Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
April 17, 2019
Der Mindfulness-Trend wirkt wie eine Antwort auf die Entwurzelung und Beziehungslosigkeit unserer Gegenwartskultur. Doch Achtsamkeit stiftet nicht von selbst tiefere Beziehungen zu anderen Menschen und zur Welt. Wenn wir sie allerdings als dialogische Begegnung praktizieren, können neue Kulturen der Verbundenheit entstehen.
Als vor zehn Jahren im Silicon Valley die erste Wisdom 2.0 Konferenz stattfand, war das ein außergewöhnliches Szenario. Über ein halbes Jahrhundert hatten Hippies und spirituell Interessierte in ihren Nischenkulturen mit Praktiken der Transzendenz experimentiert, getrieben von der Sehnsucht nach persönlichem Wachstum und gesellschaftlicher Veränderung. Nun schien dieser Same des Wandels endlich auf dem Marktplatz aufzugehen. Achtsamkeit erreichte mit einem Mal den Mainstream und traf auf Menschen mit Einfluss. Kündigte sich hier der lange ersehnte kulturelle Umbruch an? Vor allem jene, die zum Teil seit vielen Jahren im Kontext einer spirituellen Tradition meditierten, reagierten eher skeptisch. Sie befürchteten eine Kommerzialisierung von Achtsamkeit oder betrachteten den Vorstoß gar als feindliche Übernahme ihrer spirituellen Werte. Inzwischen zeigt sich, wie bedenkenswert die damaligen Zweifel sind.
Achtsamkeit als breitentaugliche Kompensationsstrategie bremst den kulturellen Wandel aus.
Gesetzliche Krankenkassen erstatten die Kosten für Meditationskurse, weil sie sich erhoffen, so Stresserkrankungen in den Griff zu bekommen. Unternehmen organisieren Achtsamkeitsseminare, um das Teamwork zu verbessern. Wem im Job die Puste ausgeht, der gönnt sich ein paar Minuten mit einer Mindfulness-App, um innerlich wieder aufzutanken. Als breitentaugliche Kompensationsstrategie erlaubt das Achtsam-Sein dem Einzelnen, konstruktiver mit den Zumutungen des Lebens umzugehen. Genau das aber bremst einen nachhaltigen kulturellen Wandel aus. Denn je besser es gelingt, die Schwächen des Systems durch persönliche Achtsamkeitsbemühungen im Kleinen zu lindern, umso weniger Dringlichkeit besteht, das System als Ganzes zu verändern. Das bringt bisweilen zynische Konstellationen hervor.
Der Energiekonzern RWE etwa führte vor wenigen Jahren ein Restrukturierungsprogramm durch, in dem Achtsamkeit zu den tragenden Säulen gehörte. In einer Zeit, in der die gesamte Branche durch den Atomausstieg durcheinandergewirbelt wurde und ganze Geschäftsfelder zusammenbrachen, sollten die Top-Führungskräfte darin unterstützt werden, einen tieferen Rückhalt zu finden im Umgang mit Komplexität. »Achtsamkeit lässt die Führenden eher erkennen, was wirklich um sie herum geschieht. Es ging darum, die Beziehungen innerhalb des Unternehmens mit größerer Bewusstheit zu gestalten. Das ist uns gelungen, denn in den Abteilungen der Beteiligten verbesserte sich das Miteinander deutlich«, beschreibt die Beraterin Nicole Brauckmann den Change-Prozess, an dessen Ende die Ausgliederung des Konzerngeschäfts mit regenerativen Energien stand. Der Börsengang von innogy war darüber hinaus der schnellste in der deutschen Geschichte.
