Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
April 16, 2020
Können Organisationen reifen? In der Bewegung der New Work wird diese Frage seit Jahrzehnten gelebt und hat zu spannenden Experimenten mit neuen Formen der Zusammenarbeit geführt. Führung, Organisationsstruktur, Kultur, Werte und deren Zusammenspiel – wie kann das neu gelebt werden? Und was können wir daraus über ein reifes Miteinander lernen?
Wir leben in einer Welt, die unsere Reife herausfordert. Mit den Wirkungen des Coronavirus und den daraus folgenden Maßnahmen in unserem individuellen und gesellschaftlichen Leben hat sich das noch drastischer gezeigt. Diese Herausforderungen betreffen uns jeweils als Menschen in unseren persönlichen Bezügen wie Freundeskreis und Familie, aber auch im Umfeld unserer Arbeit. Und sie stellen auch die Organisationen, in denen unsere Arbeit ihren Ausdruck findet, vor neue Aufgaben. Welche das im Angesicht dieser aktuellen Krise sein werden, zeichnet sich erst langsam ab und wird auch von den zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorhersagbaren Ereignissen der nächsten Wochen und Monate abhängen. Aber es könnte doch sein, dass z. B. die nun notwendige weitverbreitete Arbeit in Home-Offices mit technologischer Unterstützung über Videodienste auch die Strukturierung der Arbeit verändern wird.
Aber auch vor dieser aktuellen Krise hat die Frage, wie sich Organisationen einer schnelllebigen, komplexen, digital vernetzten, mehrdeutigen Welt anpassen können, viele Forscher und Führungskräfte beschäftigt. Aus der Unfähigkeit bisheriger Organisationsmodelle, auf diese neue Situation wirksam und schnell genug zu reagieren, entwickelten sich alternative Ideen, die man allgemein als New Work zusammenfassen kann. Hier geht es meist um Formen der Zusammenarbeit und Strukturierung von Organisationen, die starre Hierarchien aufbrechen wollen. Die Selbstführung und Ermächtigung der Mitarbeitenden in kleinen Teams wird zur neuen Organisationsform, die flexibler ist, schneller reagieren kann und die Kreativität der Mitarbeitenden unterstützt. Oft besteht auch mehr Raum für die Entfaltung des Potenzials der Mitarbeitenden. Sie werden nicht nur als Träger einer Funktion gesehen, sondern als Menschen, die sich in einer Kultur der Wertschätzung einbringen können. Eine psychologische Sicherheit ermöglicht, dass Menschen nicht fürchten müssen, Fehler zu machen oder für unausgegorene Ideen bestraft zu werden. Die Menschen werden auch in ihren seelischen und spirituellen Bedürfnissen ernst genommen, hier hält dann oftmals auch Meditation Einzug in Unternehmen. Und ein drittes Element solch neuer Organisationen ist der Bezug zu einem Entfaltungssinn des Unternehmens, das hier nicht als Maschine oder Familie verstanden wird, sondern als ein lebendiger Organismus, der eine eigene Lebenskraft und einen eigenen Sinn verkörpert, die sich in der Welt verwirklichen möchten. Die Führenden und alle Mitarbeitenden können diesem Sinn nachspüren, darauf hören, ihm dienen, ihn gestalten.
EINE REIFE ORGANISATION WIRD SICH IHRER INNERSTEN WERTE UND IHRES EVOLUTIONÄREN AUFTRAGS BEWUSST.
Den Begriff New Work prägte Frithjof Bergmann für ein alternatives Arbeitsmodell, in dem anstelle der Lohnarbeit die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und Kreativität in den Mittelpunkt rückt, was auf den Kernwerten von Freiheit, Selbstbestimmtheit und Gemeinschaft beruht. Ein weiterer prägender Ansatz dieser Bewegung ist die Lernende Organisation von Peter Senge, die anpassungsfähig ist und auf äußere und innere Reize reagieren kann. Heute wird mit diesen Qualitäten in der Start-up-Welt, im agilen Management oder der Holakratie experimentiert. In den letzten Jahren trug das Buch »Reinventing Organizations« von Frederic Laloux maßgeblich zur Formulierung dieser Vision neuer Organisationen bei.
Als ich das Buch vor fünf Jahren ins Deutsche übersetzte, war nicht abzusehen, welche Popularität es finden würde. Darin wendet Laloux die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und Modelle wie Ken Wilbers integrale Theorie oder Spiral Dynamics auf die Entwicklung von Organisationsformen an und postuliert eine neue Ebene der Reife von Organisationen, die er als inte grale evolutionäre Organisationen bezeichnet, die durch die zuvor skizzierten Merkmale gekennzeichnet sind: Selbstführung, Ganzheit und evolutionäre Sinnausrichtung. Die Stärke dieses Buches ist es, dass Laloux zwölf Beispiele für solch neue Organisationen ausgiebig recherchiert hat und ihre Strukturen und Prozesse eingehend beschreibt und ihre Ähnlichkeiten darlegt.
