Denn das Erhabene berührt

Our Emotional Participation in the World
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Essay
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July 16, 2020

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Ausgabe 27 / 2020:
|
July 2020
Schönheit
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Im ästhetischen Zustand

Zu Beginn der Moderne, als der rationale, technisierte Bezug zur Welt seinen Siegeszug antrat, gab es auch den Aufbruch eines schöpferischen Denkens, dem die Bewahrung des Schönen ein Herzensanliegen war. Was können wir heute von den Dichtern und Denkern der Klassik, des Idealismus und der Frühromantik über die Bedeutung der Schönheit und des Erhabenen lernen?

Bei der Arbeit an dieser Ausgabe von evolve hat mich ein Satz des Theologen und Dichters John O’Donohue begleitet: »When we walk on the earth with reverence, beauty will decide to trust us.« Übersetzt etwa: »Wenn wir mit Ehrfurcht auf der Erde leben, entscheidet sich die Schönheit, uns zu vertrauen.« Mich berührt, wie in dieser Aussage eine Haltung der Ehrfurcht, des Respekts, der Andacht und Ehrerbietung – wie man reverence ins Deutsche übertragen kann – mit dem Wahrnehmen, dem Vertraut-werden mit dem Schönen verbunden wird. Dieser Satz wirkt für mich wie ein Koan und immer wenn ich ihn mir ins Bewusstsein rufe, zum Beispiel beim Gang durch die Natur, spüre ich, wie sich in einem Blick, in dem Ehrfurcht liegt und lebt, die Schönheit einer Landschaft, eines Blattes, eines Baumes, eines Hauses, eines Tieres, eines Menschen zeigt, sich entschließt, sich anzuvertrauen.

Und mir wurde auch klar, wie fremd mir die Worte Ehrfurcht, Respekt, Andacht, Ehrerbietung sind. Sie erklingen wie aus einer geistigen Ferne, einer Vergangenheit, in der noch etwas in unserer Wahrnehmung war, vor dem wir uns verneigen wollen. Eine spürbare Größe des Ganzen, ein Geheimnis, das uns durchweht und unser ganzes Sein umfasst, uns atmen lässt, der Ursprung und Grund unserer Existenz, namenlos, unbeschreibbar. In der Nähe dieser Berührung durch das Mysterium unserer Existenz werden wir still und schauen: Alles Sein zeigt sich uns als ein Geschenk, durchwoben von einer unergründlichen Schönheit.

Solche Erfahrungen haben in unserer gegenwärtigen Kultur kaum Raum. In der westlichen Welt haben wir Gott als eine Chiffre für dieses Geheimnis aus dem Blick gedrängt und die Welt entzaubert. Wir haben sie uns gefügig gemacht, haben sie bewohnt und gestaltet, erobert und instrumentalisiert und vielerorts zerstört. Man könnte sagen, dass der fehlende Respekt vor der Natur als dem Lebendigen, das wir sind und das uns umgibt, nährt und trägt, eine Kernursache unserer ökologischen Krise ist.

Wenn uns aber dieser Respekt fehlt, verbirgt sich die Schönheit im Lebendigen, in unseren Mitmenschen, in der Welt und in uns selbst vor uns. Die Schönheit vertraut uns nicht mehr und wir nehmen sie nicht mehr wahr, sind ihrer nicht mehr würdig, nicht mehr vertrauenswürdig. Wie nach einem verlorenen Paradies suchen wir die Schönheit in Dingen, in intensiven Erfahrungen, in Beziehungen, im Konsum, aber auf diesem Weg können wir das Herz des Schönen nicht berühren.

Die große Entzauberung

Der berechnende, besitznehmende, technisierende, zerteilende Blick auf die Wirklichkeit, der die tiefere Bedeutung des Schönen in Vergessenheit geraten ließ, war eine Folge des Aufbruchs eines rationalen Bewusstseins mit seinem wissenschaftlichen Denken, der individuellen Freiheit und dem Umgestalten der Welt durch Technik. Die Aufklärung wollte den Menschen aus seiner »selbstverschuldeten Unmündigkeit« befreien und war darin auch bewegt vom Respekt vor der Einzigartigkeit des Menschen. »Die Würde des Menschen ist unantastbar« ist ein Ausdruck dafür. Die damit beginnende Moderne war ein Projekt der Freiheit und der Ermächtigung des Menschen, die Welt zu gestalten. Aber wie die nächsten Jahrhunderte zeigen sollten, trübte dieser rational gestaltende Blick und Griff nach dem Leben das Gespür für unser Eingebundensein in ein umfassendes Ganzes.