Während Brauckmann diese positiven Ergebnisse beim Kongress Meditation & Wissenschaft 2018 in Berlin präsentierte, eskalierten im Hambacher Forst die Auseinandersetzungen zwischen RWE und Demonstranten, die bis heute versuchen, den Wald vor der Vernichtung durch den Braunkohleabbau zu bewahren. Die durch Achtsamkeit gesteigerte Wirksamkeit von RWE bleibt in einer Kultur gefangen, die auf Trennung und Wettbewerb beruht. Es ist ein Besser-Sein im Unzureichenden. Das sagt viel über die Herausforderungen, die sich zeigen, wenn man Meditation auf eine funktionalistische Methode zur Erreichung der eigenen Ziele verkürzt. Denn eigentlich ist Achtsamkeit ein nach allen Seiten offener Wachstumsprozess, in dem sich Durchbrüche zeigen, aber auch neue Verblendungen entstehen. Viele Achtsamkeitsprogramme, insbesondere in Unternehmen, bleiben hier auf halbem Weg stehen.
Mit dem Meditieren zu beginnen, ist für viele Menschen nicht unbedingt eine euphorisierende Erfahrung. Einfach da sein, in Stille, nichts tun – das wird leicht zur Vollbremsung mit Schleudertrauma. All die Ideen, Vorstellungen und Zwänge, die unseren Alltag unbewusst bestimmen, kommen uns in solchen Augenblicken der Ruhe plötzlich frontal entgegen. Das kann erschüttern und Angst machen. Doch liegt in dieser Konfrontation auch ein initiatisches Momentum, denn hier bricht mit einem Mal all das auf, was uns selbst und die Kultur, in der wir leben, gefangen hält. Es ist eine wesentliche Phase in der Kultivierung von Achtsamkeit, deren Bedeutsamkeit leicht unterschätzt wird. Sie ist wie ein Geburtskanal in eine andere Möglichkeit des Hierseins. Doch wir müssen den Kanal auch durchqueren und uns mit dieser Möglichkeit bewusst verbinden.
Mit der Zeit legt sich dieser innere Aufruhr wieder. Entspannung, Gelöstheit, ja sogar ein Gefühl von Frieden können sich einstellen. Viele Meditationsprogramme belassen es beim Erreichen dieser Zustände. Sie bringen die Psyche wieder in Balance und mildern die Stressreaktionen des Körpers. In Firmen laufen Teams auf einmal wie geschmiert und oft erhöht sich auch die Produktivität. Doch was wird aus den Ursachen des Leidens, das viele Menschen ursprünglich mit dem Meditieren beginnen lässt? Was aus dem äußeren Druck, unter dem Unternehmen nach wie vor stehen?
Bei Langzeit-Meditierenden zeigt sich, dass die Kultivierung von Resilienz nur eine Art Übergangsstadium ist. Sie berichten von einer tieferen Verbundenheit mit dem Leben als etwas Größerem, als Ganzheit. Manche erleben sogar, wie ihr Ich-Sein eine unfassbare Grenzenlosigkeit berührt und in dieser Beziehung aufgeht. Für Menschen in durchfunktionalisierten Alltagswelten mag das eine eher beängstigende Vorstellung sein, denn hier erscheint das, was wir gewöhnlich tun und wollen, auf einmal obsolet. Auch für Unternehmen ist das ein eher unerwünschter Zustand, denn er rüttelt an den nicht hinterfragten Grundlagen ihrer Existenz.
Für die spirituellen Traditionen hingegen ist diese Zone des Unbestimmten und der radikalen Offenheit seit jeher der Raum, aus dem sich die tiefere Harmonie des Lebens entfaltet. Und sie schaffen bewusst soziale Räume, in denen diese Harmonie im Zwischenmenschlichen zur Blüte kommen kann. Hier kann sich eine Kultur wirklicher Verbundenheit entfalten. In diesem Licht betrachtet, beginnt Leiden dort, wo wir uns vor dieser tiefsten Wirklichkeit verschließen. Oder wo wir sie erfahren, sie aber im Leben nicht zum Ausdruck bringen. Hier offenbart sich eine große Schwäche vieler säkularer Achtsamkeitsprogramme. Sie mögen Praktizierende in eine positive Selbsterfahrung führen, doch sie entlassen sie zurück in kranke Systeme, die von wenig heilsamen Welterfahrungen und Beziehungslosigkeit geprägt sind. Unternehmen entwickeln vielleicht eine interne Achtsamkeitskultur, treten gegenüber Konkurrenten aber weiter als starke Gegner auf. Gelebt wird dann eine Idee von Achtsamkeit, die sich auf kleine Innenräume beschränkt und sich nach außen weiterhin abgrenzt.