Als ich das Buch übersetzte, war ich begeistert, wie hier ein evolutionärer Entwicklungsgedanke Eingang findet in die Vision und Praxis neuer Organisationsformen. Aber vor allem inspirierte mich das Menschenbild, das sich durch das Buch und die beschriebenen Beispiele zog. Für mich habe ich es so zusammengefasst: vom Menschen als Problem zum Menschen als Möglichkeit. Viele bisherige Organisationsformen versuchen im Grunde, den Menschen zu kontrollieren und durch Anreize und Sanktionen dazu anzuhalten, gute Arbeit zu leisten. Diese integralen Organisationen setzen aber in der einen oder anderen Weise darauf, das kreative Potenzial des Menschen zu heben. Dabei kommt es gelegen, dass Innovation, Kreativität, Erfindungsreichtum in der heutigen Wirtschaft die Dynamiken sind, die auch über ökonomischen Erfolg entscheiden. So erstaunt es nicht, dass in einem weiteren übersetzen Buch über »Exponentielle Organisationen« – also solche Organisationen, die vor allem durch Künstliche Intelligenz, Algorithmen und Datennutzung in kurzer Zeit eine Geschäftsidee exponentiell verbreiten und wirtschaftlich nutzen können –, zum Teil ähnliche Merkmale fortschrittlicher Organisationen genannt werden, vor allem wenn es um die Selbstorganisation der Mitarbeitenden geht, damit die kreativen Potenziale unterstützt werden.
In den letzten Jahren haben sich inspiriert durch diese Modelle und Beispiele viele Unternehmer auf den Weg gemacht, ihre Organisationen in dieser Richtung umzugestalten, ihre Organisationen »reifer zu machen«. Aber wie auch in der individuellen Entwicklung: Die Eigenschaften oder Werte integraler Organisationen zu beschreiben und zu kartographieren ist etwas anderes, als sie in die Wirklichkeit umzusetzen.
Joachim Galuska und die Heiligenfeld Kliniken, die er mitgegründet und geleitet hat, sind eines der Vorzeigebeispiele integraler evolutionärer Organisationen, die Laloux anführt. Im Buch wird für die Entwicklungsstufen eine in integralen Modellen übliche Farbkodierung verwendet, in der diese neue Stufe die Farbe Petrol oder (engl.) Teal erhielt. Aus seiner Erfahrung mit der komplexen Unternehmensentwicklung erklärt Galuska pointiert: »Teal is not real, it is an ideal.« Er führt aus, dass es in Organisationen, die sich über die Start-up-Phase mit starker Vision, kleinen Teams, wenigen Regeln, viel Kommunikation hinausentwickeln, durchaus die Notwendigkeit gibt, Hierarchien zu berücksichtigen, weil die Mitarbeitenden unterschiedliche Ebenen von Kompetenz und Reife besitzen. »Jeder muss am für ihn oder sie angemessenen Ort sein«, erklärt er.
EINEM REIFEN UNTERNEHMEN GELINGT ES GLEICHZEITIG, IN LIEBE RÄUME ZU SCHAFFEN, FÜR DAS, WAS IST UND FÜR DAS, WAS WERDEN WILL.
Er ist der Überzeugung, dass sich Unternehmen nicht notwendigerweise auf eine integrale Ebene entwickeln müssen. Wie jedes Lebewesen haben sie das Recht, sich auf ganz eigene Weise zu entfalten. Es sind lebendige Organismen, denn sie bestehen aus lebendigen Menschen. Deshalb sollten Organisationen herausfinden, was es heißt, lebendig zu sein, denn dann sind sie offen für ihre eigene Entwicklung. Für Galuska ist der Leitstern unternehmerischen Handelns ein offenes Bewusstsein – offen für Innovation, Ko-Kreation und Evolution –, das Modelle und idealtypische Entwicklungsverläufe transzendiert. »Das Leben übersteigt unser Verstehen, wir werden offen für das Geheimnis des Lebens.« In diesem Sinne beschreibt er eine reife Organisation so: »Eine reife Organisation wird sich zunehmend ihrer innersten Werte und ihres evolutionären Auftrags bewusst und gestaltet bewusst und aktiv die Gesellschaft. Sie ›blüht‹ und strahlt damit eine Inspiration und Schönheit aus und weiß, dass sie in ihrem Innersten das Leben trägt.« Leben, Bewusstsein, Werte – diese drei Aspekte kennzeichnen für Galuska eine reife Organisation.