Schon zu Beginn der Moderne um 1800 gab es Menschen, die diese Entwicklung erahnten und darauf hinwiesen, dass wir auf diesem Weg den Quellgrund unseres Menschseins verlieren. Sie waren als Philosophen, Theologen und Dichter der Klassik, des Idealismus oder der Frühromantik ausschlaggebende Gestalter eines rationalen Bewusstseins, äußerten aber zugleich Kritik an möglichen einseitigen oder trennenden Entwicklungen und Entfremdungen. Geprägt waren viele von der anfänglichen Begeisterung für die Französische Revolution und ihren Idealen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und der desillusionierenden Gewalt, die der Revolution folgte.

So für die Grenzen eines rationalen Weltgestaltens sensibilisiert, suchten diese aufklärerischen Geister nach Möglichkeiten, auf dem Weg zu Freiheit und Selbstbestimmung nicht das erhabene Empfinden einer zugrunde liegenden Verbundenheit mit dem Geheimnis unseres Daseins zu verlieren bzw. dieses neu zu beleben. Ein Ansatzpunkt für die Ausbildung dieses Empfindens war die Wahrnehmung, Wertschätzung und Gestaltung des Schönen.

Im »ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus«, ein Text, der abwechselnd Hegel, Schelling oder Hölderlin zugeschrieben wurde (die in ihrer Studienzeit in Tübingen gemeinsam in einer WG wohnten), heißt es: »Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, dass der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfasst, ein ästhetischer Akt ist und dass Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind.«

Hier wird die Erfahrung und Wahrnehmung des Schönen als Herz des menschlichen Daseins gesehen, das zu verhärten droht unter dem Griff einer empirischen, rationalen Vernunft, die allein auf Daten, Fakten, Oberflächen, Messbarem basiert. Diese Kritik an einer kalten, zerteilenden Rationalität brachte der Frühromantiker Novalis so auf den Punkt: »Die Apologeten des Empirismus waren rastlos beschäftigt, die Natur, die menschlichen Seelen und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, – jede Spur des Heiligen zu vertilgen und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden. Wo keine Götter sind, walten Gespenster.«

Ästhetische Erziehung

Unter dem Eindruck dieses Aufbruchs eines rationalen Empirismus nutzten viele Dichter und Denker das Schöne als einen Erfahrungshorizont, der einer anderen Möglichkeit des Menschseins Raum geben wollte. In Weimar folgte Goethe dieser Spur mit einem Verständnis der Natur, das dem objektiven Blick der beginnenden Naturwissenschaft ein Forschen entgegensetzte, das aus einem Mitvollziehen der natürlichen Prozesse dem Geheimnis der Entfaltung auch des Schönen in der Natur schöpfte. Sein Freund Schiller formulierte Grundsätze einer ästhetischen Erziehung und sah die freie Entfaltung in Selbstbestimmung als einen Ausdruck des Schönen im Menschlichen. Die Erfahrung des Schönen, ein freier »ästhetischer Zustand«, war für ihn ein Bewusstseinsraum, in dem Denken und Empfinden, Vernunft und Sinnlichkeit, Geist und Natur zu einer Harmonie kommen können: In diesem Zustand »fühlen wir uns wie aus der Zeit gerissen, und unsere Menschheit äußert sich mit einer Reinheit und Integrität, als hätte sie von der Einwirkung äußrer Kräfte noch keinen Abbruch erfahren. Es ist also nicht bloß poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch richtig, wenn man die Schönheit unsre zweite Schöpferin nennt.« So ist es möglich, die Kräfte im menschlichen Wesen frei zu entfalten und zu integrieren, denn »mit gleicher Leichtigkeit werden wir uns zum Ernst und zum Spiele, zur Ruhe und zur Bewegung, zur Nachgiebigkeit und zum Widerstand, zum abstrakten Denken und zur Anschauung wenden«.