In individualistischen Kulturen geht es vor allem um die Stärkung des Ichs und dessen Autonomie, Firmen wollen sich am Markt behaupten. Ob Burn-out oder Braunkohle – die Kollateralschäden dieser Vereinzelung, persönliche Isolation und gesellschaftliche Spaltung, sind unübersehbar. Doch wie findet das, was hier auseinanderfällt, wieder zusammen? »Unsere Kultur ist ganz schön neben der Spur. Als ich studierte, wurde viel über Abhängigkeiten gesprochen und ein vorherrschendes Paradigma war, Bedürftigkeit zu vermeiden. Inzwischen hat sich die Perspektive jedoch gedreht. Heute geht es darum herauszufinden, wie wir gesunde Verbundenheiten gestalten können«, sagt die Psychotherapeutin Traci Ruble.
Im Unbestimmten und in einer radikalen Offenheit entfaltet sich die tiefere Harmonie des Lebens und eröffnet einen Beziehungsraum.
Sie leitet in San Francisco ein Therapiezentrum, das sich als Inkubator für sozialen Aktivismus versteht. Und sie gehört zu den Vorreitern eines erstarkenden Mikro-Trends innerhalb der Achtsamkeitsbewegung, der Meditation nicht mehr nur als individuelle Praxis betrachtet, sondern als bewusstes dialogisches Miteinander, das sich ins Leben ausstreckt. Die von ihr 2014 begründeten »Sidewalk Talks«, spontane Gespräche mit Unbekannten auf dem Bürgersteig, bringen Menschen zusammen und eröffnen Räume für achtsame Begegnungen im Dialog. »Wir praktizieren zumeist ein utilitaristisches Zuhören. Wir achten auf Informationen und das, was uns weiterhilft. Das Zuhören, das ich auf der Straße gelernt habe, ist völlig anders. Es entspringt einer Präsenz in Beziehung. Da stellt sich eine Zusammengehörigkeit ein, die auch für mein eigenes Leben sehr heilsam ist«, so Ruble bei der Wisdom 2.0 Konferenz.
Das von der Neurowissenschaftlerin Tania Singer initiierte ReSource-Projekt bestätigt diese Erfahrungen und zeigt auch, dass nicht jede Form der Achtsamkeit menschliches Miteinander fördert oder das soziale Verständnis verbessert. »Bei achtsamkeitsbasierten Aufmerksamkeitsübungen konzentrieren sich Teilnehmer nur auf sich selbst«, erklärt sie. Das mag zwar der eigenen Wachheit und Klarheit dienen, Fähigkeiten, die bei Achtsamkeit in Unternehmen oft im Vordergrund stehen, lässt unsere Beziehungen zu anderen Menschen und zur Welt jedoch unberührt.
Ganz anders ist dies beim Üben in so genannten »kontemplativen Dyaden«. Hier begegnen sich zwei Menschen in einem meditativen Dialog. Das unvoreingenommene Zuhören wie auch die Möglichkeit, das eigene Innere in Anwesenheit eines anderen Menschen transparent werden zu lassen, scheint unsere üblichen Mechanismen der Abgrenzung und Selbstbehauptung zu durchbrechen. »Nach jeder Dyade berichteten die Teilnehmer, dass sie sich ihrem Gegenüber deutlich näher fühlten als zuvor. Sie bauten eine emotionale Nähe zueinander auf. Wir haben den ersten wissenschaftlichen Beweis dafür geliefert, dass der kurze tägliche Austausch von Gefühlen und Gedanken ein wirkungsvolles Mittel sein kann, um die Menschen einander innerlich näher zu bringen«, so Bethany E. Kok, Mitarbeiterin des Projekts.
