Im Inneren unserer Beziehungen

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 17, 2019

Featuring:
Otto Scharmer
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Issue:
Ausgabe 22 / 2019:
|
April 2019
Soziale Achtsamkeit
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Der Dynamik sozialer Felder auf der Spur

Seit vielen Jahren erforscht Olen Gunnlaugson die Arbeit mit Gruppenkommunikation, Wir-Räumen und kollektiven Feldern und hat ein differenziertes Verständnis der verschiedenen Räume oder Geografien, die darin zugänglich werden, entwickelt. Für ihn zeigt sich darin eine neue menschliche Fähigkeit der dynamischen, spürenden Präsenz, durch die wir soziale Felder ko-kreativ gestalten können.

evolve: Du bezeichnest deine Arbeit als Dynamic Presencing. Worum geht es dabei?

Olen Gunnlaugson: Dynamic Presencing entstammt einer Traditionslinie, die ich in den letzten Jahren entwickelt habe. Der Fokus dabei liegt auf der Ausbildung einer tieferen Fähigkeit des Presencing unter Führungskräften, Coaches und Top-Performance-Teams. Als verkörperte Prozessmethode umfasst Dynamic Presencing fünf Prozesse, die das tiefere Territorium des Bewusstseins eröffnen, als den wichtigsten Ort, wo sich Praktizierende für die Potenziale unserer Fähigkeit des Presencing im Presencing-Feld sensibilisieren können. Diese Arbeit begann in einer für mich besonderen Weise, da ich im Rahmen von Presencing, Theorie U und anderen damit verbundenen kontemplativen Methoden seit mehr als zwei Jahrzehnten lehre und praktiziere. Vor fünf Jahren vollzog sich in meiner Arbeit ein Wandel, als ich bemerkte, dass es in mir, meinen Studierenden und in den Praxis-Gemeinschaften, denen ich angehöre, ein tieferes, unerfülltes Bedürfnis gab. Der Kern dieses unerfüllten Bedürfnisses war im Grunde die Sehnsucht, tiefer in das Presencing einzutauchen, um die subtilen Dimensionen so zu verstehen, dass wir uns professionell darin zuhause fühlen und sie mit einer Qualität von Unmittelbarkeit und Leichtigkeit zugänglich machen können.

Paradoxerweise wird das Wir durch differenziertere und integrierte Ichs stärker.

Anthropodino, Park Avenue Armory, New York, 2009, Tanya Bonakdar Gallery, New York, © Ernesto Neto, Foto: James Ewing

Die Räume zwischen uns

e: Könntest du für die Leser, denen Presencing nicht bekannt ist, den Kontext dieser Praxis erläutern?

OG: Der Begriff Presencing wurde von Otto Scharmer geprägt und ist eine Kombination aus Presence – präsent sein – und Sensing – spüren. Obwohl die Praxis selbst eine längere Geschichte hat, die bis ins alte Griechenland und in neuerer Zeit auf Martin Heidegger zurückgeht, war in den frühen 2000er Jahren die Arbeit von Scharmer und seinen Kollegen im Rahmen der Theorie U entscheidend, um Presencing bekannter zu machen. Presencing wurde hier als eine Praxis genutzt, um etwas über die emergierende Zukunft zu lernen. Dynamic Presencing baut auf der Theorie U auf und erforscht vertiefend unser Presencing-Selbst und das Presencing-Feld mittels fünf Kernprozessen. Jeder Prozess untersucht, wie sich Presencing in unseren unterschiedlichen Erfahrungsfähigkeiten verwurzeln kann: z.B. unsere Fähigkeit, zu wissen, zu sein, wahrzunehmen und so weiter. Denn so können wir in unserem Leben und bei der Arbeit eine Meisterschaft im Presencing ausbilden. Jeder Prozess bietet einen Weg, um eine tiefer verkörperte Verbindung mit dem Zustand und der Erfahrung von Presencing zu kultivieren. Von hier aus wird eine Kernbewegung eingeführt, um Übenden zu helfen, sich zu verbinden und ihre Erfahrung mit dem Phänomen des Presencing zu vertiefen.

e: Bei der Beschreibung dieses Phänomens des Presencing hast du verschiedene Begriffe verwendet. Ich möchte mich hier auf das Presencing-Feld konzentrieren, kannst du noch etwas ausführen, was du damit meinst?

