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Durch Kunstbetrachtung zu einem neuen Blick auf die Welt
Wie kann die Betrachtung von Kunst unser Sehen und Wahrnehmen der Welt verändern? Dieser Frage gehen Studierende an der Universität Witten/Herdecke im Kurs »Kunst sehen« nach. Der Kurs wird von David Hornemann geleitet und nutzt die Vortragstexte des Kunstwissenschaftlers Michael Bockemühl (1943 – 2009). Aus der Beschäftigung mit seinen Texten entstand die Idee, dass Studierende über mehrere Semester hinweg an einer Veröffentlichung arbeiten könnten. Wir sprachen mit Andrea Kreisel, die als Studierende an diesem Projekt beteiligt war, über ihre Erfahrungen und Erkenntnisse bei dieser tieferen Begegnung mit Kunst.
evolve: In dem Projekt »Kunst sehen« beschäftigt ihr euch mit Vorträgen, die vor mittlerweile 20 bis 30 Jahren gehalten wurden. Was hat euch daran so fasziniert? Worin seht ihr die Aktualität dieser Texte?
Andrea Kreisel: Ich frage mich, ob diese Texte wirklich alt werden können, weil sie die eigene Selbstbestimmung und das eigene Selbstbewusstsein bestärken. Es wird immer wieder gesagt: Schau selbst hin. Das klingt sehr einfach, aber es ist wie eine Art Tür, um das eigene Sehen noch einmal neu zu reflektieren und neu wahrzunehmen. Das ist so aktuell, weil es wichtig ist, sich im Umgang mit den Medien und der Informationsflut nicht von Äußerlichkeiten leiten zu lassen, sondern immer wieder selbst hinzuschauen und wahrzunehmen, was ich da sehe.
In dem Kurs haben wir uns gefragt, wie der Sehprozess beginnt, und wollten neue Wege erkunden, um ein Bild zu greifen, zu begreifen. Dabei fragten wir uns auch, welchen Wert wir heute in unserer Gesellschaft der Wahrnehmung geben. Was wird durch Wahrnehmung möglich? Und diesen Fragen sind wir dann in unserer eigenen Begegnung mit der Kunst nachgegangen.
Die Kunstbetrachtung ist so eine Schnittstelle, an der sich die Wahrnehmung mit meinem Standpunkt, meinem Denken und meinem Reflektieren verbindet. Ich finde, das ist für meine Generation besonders wichtig, weil uns so viele Möglichkeiten offenstehen und wir spüren den Druck, diese Möglichkeiten auch unbedingt nutzen zu müssen. »Kunst sehen« bietet da eine Orientierung, um sich nicht darin zu verlieren, sondern sich selbst als schöpferisch wahrzunehmen, auch wenn wir »nur« schauen. Darin können wir spüren: Da passiert nicht nur die Welt um mich herum, sondern ich bin auch ein wesentlicher Teil davon und kann sie mitgestalten.
Ich finde das schon sehr radikal, sich drei Stunden mit einem Kunstwerk zu beschäftigen.
e: Hat diese Beschäftigung mit den Texten und der Wahrnehmungsschulung auch im Miteinander, im sozialen Feld der Studierenden neue Möglichkeiten eröffnet?
AK: Ja, ganz besonders ist mir aufgefallen, dass wir einen feineren Umgang miteinander haben, weil die Texte so lebendig sind und solch eine Freude ausstrahlen, die sich auf uns überträgt. So eine Begeisterung gibt es nicht oft in Seminaren. In den Texten geht es auch darum, alle Perspektiven mit hereinzunehmen. Jemand macht eine Aussage über ein Bild und dann sprechen wir darüber, wie derjenige zu dieser Aussage kommt. Am Bild kann man sehr gut nachprüfen, ob das eine Aussage ist, die objektiv oder nur subjektiv wirkt. Oder ist nicht vielleicht das Subjektive auch das Objektive? In solch einem respektvollen Austausch über die Bilder kann ich dahin kommen zu verstehen, was du sagst. Wie spreche ich über ein Bild? Niemand kann jemand anderem dessen Wahrnehmung verneinen, man kann nur versuchen, sich zu verstehen.
e: Hast du den Eindruck, dass die Studierenden, die aus ganz unterschiedlichen Bereichen kommen, diese Impulse auch in ihr sonstiges Studium mitnehmen?
