Eine fast vergessene Tugend

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Essay
Published On:

April 21, 2017

Featuring:
Kurt Tucholsky
Arthur Schopenhauer
Aristoteles
Categories of Inquiry:
Tags
Issue:
Ausgabe 14 / 2017:
|
April 2017
Leben lernen
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Auch wenn das Wort Besonnenheit nicht unbedingt einen besonderen Sexappeal verströmt, so ist das, wofür es steht, meines Erachtens heute wichtiger denn je. Ein besonnener Mensch zeichnet sich nämlich durch die Fähigkeit aus, nicht rein impulsgesteuert, sondern überlegt und reflektiert zu handeln. Wenn wir uns in unserer Welt umsehen, scheint diese Fähigkeit allerdings nicht allzu weit verbreitet zu sein, was unter anderem auch damit zu tun hat, dass wir heute glauben, alles müsse sofort und schnell entschieden werden. Wir leben in einer Zeit, in der Geschwindigkeit zu einem eigenen Wert geworden ist. Je schneller etwas ist, desto besser ist es, da man in der Regel dadurch Geld sparen kann. Bei Informationen zahlt sich der durch Geschwindigkeit gewonnene Vorsprung direkt in Geld aus, was man an den Börsen sehr gut sehen kann.

Um gleich ein Missverständnis im Vorfeld auszuräumen, ich halte Geschwindigkeit nicht für ein Übel. Auch ich bin dankbar, dass ich nicht mehr Minuten vor dem Bildschirm sitzen und dem Aufbau einer Internetseite zuschauen muss, ebenso finde ich es recht angenehm, in ein paar Stunden mit dem ICE von Hamburg wieder im Süden zu sein. Doch ich bin davon überzeugt, dass wir, je komplexer unsere Welt wird, mehr Zeit für gute und passende Entscheidungen benötigen, dass wir nicht impulsiv auf jeden Reiz reflexhaft reagieren sollten, sondern dass wir abwägen und nachdenken und dann umsichtig agieren sollten. Besonnenheit ist eine Art von Gelassenheit, die durch reflektierendes Nachdenken erlangt wird. Der Besonnene weiß, was zu tun ist, weil er die Dinge verstanden und in Zusammenhänge gebracht hat.

Aristoteles betonte die enge Verbundenheit von Klugheit und Besonnenheit. Ein besonnener Mensch fällt kluge Urteile, weil er nicht von seinen Impulsen gesteuert wird. Er erkennt durch sein umsichtiges Nachdenken und Überprüfen, wann der richtige Zeitpunkt und die richtige Situation zum Handeln eingetreten sind. Dies gelingt ihm, weil er sich selbst, seine Möglichkeiten und Fähigkeiten realistisch einschätzen kann. Der Besonnene handelt, entsprechend der Vorstellungen der alten Griechen, nicht nur deshalb klug und gut, weil er sich selbst kennt und über die Umstände reflektiert, sondern weil er auch die Folgen seines Handelns in seine Überlegungen miteinbezieht.

¬ Besonnenheit ist eine Art von Gelassenheit, die durch reflektierendes Nachdenken erlangt wird. ¬

Von Kurt Tucholsky stammt der berühmte Satz: »Das Gegenteil von gut ist nicht böse, sondern gut gemeint.« Gut gemeint ist eine tolle Umschreibung dafür, dass wir die Folgen unseres Tuns gerade nicht mitbedenken. Wer etwas gut meint, macht es eben noch lange nicht gut, weil er sich über die Konsequenzen seines Tuns oftmals nicht im Klaren ist. Natürlich ist es unmöglich, alle Folgen unseres Tuns immer vorwegzunehmen, doch je besonnener wir handeln, desto weniger werden wir rein impulsgesteuert losstürmen, um am Ende festzustellen: Der Weisheit letzter Schluss war es nicht, was wir da getan haben.

Arthur Schopenhauer, der ein großer Fan der Besonnenheit war, hat in einem seiner Werke eine regelrechte Anleitung verfasst, wie der Mensch zur Besonnenheit gelangen kann. In seinem Buch »Parerga und Paralipomena«heißt es: »Um mit vollkommener Besonnenheit zu leben, ist erfordert, dass man oft zurückdenke und was man erlebt, getan, erfahren und dabei empfunden hat, rekapituliere, auch sein ehemaliges Urteil mit seinem gegenwärtigen, seinen Vorsatz und Streben mit dem Erfolg und der Befriedigung durch denselben vergleiche. Wer im Getümmel der Geschäfte oder Vergnügungen dahinlebt, ohne je seine Vergangenheit zu ruminieren, vielmehr nur immerfort sein Leben abhaspelt, dem geht klare Besonnenheit verloren. Dies ist umso mehr der Fall, je größer die äußere Unruhe, die Menge der Eindrücke, und je geringer die innere Tätigkeit seines Geistes ist.«

Besonnenheit zeichnet sich also dadurch aus, dass man das, was man erlebt, erfahren, getan und empfunden hat noch einmal geistig durchdringt und mit dem, was jetzt ist, abgleicht und dann eine Entscheidung fällt, die stimmig ist. Dieser geistige Durchdringungsprozess braucht jedoch etwas Ruhe und Zeit. Diese Investition macht sich aber im Leben bemerkbar.

Author:
Dr. Katharina Ceming
Share this article: