahrung in der Verbundenheit mit dem Leben ist, dass wir eine Verwandlungskraft spüren, dass in Körper, Fühlen oder Denken plötzlich eineschöpferische Bewegung erwacht oder zu sich kommt, die uns zu einemAnwesendsein führt, das wir so noch nicht kannten. Es ist die Kraft, die wirjedes Jahr im Frühling auch in der Natur erwachen sehen. Und Lebendigkeit wird für uns, die wir uns von der Natur so weitgehend entfremdet haben, auchbedeuten, dass wir uns existenziell wieder mit dieser Lebendigkeit verbinden –die wir ja selbst sind. Wir sind Natur, der Frühling ist in uns, wenn wir ihnzulassend spüren.

Indem du dich sehnst, bist du Teil dessen, wonach du dich sehnst. Claus Eurich

Aber solch eine existenzielle Durchdringung des eigenen­ Wesens mit dem Strom vonLebendigkeit ereignet sich auch noch woanders, an einem inneren Ort, dervielleicht noch etwas geheimnisvoller ist. Weil ein Leben in uns einbricht, daswir bisher nicht kannten und das uns zu etwas ruft, das wir nie kennen können.

In Gesprächen empfinde ich es immer als einen besonderen Moment, wenn man überErfahrungen solch eines Einbrechens einer Lebendigkeit spricht – man könnte sie vielleicht als mystische Lebendigkeit bezeichnen. Es kann ganz leise sein, einFlüstern im Innern, oder ein mächtiges inneres Sehnen. Man spürt: Es gibt mehrin diesem Leben, als ich bisher kannte. Es ist der Geschmack einer Einheit mit dem Ganzen des Lebens, die alle Aspekte meines Wesens umfasst und in einenvöllig neuen Sinnhorizont stellt.

Gebärende Gottes

Dieses umgreifende Ganze des Lebens würde der indische Jesuitenpater SebastianPainadath wohl als Gott bezeichnen. In seinem Vortrag und dem Interview, dasich anschließend mit ihm führen konnte, stellte er klar, dass dieses Wort (undvergleichbare aus allen Religionen) tot ist, wenn wir es nicht verlebendigen,dynamisieren oder vielmehr an die Dynamik der ursprünglichen Erfahrungrückbinden.

Diese Rückbesinnung auf den Kern jeder Spiritualität ist für ihn auch der eigentlicheAusgangspunkt eines interreligiösen Dialogs, den Sebastian Painadath in einemvon ihm gegründeten Ashram in Indien lebt. Erstarrte Vorstellungen über dasGöttliche trennen uns, die lebendige Erfahrung dieser tiefstenSeinswirklichkeit verbindet uns. Wir werden zu mitpilgernden Schwestern undBrüdern, wie er es nennt. Und: Pilger sind immer unterwegs, in Bewegung, imWerden.

Im Kern jeder mystischen Erfahrung steht für ihn eine Lebendigkeit, eineSchwingung, eine Dynamik. Selbst den Begriff der Leerheit oder Sūnyata, der imBuddhismus so wichtig ist, deutet er als die Erfahrung eines lebendigenBewusstseinsstromes: »Dieses Wort stammt aus der Sprachwurzel swi, die bedeutet: anschwellen, sich weiten, bewegen. Sūnyata bedeutet also ungeheure Seins­dynamik: Alles ist in Bewegung – dies wardie tiefste Erkenntnis des Buddha bei seiner Erleuchtung. Es gibt nichts, was steht. Alles ist im Werden, in einem Fließen. Sein ist im Prozess. Dinge alsstatische Einzelheiten zu betrachten, ist letztlich eine Täuschung derSinneswahrnehmung und des Verstandes. In dieser Seins­dynamik ist alles mitallem tief verbunden.«

Der mystische Weg ist für Sebastian Painadath der Weg zur Erfahrung dieserSeinsdynamik und die Entwicklung und Verfeinerung eines Wahrnehmungsorgansdafür: der sakrale Raum des Herzens, in dem wir lernen, mit dem »Herzensauge«zu sehen – ein Sehen, das durch die Lebendigkeit des Seins erleuchtet ist: »Dadas alles tragende, alles belebende, alles durchdringende EineSeinsdynamik ist, ist diese mystische Einheitserfahrung eigentlich eindynamischer Vorgang. Es geht nicht einfach um eine statische Innewohnung Gottesim Menschen, sondern um eine dynamische Durchdringung, eine Perichorese,ein Hineinwachsen, ein Ausfließen, ein Durchlichtetwerden.«