AK: Ja, viele Studierende sagen, dass es für sie bei »Kunst sehen« nicht nur um Kunst geht, sondern um etwas, das man für sich selbst weitertragen kann in andere Lebensbereiche. Eine Freundin aus dem sozialen Bereich hat beschrieben, dass sie nebenher in einem Kindergarten gearbeitet hat und den Kurs dabei als große Bereicherung erlebte. Sie konnte die Kinder viel tiefer und freier wahrnehmen. Sie merkte, ob sie den Kindern aus ihrer eigenen Vorstellung begegnet, oder ob sie offen ist für das, was sie wahrnimmt, und sich dadurch der Blick auf die Kinder verändert. Auch viele Studierende der Medizin sind begeistert von »Kunst sehen«. Für sie verändert sich dadurch auch die Wahrnehmung der Menschen, mit denen sie tagtäglich zu tun haben. Und Wirtschaftsstudierende berichten, dass es ihnen leichter fällt, etwas größer zu denken und das Ganze mit in den Blick zu nehmen und nicht nur in Zahlen zu denken. Es ist also weniger eine Methode, die man anwenden kann, sondern eher eine bestimmte Haltung.
e: Das Projekt »Kunst sehen« könnte man auch als Entwicklung von Achtsamkeit umschreiben. Aber es scheint darin noch um etwas Grundlegenderes zu gehen: Wie nehme ich eigentlich die Welt wahr?
AK: Ja, genau. Wenn wir im Museum sind, stellen wir zu allererst Bockemühls Grundfrage: »Fällt Ihnen irgendetwas auf?« Diese Frage irritiert. Natürlich fällt etwas auf, immerhin stehen wir vor einem Kunstwerk. Diese Frage führt an die Punkte, die mich an dem Kunstwerk irritieren, denn gerade auch an den Brüchen und Irritationsmomenten ist viel wahrnehmbar. Ich arbeitete an dem Band über Monet. Wir kennen alle seine Bilder von den Seerosen. Aber wenn man in der eigenen Wahrnehmung nachvollzieht, wie die Farbflecken, mit denen er arbeitet, zu einer Seerose werden, offenbaren sich tiefere Schichten der Anschauung. An Bockemühls Vorträgen finde ich besonders, dass dieser Wahrnehmungsprozess in die eigene Urteilsbildung aufgenommen wird. Dadurch kann man den Prozess und seine Zwischenschritte wahrnehmen lernen. So entsteht eine größere Nähe zum Kunstwerk und damit letztlich auch zur Welt.
e: In diesem Projekt beschäftigt ihr euch mit Kunst, die zum Teil vor langer Zeit geschaffen wurde. Wie findet ihr darin einen lebendigen Geist? Wirkt es für euch nicht auch etwas konservativ, sich mit »alter« Kunst zu beschäftigen?
AK: Ich würde gern mit einer eigenen Erfahrung antworten. Als Teil des Kurses sind wir auch nach Florenz gefahren, um uns die Kunst der Renaissance und insbesondere Michelangelos »David« anzuschauen. Momentan liegt die durchschnittliche Dauer, wie lange man sich ein Kunstwerk anschaut, bei vier oder fünf Sekunden, vor ein paar Jahren waren es noch über zehn Sekunden. Da merkt man, wie schnell sich unser Blick verkleinert und verkürzt. Wir haben uns den David drei Stunden lang angeschaut. Zurückblickend finde ich das schon sehr radikal, sich drei Stunden mit einem Kunstwerk zu beschäftigen und hinterher das Gefühl zu haben: Ich bin noch gar nicht fertig, wieso gehen wir jetzt schon weiter?
Mich hat diese Reise tief berührt. Ich habe hinterher von den Kunstwerken geträumt, bin nachts aufgewacht und wusste nicht mehr, wer ich bin. So tief war die Beziehung zu den Kunstwerken geworden. Ich habe gemerkt, wie nahe wir dem Menschen Michelangelo gerückt sind. Nicht weil wir etwas über ihn gelesen haben, sondern weil wir seine Kunst so tief in uns aufgenommen haben. Wir haben selbst geschaut und uns gegenseitig immer wieder auf Wahrnehmungen aufmerksam gemacht, z. B. auf Brüche in der Figur oder den Wandel in der Figur. Je länger man so ein Kunstwerk anschaut, umso tiefer sackt das Wahrgenommene in einen selbst ein, in eine Ebene der Tiefe, die man im Alltag oft total ausblendet. Und darin liegt schon etwas sehr Radikales. Kunstwerke, die vor Jahrhunderten geschaffen wurden, werden Gegenwart und sprechen zu uns.
Author:
Mike Kauschke
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