Auch Alexander Martinez hat sich, inspiriert durch neue Visionen der Organisationskultur auf den Weg begeben, sein mittelständisches High-Tech-Unternehmen »neu zu erfinden«. Er erklärte mir, dass er lange davon überzeugt war, dass ein Unternehmen reif ist, wenn es eine »führungslose« Selbst organisation umsetzen kann. Er stieß mit diesem Leitbild aber zunehmend auf innere und äußere Konflikte, die zum Beispiel daraus entstanden, dass er sich aus seiner Führung, der Präsenz im Unternehmen zurückziehen wollte und Führung geradezu verweigerte bzw. als »schlecht« abstempelte und zum Teil auch bei Mitarbeitenden im Team bekämpfte. Zunehmend erkannte er, dass diese Einstellung sowohl im Innen als auch im Außen zu einer Trennung führte und eine emergente Selbstorganisation vereitelte, das Unternehmen also so nicht wirklich reif war.
Heute versteht er ein reifes Unternehmen so, dass es gelingt, »in Liebe Räume zu schaffen für das, was ist: für Mitarbeitende, die einfach nur ihren Job machen wollen. Für Mitarbeitende, die sich nach Führung und Halt sehnen. Für Menschen, die als Führungskraft etwas bewegen wollen – und dabei auch manchmal hektisch werden und über das Ziel hinausschießen. Einem reifen Unternehmen gelingt es gleichzeitig, in Liebe Räume zu schaffen, für das, was werden will.« Solche Räume bieten dann die Möglichkeit, dass sich das Leben, wie es sich in diesem jeweiligen Unternehmen als Organismus entfalten möchte, zeigen kann. Es sind »geschützte, leise Räume, in denen die Mitarbeitenden in Resonanz mit sich und mit dem höheren Sinn des Unternehmens treten können. Räume, in denen Verletzlichkeit und Angst gehalten werden, um aus dieser inneren Haltung heraus das Neue zu ersinnen«, erklärt Alexander Martinez.
Hier besteht die Aufgabe der Geschäftsführer und Führenden darin, solche Räume zu halten, zu hüten, zu ermöglichen. Ein eindrückliches Beispiel dieser Qualität ist für mich Fritz Bläuel, der auf dem Peloponnes mit seiner Familie die Firma Mani Bläuel aufbaute, die biologisch angebautes Olivenöl und ähnliche Erzeugnisse produziert und vertreibt. Auch er ist zutiefst inspiriert von der Vision einer integralen Organisation, weiß aber auch, dass das Leben sich in jeder Organisation auf eigene Weise entfaltet, je nach den jeweiligen Bedingungen. In vielen Gesprächen erklärte er mir, wie er beim Aufbau seines Unternehmens versuchte, die Seinsweise der griechischen Landbevölkerung mit einzubeziehen. Er wollte vermitteln, dass das Unternehmen die Werte des familiären Zusammenhalts praktiziert, die für diese Menschen zentral sind. Indem die Menschen im Laufe der Zeit Vertrauen zu dieser Haltung fassten, stieg die Loyalität und der Einsatz der Mitarbeitenden über jenes Maß hinaus, das man durch Kon trolle oder Anreize hätte erreichen können. Gleichzeitig bot er den Mitarbeitenden auch Räume, selbst Entscheidungen zu treffen oder öffnete Wege der Weiterbildung für solche, die mehr Mitgestaltung wollten. Aus diesen Erfahrungen erklärt er: »Reif finde ich eine Organisation, die imstande ist, ihren Arbeits- und Entscheidungsmodus an die Bedürfnisse einer gegebenen Situation anzupassen. Mit Modus meine ich, wie die Organisation strukturiert ist und wie flexibel sie ist. Ich denke, dass Flexibilität tatsächlich das Zeichen von Reife ist. Man könnte es auch als Vertrauen beschreiben, denn nur wenn Vertrauen vorhanden ist, wird auch Flexibilität möglich.« Flexibilität bedeutet für ihn, dass sich eine Organisation bei wechselnden Anforderungen oder in Gefahrenlagen z. B. von einer fast hierarchielosen Organisationsform mit einer gewissen Leichtigkeit so wandeln kann, dass eine Zentralfigur die Richtung vorgibt. Ebenso schnell kann dann das Kollektiv weite Teile der Verantwortung übernehmen, sobald es wieder möglich bzw. die optimalere Form für alle Beteiligten ist.