OG: Wenn ich über das Presencing-Feld spreche, dann meine ich die inneren Dimensionen dessen, was allgemein als soziales oder kollektives Feld bezeichnet wird. Beim Dynamic Presencing habe ich im vierten Prozess namens Ursprüngliche Kommunikation vier Geografien oder Räume innerhalb des Presencing-Feldes benannt. Die erste innere Dimension ist der Ich-Raum, aus dem eine Bewegung in die Geografien des Du-Raums, Wir-Raums und schließlich des All-Raums entsteht. Jeder dieser Räume ist eine phänomenologische Region innerhalb des Presencing-Feldes, die in der Gegenwart unter bestimmten Bedingungen zugänglich ist. Durch Praxis wird jeder dieser Räume zu einem Ort, von dem aus man sich und andere lokalisieren kann, um mit dem Presencing-Feld zu arbeiten, das ansonsten dem Wesen nach subtil und in gewisser Weise flüchtig ist.

Eine Frage, die sich mir stellte, war: Was tun wir mit unserem Bewusstsein, wenn wir in einem Kollektiv aktiv sind? Wie verhält sich unser eigenes Spüren oder unsere Fähigkeit des Presencing in einer Gruppe? Diese Untersuchung hat mich dazu geführt, den Ich-Raum als Teil einer Dialektik oder Polarität im umfassenden Wir-Raum zu sehen. Wenn wir unser eigenes Bewusstsein in der Beziehung zur Gruppe differenzieren können, bleiben wir tiefer in unserer eigenen Präsenz verwurzelt. Eine der Fallen, denen ich begegnet bin, ist die Tendenz des Einzelnen, sich zu stark am Kollektiv auszurichten und sich damit zu identifizieren, wodurch sich auf subtile Weise das eigene Innere verschließt. Das ist der Beginn von dem, was als Gruppendenken bezeichnet wird, worin man sich in kollektive Zustände begibt, aber vergisst, dass das eigene Bewusstsein darin wirkt.

Beim Dynamic Presencing betonen wir die Beziehung und die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Geografien. Dadurch können wir unsere eigene Erfahrung als solche erkennen, wenn wir uns in einem Kollektiv befinden. Wenn wir unsere eigene Erfahrung so durchdringen und unsere eigene Stimme im Bezug zur Gruppe wahrnehmen, wird der kollektive Prozess differenzierter und intensiver. Paradoxerweise wird das Wir durch differenziertere und integrierte Ichs stärker. Das ist auch im Kontext des Du-Raums wichtig, wie beim Coaching, wo es dem Klienten dabei hilft, sein Presencing-Selbst zu finden und zu entwickeln.

Und der All-Raum ist eine übergeordnete Geografie, die eine Spannung auf den Wir-Raum ausübt. Denn wir können sagen, dass ein Schatten der Wir-Arbeit darin besteht, die menschliche Dimension des Prozesses zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen. Ein Gewahrsein für den All-Raum als die übergreifende Dimension unserer Erfahrung, wie sie in der Kosmologie, der Natur und anderen Dimensionen über das Menschliche hinaus eingebettet ist, ist sehr wichtig. Wenn Gruppen für diesen größeren Kontext der Ganzheit empfindsam werden, können die Praktizierenden in eine tiefe Kontemplation des Gespürs für den eigenen Platz im Universum finden.

Wenn wir im kollektiven Feld arbeiten, spüren wir einen schöpferischen Impuls.

Differenzierte Achtsamkeit

e: Wenn du diese vier Dimensionen – den Ich-Raum, den Du-Raum, den Wir-Raum und den All-Raum – in der Arbeit mit Studierenden und in Organisationen zugänglich machst, was ist dann der Kontext, in dem diese Geografien vertieft werden? Was zeigt sich darin und warum denkst du, dass dies eine wichtige Form der Zusammenarbeit und Kommunikation ist?