Sebastian Painadath geht diesen Weg mystischer Verwandlung. In einer erfrischendenEinfachheit, einer warmherzigen Präsenz saß mir ein Mensch gegenüber, der nachmeinem Empfinden niemand sein will, sondern einfach ist. Und dadurch anderen die Berührung mit dem großen Geheimnis des Lebens eröffnet.Die Qualität, die sein Sein für mich am besten beschreibt, ist Hingabe. Manspürt es doch, wenn ein Mensch nicht (mehr) für sich lebt, sondern für eingrößeres Umfassendes.

Besonders berührt hat mich auch, wie Pater Painadath diese mystische Lebendigkeit inunser konkretes Leben »übersetzt« und darin einen ethischen Kern aller spirituellen Traditionen aufspürt. Im Grunde macht er uns für das Leben Gottesverantwortlich. Er fasst es in das Wort der Barmherzigkeit und beschreibt dieseHaltung so, dass wir »zu Müttern Gottes« werden. Denn Barmherzigkeit bedeutet für ihn, dass wir Gott im Leben des anderen Menschen gebären. Damit werden wirzu Mitgebärenden Gottes. Hier führt Painadath den Ruf innerer Wandlung in eine auch erschütternde Tiefe: »Mit uns und durch uns gestaltet der Geist eine neueSchöpfung.« Spiritualität wird so radikal mitten ins Leben gestellt und wir mitten in ein spirituelles Leben. Und es erweckt, verstärkt, fordert einemystische Hingabe, eine brennende Sehnsucht nach Gott, mit der jeder innere Wegbeginnt – und auf die er letztlich vielleicht auch hinstrebt.

Gerufen werden

Mit dieser Sehnsucht begann auch Claus Eurich seinen Vortrag. Für ihn eine Art Grundkategorie jedes inneren Weges – Anfang, Weg und Ziel in einem: »In derSehnsucht zu leben heißt, bereits angekommen zu sein. Wenn du denSehnsuchtsraum betrittst, betrittst du deine Heimat. Indem du dich sehnst, bistdu Teil dessen, wonach du dich sehnst.« Claus Eurich, der Professor fürKommuniaktionswissenschaft und Kontemplationslehrer, ist zu einer – im bestenSinne – tonangebenden Stimme der Heiligenfeld-Kongresse geworden. Für mich auchdeshalb, weil er sich nicht scheut, uns herauszufordern, zu provozieren. Dennso erleben wir doch auch den Ruf des Lebens an uns – als eine Provokation. Wennim eigenen Wesen die Sehnsucht nach dem Göttlichen, dem großen Geheimnis,erwacht, stehen wir vor der größten Provokation. Etwas in uns beansprucht einLeben, von dem wir dachten, es stehe uns zur Verfügung. »Das Leben erwacht inuns zu seiner eigenen Entwicklung«, sagt Eurich. In einem ganz krassen Sinnehat Spiritualität nichts mit uns zu tun, aber alles mit der Sehnsucht, diedurch uns zu sich selbst kommt. Sich ihr hinzugeben, ist schon die Erfüllung.Und, so sagen uns die Meister der Mystik, diese Sehnsucht ist ein brennendesVerlangen nach Vereinigung, das letztlich unseren Tod fordert, damit wir neugeboren werden können. »Stirb auf deinem Kissen – und steh neugeboren wieder auf«, so beschreibt es Claus Eurich in Anlehnung an ein Zen-Wort. In einerZeit, wo echte innere Sehnsucht mit Wellness und Wunschdenken, Selbsthilfe und Selbstoptimierung vermischt (und oft auch betäubt) wird, ist es letztlichheilsam, sich auf die Radikalität einer lebendigen Mystik zu besinnen. Das tut Claus Eurich immer wieder. Denn: »Es geht nicht um Beschaulichkeit, es geht umTransformation, um Umschmelzung.«

Gottes Geistwirkt in uns, verwandelt unser Leben immer neu und führt uns in einVerwandlungsgeschehen. Sebastian Painadath

Aber Claus Eurich geht noch einen Schritt weiter. Und dieser Schritt ist vielleichtheute wichtiger denn je. Und etwas, was ich in Gesprächen mit ihm immer sehrwertschätze. Es ist der Ruf nach einer Verantwortung für das Leben, die sichaus einer tiefen Hingabe speist: »Jede Form von Spiritualität, die sich nichtausformt in der Haltung, mit der du dem Leben gegenüberstehst, dich ihm öffnestund hingibst, ist nichts weiter als eine sentimentale Regung.« Aus diesemAnliegen heraus hat er ein neues Buch geschrieben, das er »Aufstand für dasLeben« nennt. Auch dieses Buch ist eigentlich eine Provokation, eine Forderung,sich auf die Seite des Lebens zu stellen. Aber was bedeutet das?

