Türme und Zufluchtsorte

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

July 19, 2018

Featuring:
Andrew Kudless
Carl Henrik Knusten
Erik H. Erikson
Mick Pearce
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 19 / 2018:
|
July 2018
Stadt & Land
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Wie unsere Verkörperung unsere Lebensräume formt

Was hat Gender damit zu tun, wie wir unsere Städte gestalten und auf dem Land leben? Ziemlich viel. Denn um neue Lebensweisen zu entwickeln, müssen wir alte Ideen des Männlichen und Weiblichen transzendieren, die wir auch auf unsere Landschaften projiziert haben.

Es besteht eine fast unerträgliche Intimität, eine Symbiose, zwischen unserer Lebensweise und deren Auswirkungen auf die Erde, die uns hervorgebracht hat. Das Wasser in unseren Körpern fließt ebenso in Strömen und Flüssen. Die Mineralien in unseren Knochen formten auch die Rücken hoher Gebirgszüge. Unser aller Atem wird durch das Wunder der Fotosynthese, durch das wunderschöne Grün um uns herum ermöglicht. Obwohl wir die Selbstbewusstheit mit Delfinen, Elefanten, Elstern, Bonobos und anderen Arten teilen, sind wir die einzige Lebensform, welche die Fähigkeit besitzt, die Erde nach »unserem Antlitz« zu formen. Und wir tun es.

Von den frühesten Höhlen bis hin zu den Monumenten der Imperien und den Wolkenkratzern von New York, London und Schanghai sind wir mit heftigen Schritten und oftmals unbewusst über diesen Planeten, unsere Heimat, gegangen. Frühere Zivilisationen, zum Beispiel die Mayas und indigene Völker wie die Rapanui auf den Osterinseln, übernutzten das Land, auf dem sie lebten, und zerstörten sich auf diese Weise selbst. Natürlich haben sich die Auswirkungen unseres menschlichen Fußabdrucks in den vergangenen fünfhundert Jahren enorm vergrößert. Jetzt droht die Balance unseres Ökosystems, das uns am Leben erhält, zu zerbrechen. Die Art, wie wir auf dieser Erde leben, wie wir unsere Städte bauen, wie wir unser Land kultivieren, ist abhängig von unseren Grundüberzeugungen darüber, wer wir sind, und wozu wir hier auf der Erde sind. Viele der Vorstellungen, die zu unserer Klimakrise führten, haben mit den Geschlechtern zu tun; mit unserer Wahrnehmung, männlich oder weiblich zu sein, und den kulturellen Bedeutungen, die Männlichkeit und Weiblichkeit beinhalten. 

Genitalität und soziale Räume

Ich bin sehr fasziniert von einer kleinen Studie, die der geschätzte deutsch-amerikanische Psychologe Erik H. Erikson in seinem Klassiker »Kindheit und Gesellschaft« beschreibt. In dieser Studie bat er kleine Kinder, eine aufregende Kinoszene mit Hilfe von Bausteinen und Figuren darzustellen. Er stellte fest, dass Jungen am häufigsten Türme bauten, wohingegen Mädchen soziale Räume errichteten, die manchmal abgeschlossen, aber häufig auch offen waren. Erikson erkannte, dass unsere »Genitalität« eine tiefe und unbewusste Beziehung zum Raum prägt. Er interpretierte es auch so, dass Jungen den Wunsch haben, etwas in den äußeren Raum zu stellen; ein Versuch, die undefinierte Angst im Zusammenhang mit ihrer Männlichkeit zu kompensieren.