OG: Die Unterscheidung dieser Räume hat sich vor allem in der Vermittlung von Dialog und Gruppenkommunikation ereignet, und in letzter Zeit auch im Coaching. Sie baut auf der Theorie U auf und arbeitet mit dem Feld des Presencing, das Otto Scharmer das soziale Feld nennt. Seit einiger Zeit beobachte ich, dass Praktizierende leicht die verschiedenen Regionen des Feldes miteinander vermischen. Das erschwert es zu lernen, effektiv mit dem Feld zu arbeiten. Als Forscher war ich immer daran interessiert, einen Zugang zum Feld des Presencing zu entwickeln, der es Praktizierenden ermöglicht, unmittelbar mit dem Gebiet selbst zu arbeiten, denn so werden die verschiedenen Regionen als eine dynamische Bewegung zugänglich.

In diesem Prozess der Ursprünglichen Kommunikation erforschen wir die Schnittstellen dieser verschiedenen Geografien und wie sie unsere Erfahrung des Presencing im Gespräch berühren und ausfüllen. Wenn sich Praktizierende mit diesen Dimensionen verbinden, dann können sie ihre Erfahrung im Gespräch effektiver sehen, erkennen und führen. Indem sie mit diesen Geografien vertraut werden, können Praktizierende innehalten und mit dem Gespür für den eigenen Platz im umfassenderen Feld in eine subtile Mitwirkung eintreten – egal, in welchem Kontext sie sich befinden.

e: Ich möchte deine Ausführungen auch mit der Achtsamkeitspraxis in Verbindung bringen. Wie ich Dynamic Presencing verstehe, erlaubt es uns ein differenzierteres Verstehen dafür, wo Achtsamkeit angewendet werden kann. Denn Achtsamkeit, wie sie sich etabliert hat, konzentriert sich darauf, was in meinem Gewahrsein und meinem Bewusstsein vor sich geht, was sich auf den Ich-Raum bezieht, den du erwähnt hast. Aber es gibt noch einen anderen Raum, den wir beispielsweise in diesem Gespräch miteinander teilen. In der Arbeit mit Wir-Räumen sind wir uns oft nicht der ganzen Dynamik bewusst, die sich zwischen dem Ich-Raum und dem Wir-Raum ereignet.

OG: Genau.

e: Dann gibt es noch diese andere Dimension, die du als Du-Raum bezeichnest. Und wenn ich jetzt mit dir im Gespräch bin und dir genau zuhöre und meinen eigenen Raum etwas loslasse, dann eröffnet sich in dem, was zwischen uns geschieht, nicht nur dieser Du-Raum, sondern auch eine weitere Geografie, die über uns hinausgeht: der All-Raum. Dadurch eröffnet sich zwischen uns eine ganze Welt in vielfachen Dimensionen. In solch einem Gespräch sind in dem Feld nicht nur ich, du und unser Wir präsent. Um uns ereignet sich eine ganze Welt, einschließlich der Umgebung, die bis in den Kosmos reicht. Wir können also in unserer Erfahrung diese verschiedenen Räume und ihre wechselseitige Beziehung unterscheiden und herausfinden, wie sie eine dynamische Beziehung miteinander eingehen, wodurch die Zukunft voller und dynamischer in diese Welt kommen kann. Siehst du darin das Potenzial dieser Arbeit?

Der Zauber des Wir-Feldes

OG: Ja! Mich bewegt, wie du es ausdrückst und wie du in diese Erfahrung hineinlebst. Wenn ich dir zuhöre, spüre ich diesen Zauber, der dadurch entsteht, auf reichere, vieldimensionale und mitwirkende Weise in die Berührung mit dem Feld des Presencing gezogen zu werden. Ich erfahre, wie diese subtile Qualität der Verzauberung in unserem Feld jetzt gerade zum Leben erweckt wird. Darin höre ich, wie du daraus sprichst und andeutest, wie wir diese Dimensionen berühren und aktivieren können. Jeder dieser Räume wird zu einer Schnittstelle, mit der wir uns durch unser subtiles Spüren verbinden können. Dann können wir uns mit diesen Räumen als eine Bewegung verbinden und dadurch erwacht eine neue Qualität der mitwirkenden Wahrnehmung. Sie eröffnet eine Empfindsamkeit für mehr Dimensionen des Ganzen der Wirklichkeit. Durch die subtile Verbindung mit diesen Facetten unserer sozialen, individuellen und kulturellen Wirklichkeit bewegen wir uns durch das Feld des Presencing ins Innere eines mehrdimensionalen Mitwirkens an der Wirklichkeit. Deshalb nenne ich es Dynamic Presencing, weil darin verschiedene Dimensionen des Presencing aktiviert werden, was uns ein subtiles Mitwirken an der dynamischen Bewegung eröffnet. Eine wesentliche Bewegung, die so lebendig wird, die du es gerade sehr intuitiv und wunderschön ausgedrückt hast.