Für Unternehmer, die sich auf den Weg der Reifung ihrer Organisationen begeben, sind Werte eine zentrale Orientierung. Prozesse der Entwicklung oder Reifung bedeuten auch, dass sich diese Werte entfalten und dass es in jeder Organisation Menschen mit unterschiedlichen Werten geben wird. Deshalb scheint es wichtig, Werte zu formulieren, die für Menschen unterschiedlicher Entwicklungsstufen einen Sinn ergeben. Dieser Sinn muss aber immer wieder dialogisch gefunden und erschlossen werden. Joachim Galuska hat dazu beispielsweise in seinem Unternehmen ausführliche Dialogprozesse für alle Mitarbeitenden eingeführt, die diese Werte, von ihm Essenzen genannt, immer wieder neu erforschen. So können Verschiedenheit und eine gemeinsame verbindende Sinnorientierung in eine kreative Spannung kommen, die Resilienz und Innovationskraft stärkt.
Der Managementberater Richard Barrett berücksichtigt diese Dynamik in seinem Modell werte-orientierter Organisationsentwicklung. In einer reifen Organisation ist es seiner Ansicht so, dass die Kernwerte der Leitung, der Belegschaft und der Organisation weitgehend übereinstimmen, was er als »niedrige kulturelle Entropie« bezeichnet. Gleichzeitig ist es ein Zeichen von Reife, wenn die Werte aller Bewusstseinsstufen vertreten und aktiv sind, was er »Full Spectrum Consciousness« nennt. Für solch eine dynamische Reife, in der verbindende Kernwerte und verschiedene Werte und Bedürfnisse der Menschen kombiniert werden, ist es wichtig, »sich über die erkannten Werte im Dialog auszutauschen. Das fördert die Reifung der Organisation, stärkt das Vertrauen und ermöglicht so die Flexibilität«, erklärt Fritz Bläuel.
Organisationen, die Reifung als Potenzial in ihren Sinn und ihre Arbeit integriert haben, können auch endlich das volle Potenzial der Mitarbeitenden erschließen. Der Entwicklungsforscher Robert Kegan und die Managementberaterin Lisa Lahey nennen diese Organisationen »Deliberately Developmental Organizations«. Solche Organisationen bieten einen sicheren, geschützten Rahmen und sind gleichzeitig so fordernd, dass die Beschäftigten sich nicht verstecken müssen und können.
ICH DENKE, DASS FLEXIBILITÄT TATSÄCHLICH DAS ZEICHEN VON REIFE IST.
Sie sind der Ansicht, dass die Mitarbeitenden oft enorme Ressourcen darauf verwenden, sich zu schützen, gut dazustehen, Fehler zu vertuschen u. ä. Ein großer Energieverlust, der zur Entwicklung des Unternehmens genutzt werden kann, wenn die Kultur einer Organisation für alle einen sicheren, unterstützenden und angemessen fordernden Raum für Entwicklung eröffnet. Wichtig ist auch hier, dass dieser Kernwert der persönlichen Reife für jeden Mitarbeitenden etwas anderes bedeuten wird. Solch eine Kultur bezeichnen sie als »Everyone Culture«, eine Kultur für jeden. Hier wird die Entfaltung des kreativen Potenzials der Mitarbeitenden und der Organisation als Ganzes zur wichtigsten Orientierung. Susanne Leithoff vom Institut für gesunde Organisationsentwicklung beschreibt diesen Imperativ so: »Eine reife Organisation verzichtet konsequent darauf, gesunde Entwicklungen zu behindern. Das gelingt, wenn individuell wie kollektiv verbindlich gilt: ›Nichts was wir tun ist es wert, dass es unsere Potenzialität und damit unsere Möglichkeiten zur bestmöglichen Wertschöpfung schwächt.‹« Diese Potenzialität ist die schöpferische Möglichkeit des Lebendigen, wie sie sich in den Menschen und der Organisation, die sie formen, ausdrücken will.
Die Vision reifer Organisationen wirft für mich auch ein neues Licht auf unsere gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen, bildet doch die Gesellschaft eine Art Meta-Organisation, in der wir alle leben und gestalten. Die möglichen Kernaspekte reifer Organisationen könnten uns hier Impulse zu einem reifen Miteinander geben: dialogisch Raum für Gemeinsamkeit und Verschiedenheit schaffen, Menschen wertschätzend, bestärkend und ko-kreativ beteiligen und in ihrer eigenen Reifung unterstützen sowie das Leben in seiner Unverfügbarkeit und schöpferischen Emergenz spüren und ermöglichen.