Dem Leben antworten

Zunächst einmal die Erkenntnis, dass wir Teil eines wirtschaftlich­- industriellenSystems sind, das dem Leben keinen eigenen Wert beimisst, sondern es zum freien Gebrauch freigibt. Und obwohl uns die Folgen wie der Klimawandel oder dieVerschmutzung der Meere immer bewusster werden, finden wir zu keinemkonsequenten Handeln. Einen Grund sieht Eurich darin, dass wir uns auch inunserer Ethik nicht des Eingebundenseins in das Ganze des Lebens bewusst sind.Von den Menschenrechten müssten wir nun den Schritt zu den Lebensrechten gehenund das Leben und damit alle Lebewesen, die mit uns diesen Planeten teilen, als schützenswert betrachten. Eine Idee dazu wäre ein Erd-Parlament oder einErd-Rat, »in dem das Leben in seiner Vielfalt repräsentiert ist. Dort müssendie Kinder mit einer Stimme sitzen, müssen die Pflanzen, die Tiere und dieElemente mit einer Stimme sitzen, also alles das, was sich auf dieser Erdezusammengefunden hat, in dem, was wir Leben nennen. Natürlich durch uns Menschen repräsentiert, das geht nicht anders. Denn, und diesen Stellenwertbillige ich uns zu, durch uns erkennt sich das Universum selbst. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen.« Diese Verantwortung beginnt aber ganzkonkret im Alltag, wo ein praktischer Schritt für Eurich eine vegetarischeLebensweise ist, denn »dass wir Leben einfach besinnungslos verbrauchen undallein in Deutschland jedes Jahr 60 Millionen Schweine, hochsensible und intelligente Wesen, unwürdig gehalten und geschlachtet werden, nur um unserenGenussbedürfnissen gerecht zu werden – das geht nicht.«

Diese Verantwortung ist für Eurich aber kein moralischer Anspruch, sie ist lebendignur aus der Hingabe an das Leben: »Wenn du das Leben nicht wirklich von innen heraus verstehst, empfindest und wirklich zutiefst liebst, bleiben alleVersuche des Ethischen eine Äußerung der Moral.« Von dieser ethischenLiebeskraft spricht auch Sebastian Painadath: »Wenn wir die göttlicheSchwingung im Herzensraum wahrnehmen und uns aus dieser Wahrnehmung demLeidenden zuwenden, dann fließt eine göttliche Liebesenergie durch uns, diesich heilend auswirkt.«

Lebendigkeit erfüllt sich letztlich wohl erst in dieser radikalen Liebe zum Leben, die zuverwandelndem Tun wird. Und in der Erkenntnis und Erfahrung, dass dieses Leben,unser Leben, Ausdruck einer umfassenden kosmischen Entfaltung ist: »Das Projekt›Erde‹ ist Leben – und auch dieses Leben ist nur Ausdruck eines noch größerenLebens. Wir haben noch nicht verstanden, was uns hier gegeben ist und wessenevolutionär gestaltender Teil wir sein dürfen«, sagte mir Claus Eurich inunserem Gespräch. Und ­Sebastian Painadath beschrieb die innere Verwandlung,durch die wir zu diesem größeren Leben erwachen können, so: »Gottes Geist wirktin uns, verwandelt unser Leben immer neu und führt uns in einVerwandlungsgeschehen. In uns erleben wir diese Wandlung als Vergöttlichung desMenschen, wenn also unser Leben am göttlichen Leben teilnimmt. Und dieserdynamische Verwandlungsprozess vollzieht sich in der ganzen Schöpfung.« DieSehnsucht nach dem Geheimnis des Lebens ist der Ruf, sich in diese Wandlung zubegeben. Wenn wir ihm antworten, haben wir teil an der Lebendig­keit, die denKosmos durchströmt und über sich hinauszieht.


Author:
Mike Kauschke
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