Ein Gewahrsein für den All-Raum ist die übergreifende Dimension unserer Erfahrung.

e: Es ist sehr wichtig, in der Lage zu sein, die verschiedenen phänomenologischen Sphären zu unterscheiden und zu integrieren. Die Fähigkeit, sie in einer kohärenten und differenzierten Weise zusammenzuhalten, ist ein hoher Anspruch, aber dadurch wird eine Reife möglich, wenn wir uns in einem Gespräch mit diesen Dimensionen verbinden können.

OG: Mit was ich am meisten in Resonanz gehen kann, ist die Unterscheidungskraft, die mit einer Fähigkeit gehalten wird, sich selbst zu erlauben, gleichzeitig für diese Räume im Feld des Presencing gegenwärtig zu sein. Unser Gewahrsein auf diese subtile Weise zu verfeinern, kann uns dabei helfen, uns so zu wandeln, dass wir unmittelbarer mit dem Bewusstsein im Feld mitwirken können. Ich habe herausgefunden, dass diese vier Dimensionen des Feldes Aspekte unseres Seins, unseres tieferen Wesens und Bewusstseins, die zum Presencing fähig sind, aktivieren. Auf eine Weise, die uns in die Lage versetzt, diesen Dimensionen der Wirklichkeit unmittelbar eine Stimme zu geben und in ein subtiles Mitwirken mit ihnen zu kommen. Diese Dimensionen formen uns. Es scheint so, als hätte das Bewusstsein selbst eine Form von Absicht, es beabsichtigt seine Gegenwärtigkeit. Es ist ein Entfaltungsprozess, in dem wir eine Intelligenz spüren.

Anthropodino, Park Avenue Armory, New York, 2009, Tanya Bonakdar Gallery, New York, © Ernesto Neto, Foto: James Ewing

Potenziale verwirklichen

e: In jeder Interaktion gibt es ein Potenzial. Dieses Potenzial hat in sich eine bestimmte Qualität, eine Absicht, Wirklichkeit zu werden. Es scheint ein Aspekt der Qualität des Potenzials zu sein, dass es die Absicht hat, sich zu manifestieren. Und der einzige Ort, wo es sich manifestieren kann, ist das Bewusstsein, in dem es erscheint.

OG: Ja, wenn wir im kollektiven Feld arbeiten, spüren wir einen schöpferischen Impuls, den kreativen Impuls, der dem Bewusstsein innewohnt, der lebendig wird und sich so angefühlt, als hätte er eine eigene Absicht, einen eigenen Wunsch, seine eigene Möglichkeit. Er aktiviert uns energetisch, wir spüren ihn in unserem eigenen Inneren und im Raum zwischen uns.

e: Worin siehst du die Relevanz dieser Arbeit? Und auf welche Anwendungen wirst du dich konzentrieren?

OG: Der ursprüngliche Impuls für Dynamic Presencing bestand darin, Praktizierende und professionelle Anwender von Presencing aus allen Praxisbereichen im nächsten Schritt ihrer Bewusstseinsentwicklung zu unterstützen. Das Buch »Dynamic Presencing« werde ich nun dieses Jahr mit einiger Verspätung veröffentlichen. Um auf deine Frage nach der Relevanz dieser Arbeit einzugehen: Ich arbeite mittlerweile schon an meinem neuen Buch mit dem Titel »Dynamic Presencing-based Coaching«, in dem ich einen tieferen transformativen Ansatz des Coachings eröffne, in dem Praktizierende dazu eingeladen sind, sich in der Tiefe mit Präsenz und einem auf Presencing basierenden Coaching als einem lebenslangen Weg der persönlichen Meisterschaft vertraut zu machen. Dies soll in einigen Jahren zu einem professionell anerkannten Training im Rahmen unseres Executive Programs an der Université Laval in Montreal, Kanada, und der International Coaching Federation werden. Die Vision dahinter ist, Praktizierenden einen kraftvollen, durch Presencing gestärkten Weg in ihre persönliche und professionelle Meisterschaft als Coaches zu ebnen.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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