Ob die letztere Schlussfolgerung zutrifft oder nicht, die Beobachtungen von ­Erikson scheinen auch mit der Jugendzeit unserer Spezies zu korrelieren. Unsere frühen Vorfahren schufen kulturelle Räume, die unsere »Genitalität« reflektierten, wie Erikson es nannte. Der älteste von Menschenhand geformte Phallus, den man bisher gefunden hat, konnte 28.000 Jahre zurückdatiert werden. Das ist sehr früh in der Geschichte unserer Spezies – mehr als 10.000 Jahre vor den Höhlenzeichnungen von Lascaux. An Orten, die vor 30.000 Jahren von prähistorischen Stämmen genutzt wurden, finden sich Höhlen, die um die Öffnung herum mit rotem Ocker bemalt wurden, was an die weibliche Vaginalöffnung und den Geburtsprozess erinnert. Die Darstellung unserer intimsten Erfahrungen der Verkörperung in unserer Umgebung scheint eine der ersten symbolischen und kreativen Handlungen zu sein, die Menschen unternommen haben. 

Ich frage mich oft, was dies für unsere frühesten Vorfahren bedeutet hat. Die ersten ihrer selbst bewussten Menschen lebten wahrscheinlich in einem geheimnisvollen und beängstigenden Wirbel von Empfindungen und Eindrücken, die sich so anfühlten, als würde man im wachen Zustand träumen – wie es der Philosoph Jean Gebser formulierte. Er bezeichnete dies als »magisches Bewusstsein«, in dem die menschliche Erfahrung nicht von den Kräften und Bewegungen innerhalb der natürlichen Welt abgegrenzt ist. Dieses magische Bewusstsein beinhaltet auch ein neues Erwachen zur beschwörenden Kraft der Sprache und der Schaffung von Ritualen und Zeremonien, um die Kräfte zu besänftigen, welche Blitz und Sturm oder die Geburt eines deformierten Kindes verursachten.

Wie verstanden sie ihre »Genitalität« – Erektion, Ejakulation, Menstruation, Orgasmus, Schwangerschaft und Geburt? Waren es allesamt schreckliche Mysterien, die sowohl Bewunderung als auch Schrecken hervorriefen? Ocker an den Rand einer Höhle zu malen oder einen erigierten Phallus zu verehren, stellt eine magische Entsprechung zwischen unseren Körpern und der Kraft der fruchtbaren Erde her. Es gibt hier eine zirkuläre Beziehung: Die Mysterien unserer weiblichen und männlichen Körper werden im Außen symbolisiert und mit den Kräften der Natur verbunden, welche uns dann wiederum mit der lebendigen Erde verbinden. Wir selbst-bewussten Menschen begründen unsere Zugehörigkeit zur natürlichen Welt durch unsere genitalen Formen. 

Türme der Macht

Es genügt ein Blick auf die Skyline der meisten Hauptstädte und es wird klar, dass wir immer noch unseren Körper in den sozialen Räumen, die wir schaffen, darstellen – den männlichen Körper, wohlgemerkt. Wenn man einen beliebigen Wolkenkratzer beschreiben müsste, dann kommt er dem Ideal der modernen Männlichkeit sehr nahe: groß, allein, getrennt, dominant, unnachgiebig, rational geordnet ohne weiche Kanten. Und sie sind gigantisch. Wenn man am Boden steht und hinaufschaut, wird einem schwindelig. An Orten wie in Manhattan oder Hongkong waren Wolkenkratzer eine geniale Lösung für begrenzten Raum. Aber die senkrechte Bewegung nach oben, die diese glitzernden Türme beschreiben, vermittelt noch so viel mehr. 