Schiller inspirierte auch die Idealisten in der Tübinger WG, die, wie schon erwähnt, alle menschlichen Aktivitäten auf eine Integration im Schönen zuführten. Hegel beschäftigte sich denkend mit der Bedeutung des Schönen, sah aber auch die Grenzen eines solchen Unterfangens, denn es sei »für den Verstand nicht möglich, die Schönheit zu erfassen, weil der Verstand, statt zu jener Einheit durchzudringen, stets deren Unterschiede nur in selbständiger Trennung festhält«. In seinen ästhetischen Werken gab er der Kunst die vordringliche Aufgabe, uns zum Schönen zu erwecken. Ähnlich wie Schiller sah er die Kunst als »Mittelglied zwischen dem reinen Gedanken, der übersinnlichen Welt, und dem Unmit telbaren, der gegenwärtigen Empfindung«, also zwischen denkendem Erkennen und sinnlichem Wahrnehmen. Hölderlin ging den künstlerisch dichtenden Weg und in gewissem Sinne kreiste sein gesamtes ringendes, ahnendes und auch tragisches Werk um ein Besingen des Schönen als Gegenwart des Geistigen in der Welt: »Daß unsre Tage wieder, wie Blumen, sind,/Wo, ausgeteilt im Wechsel, ihr Ebenbild/Des Himmels stille Sonne sieht und/Froh in den Frohen das Licht sich kennet,/Daß liebender, im Bunde mit Sterblichen/Das Element dann lebet und dann erst reich,/Bei frommer Kinder Dank, der Erde/Kraft, die unendliche, sich entfaltet,/Und er, der sprachlos waltet, und unbekannt/Zukünftiges bereitet, der Gott, der Geist/Im Menschenwort, am schönen Tage/Wieder mit Namen, wie einst, sich nennet.«

DIE APOLOGETEN DES EMPIRISMUS WAREN RASTLOS BESCHÄFTIGT, DIE NATUR, DIE MENSCHLICHEN SEELEN UND DIE WISSENSCHAFTEN VON DER POESIE ZU SÄUBERN.

Zur gleichen Zeit formulierte der Theologe Friedrich Schleiermacher die Erfahrung des Schönen in der Innerlichkeit des Menschen als den Ausgangspunkt für eine individuell geprägte Religion, die nicht nur aus dem Glauben schöpft, sondern auch aus dem Erleben des Göttlichen im Menschen und in der Welt. Er schreibt: »In wessen Inneren nicht eigene Offenbarungen aufsteigen, wenn seine Seele sich sehnt, die Schönheit der Welt aufzusaugen, wer nicht hier und da fühlt, dass ein göttlicher Geist ihn treibt und dass er aus heiliger Eingebung redet und handelt, der hat keine Religion.«

Diese Neuformulierung des Religiösen war eine Inspiration für die Frühromantiker in Jena, rund um Novalis und Friedrich Schlegel, die so etwas wie eine poetische Religion des Schönen entwarfen, der es nicht nur darum ging, die Wahrnehmung des Schönen in Leben, Natur und Kunst wachzuhalten, sondern die die Aufgabe des Menschen darin sah, in kreativer Freiheit an der Entfaltung des Schönen teilzuhaben. Also so in der Welt zu sein, dass sie schöner wird – und damit auch wahrer und gütiger. Denn sowohl unsere Fähigkeiten des Erkennens als auch unseres ethischen Handelns waren für sie Ausdrucksformen eines ästhetischen Bewusstseins. In der Figur des Poeten, des Künstlers sahen sie den Menschen als Mitdichtenden und Mitschaffenden am großen Epos der Schöpfung.

In dieser existenziellen Neuausrichtung des Menschseins sahen sie Wissenschaft, Kunst, Politik nicht als Gegensätze, sondern forschten nach einer Möglichkeit, zu einer Integration zu finden. Und der Quellraum dieses verbindendenden Gewebes war die Wahrnehmung, Wertschätzung und Schaffung des Schönen in Natur, Mensch und Geschichte. Sie waren einerseits erfüllt vom Geist der Aufklärung im Sinne der Selbstbefreiung des Menschen aus Dogmen des Glaubens. Sie suchten aber gleichzeitig nach Wegen, im so zu sich gekommenen Menschen ein Organ für das Heilige, das Schöne, das Erhabene auszubilden. Für sie war ein solches poetisches Bewusstsein die Voraussetzung, um in allen anderen Formen des Erkennens und Schöpfens dem Grund der Existenz verbunden zu bleiben.

Es ist schon erstaunlich, welch eine Öffnung zum Schönen sich in der Klassik, dem Idealismus und der Frühromantik nahezu zeitgleich in Deutschland in einer Explosion von Kreativität ereignete. Die wechselseitige Inspiration umfasste dabei auch Konflikte und Meinungsverschiedenheiten. Aber in einem fanden diese Bewegungen eine Resonanz: Sie wollte im Strom eines besitzergreifenden, zerteilenden Bewusstseins die Ganzheit der Wirklichkeit bewahren. Und damit auch ein Empfinden der Ehrfurcht, eine Wahrnehmung des Erhabenen, des Schönen in Geschichte, Kunst, Natur, Wissenschaft und menschlicher Entfaltung.