Achtsamkeit könnte zum Grundstein einer Kultur der Verbundenheit werden, die die Selbstisolation moderner Gesellschaften überwindet.
In einer Zeit, in der immer mehr soziale und kulturelle Zusammenhänge auseinanderbrechen, stimmt das optimistisch. Verbundenheit lässt sich nicht als Unternehmenskultur planen oder allein auf dem Kissen herbeimeditieren. Doch sie kann sich in menschlichen Zwischenräumen entfalten, wenn wir anderen ein offenes Ohr schenken und unsere wache Anwesenheit zur natürlichen Grundlage eines Gesprächs werden lassen. Es ist eine kollektive Aufgabe, die uns alle anfragt. Vergangenes Jahr geriet Tania Singer in die Schlagzeilen, nachdem mehrere ihrer Projekt-Mitarbeiter*innen sie öffentlich des Mobbings bezichtigt hatten. Die Untersuchungskommission des Max-Planck-Instituts bescheinigte der Wissenschaftlerin »erhebliches Führungsfehlverhalten« und sie trat von ihrem Posten als Direktorin zurück. In Systemen, die auf Konkurrenzdenken und knallhartem Wettbewerb basieren, ist organisierte Taubheit Überlebensstrategie und Normalfall zugleich. Doch es hilft nicht, sich einfach die Ohren zuzuhalten – oder laut zu schreien. Das spürt auch RWE, denn die Proteste gegen den Braunkohleabbau gehen weiter. Was wäre, wenn Unternehmensverantwortliche und Demonstranten sich einmal bei einem Dialog am Waldrand wirklich begegnen könnten?
Sich anderen Menschen oder gar der Öffentlichkeit zu öffnen, ist ein Wagnis. Doch es entstehen immer mehr geschützte Erfahrungsräume, in denen diese Offenheit wachsen kann. Die Schweizer Trainerin Simone Anliker etwa bringt mit ihrem »Dyad Inquiry Project« jeden Morgen Menschen per Videokonferenz zu kontemplativen Dialogen zusammen. »Die Dyade hilft, tiefe innere Verbundenheit zu erleben und der Welt vom Herzen her zu begegnen«, sagt sie. Wie mögen sich Beziehungen entfalten an einem Tag, der so beginnt? Immer mehr Menschen stellen sich diese Frage und möchten zu einer das Leben als Ganzes bejahenden Antwort werden. So haben sich die »Sidewalk Talks« von San Francisco aus bereits zu einer weltweiten Bewegung mit 4.000 Freiwilligen entwickelt. Auch in Deutschland gibt es ein Team in Bonn. »Wenn ich bei einem Sidewalk Talk inmitten all der Menschen sitze, kann ich wahrnehmen, wie der Raum meines eigenen Ichs sich weitet und wie ich beginne, dieses kollektive Ich wahrzunehmen, das anwesend ist und von dem ich ein Teil bin. Ich bin davon überzeugt, dass wir, wenn Demokratie funktionieren soll, lernen müssen, uns auf diese Weise zu verbinden«, sagt Traci Ruble.
Wir stehen gerade erst am Anfang, zu erfahren und zu verstehen, was Achtsamkeit im 21. Jahrhundert wirklich bedeuten kann. Praktiziert als dialogische Beziehung, die uns wieder miteinander und mit dem Leben selbst verbindet, könnte Achtsamkeit zum Grundstein einer Kultur der Verbundenheit werden, die die implizite Selbstisolation und Gegnerschaft moderner Gesellschaften überwindet. Womöglich erleben wir gerade das Aufkeimen eines neuen Mindfulness-Trends, der reifer und verbindender ist als der bisherige Hype, und das bedeutet auch, dass noch unglaublich viel möglich ist. Darüber sollten wir sprechen!