Missbrauch des Schönen

Trotz bzw. mit dieser ästhetischen Kritik trat die wissenschaftlich-rationale Moderne ihren Siegeszug an. Aber immer wieder gab es Menschen und Bewegungen, die sich auf diese Impulse aus dem Schönen bezogen, um auf eigene Weise die Integration einer ästhetischen Form der Erkenntnis und Wahrnehmung zu fördern, wie beispielsweise die Anthroposophie Rudolf Steiners, Dichter wie Hermann Hesse, Philosophen wie Martin Heidegger oder Künstler wie Joseph Beuys mit seinem erweiterten Kunstbegriff.

Tragisch für unsere deutsche Geschichte ist, dass die Kraft des Schönen, wie sie so fulminant denkerisch und dichtend Ausdruck gefunden hatte, vom Nationalsozialismus missbraucht wurde, indem man ästhetische Erfahrungen nutzte, um die faschistische Ideologie zu vermitteln. Geschickt griffen die Nazis die naturmystischen Elemente des poetischen Denkens auf, das sich häufig auch in hymnischen Gesängen an konkrete Orte richtete, um so eine Ideologie von Blut und Boden zu begründen. Sie nutzten auch die emphatische Betonung der Gestaltungskraft des Menschen, um sie in die Verherrlichung der »arischen Rasse« zu übertragen. Und in den Nazi-Aufmärschen mit Fackeln und Lichtbildern, den Filmen Leni Riefenstahls oder der Instrumentalisierung der Musik Richard Wagners erweckten sie in den Menschen ein Empfinden des Erhabenen, um es auf die eigene Ideologie von der »heiligen Weltmission« des deutschen Volkes zu übertragen. Nicht zuletzt griff die Nazi-Ideologie auch die poetische Vision einer Menschheit auf, in der das Schöne Entfaltungsraum findet, und inszenierten sich selbst als die Erfüllenden dieser Vision. Die ganze schreckliche Idee einer »reinen« Rasse hatte nicht zuletzt auch mit Kriterien eines »schönen Menschen« zu tun.

Wiederkehr der Ehrfurcht

Bei alldem ist es kein Wunder, dass bis heute ein berechtigtes Zögern besteht, die Relevanz des Schönen über den sicheren, beherrschbaren Hafen von Kunst, Design oder Konsum hinaus weiterzudenken. Solche missbräuchlichen, machtgetriebenen Bezüge auf das Schöne haben innere Stimmungen wie Ehrfurcht, Respekt, Andacht, Ehrerbietung mit einem gewissen Bann belegt. Die Postmoderne hat mit der Relativierung übergreifender Welterklärungen und der berechtigten Kritik an Machtsystemen und Formen der Unterdrückung die Skepsis gegenüber einer Relevanz des Schönen jenseits von Mode und individuellem Geschmack noch gefördert.

Aber dieser Verlust unserer Beziehung zum Schönen und Erhabenen, der unsere Kultur kennzeichnet, fordert einen Preis, nicht nur in einer inneren Verarmung, sondern auch in der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen.

ES IST ALSO NICHT BLOSS POETISCH ERLAUBT, SONDERN AUCH PHILOSOPHISCH RICHTIG, WENN MAN DIE SCHÖNHEIT UNSRE ZWEITE SCHÖPFERIN NENNT.

Im Kontext der Klimakrise kommt ein Empfinden des Respekts vor der Kraft der Natur vor allem im Zusammenhang mit den möglichen katastrophalen Folgen in unser Bewusstsein. Die Tiefenökologie und andere ökologische Denktraditionen wie die Albert Schweitzers sehen in einer empfundenen »Ehrfurcht vor dem Leben« den Bewusstseinswandel, der es uns erst ermöglichen wird, auf den Klimawandel zu antworten. Und die tiefere Inspiration für diesen Wandel kommt vielleicht eher aus dem erwachenden Miterleben der Schönheit der Schöpfung als aus moralischen Appellen.

Deshalb können die Visionäre des Schönen, die zu Beginn der Moderne unseren Bezug zum Erhabenen bewahren wollten, auch zu Ratgebern für unsere Zukunft werden. Gleichzeitig haben wir seitdem viel über den Missbrauch der Ehrfurcht durch totalitäre Ideologien oder die Verflachung des Schönen durch schwärmerische Weltflucht gelernt. Aber im kritischen Bewusstsein für diese möglichen Irrwege ist der poetische Rückbezug auf das Schöne als die Erlebensqualität unseres spürenden, schöpferischen Verbundenseins mit und in einem lebendigen Kosmos heute hochaktuell und vielleicht sogar überlebensnotwendig.

Author:
Mike Kauschke
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