Etwa seit dem letzten Jahrzehnt gibt es einen globalen Wettbewerb, wer das höchste Hochhaus bauen kann. Mir erscheint es als ein nur leicht verschleierter Kampf zwischen grundverschiedenen sozio-politischen Systemen und ihrem Wunsch, die Zukunft zu dominieren. (Interessant dabei ist, dass viele futuristische ­Science-Fiction-Filme in asiatischen Städten gedreht werden.) In einer faszinierenden Studie entdeckten Carl Henrik Knusten und ein Kollege von der Universität von Oslo eine Verbindung zwischen Wolkenkratzern und autokratischen versus demokratischen Regierungen. Die meisten der imposantesten Wolkenkratzer sind tatsächlich »Vanity Towers«, in denen ein hoher Prozentsatz der Etagen unbenutzbar oder unbewohnbar ist, und ihre Superhöhen wurden durch lange nadelartige Radio- und Kommunikationstürme erreicht. In Pjöngjang in Nordkorea steht das Ryugyong Hotel, auch bekannt als »Tower of Doom«. Es ist eine 330 Meter hohe Pyramide, die jahrzehntelang nicht fertiggestellt wurde. »Dieses Projekt verbrauchte eine große Menge an Ressourcen und diente niemals der Gesellschaft«, sagt Knusten, »außer dass es ein Symbol für das Regime ist.« Er kommt zu dem Schluss: Wolkenkratzer werden gebaut, um unter Autokraten Macht zu demonstrieren.

Ein weiteres Beispiel sind die Vereinigten Arabischen Emirate. Warum stellt man Wolkenkratzer in die Wüste, wenn es keinen Mangel an Bauland gibt und häufige Sandstürme die Windtunnel zwischen den Gebäuden zu echten Gefahrenzonen machen? Die Versuchung, die eigene Macht durch ein massives Symbol der Männlichkeit zu demonstrieren, scheint unwiderstehlich zu sein. Das höchste Gebäude der Welt ist momentan Burj Khalifa in Dubai, benannt nach dem Scheich, der es finanzierte. (In Saudi-Arabien wird mit dem Kingdom Tower gerade am neuen Anwärter für den höchsten Wolkenkratzer gebaut.) Die Wolkenkratzer in Abu Dhabi und Dubai waren unmäßig teuer im Bau (sogar mit De-facto-Sklavenarbeitern) und tragen zur Erosion der Küstenregion und zur Verknappung des Frischwassers in der Region bei. (Vielleicht wird sich das ändern, weil die Vereinigten Arabischen Emirate anordneten, dass alle zukünftigen Projekte mit »grünen« Standards vereinbar sein müssen.)

Das nicht nachhaltige Haus 

Die sozialen Räume, die wir schaffen – unsere Landschaften und unsere Stadtbilder – sind mit uns und mit unserem Sein tief verbunden. Wir können uns nicht vorstellen, dass sich ein afrikanischer Buschmann oder auch nur unsere Urgroßmutter in einem unserer Stahl-Glas-Türme zu Hause fühlen würde. »Gender ist eine Ursache für die Veränderung der Umwelt«, erklärt die Ökologin Andrea Nightingale, »in dem Sinne, dass Gender unauflösbar damit verbunden ist, wie Umgebungen gestaltet werden.« Das hat viele Dimensionen, aber das innere Empfinden für die Kongruenz zwischen dem verkörperten Selbstgefühl und den Räumen, die wir kreieren, hat eine starke emotionale Resonanz. Unser Zugehörigkeitsgefühl ist zutiefst verbunden mit dem Beziehungsnetz zwischen dieser verkörperten Resonanz, unseren frühesten Erfahrungen von Genährtwerden und Abenteuer, und unseren Sehnsüchten nach dem, was wir sein möchten.

Wie können wir erwarten, dass wir neue, nachhaltige Lebensräume finden, wenn wir unsere Städte aus unbewussten und nicht hinterfragten Annahmen gestalten? Die Entstehung von Städten, wie wir sie kennen, fällt mit dem Aufkommen der Moderne zusammen. Damit wurden die Polaritäten von männlich und weiblich, Arbeit und Zuhause, öffentlich und privat, Kultur und Natur zu einer zugespitzten sozialen Realität.

Aber die von der Natur getrennte Stadt war nicht die einzige nicht nachhaltige Folge, als die Moderne die Welt aus einem dualistischen Bewusstsein erschuf. Die weibliche Sphäre – der schöne, geschützte Raum – belastet das Ökosystem schwer. Wir denken gern, dass das Haus außerhalb der Stadt ein warmer und angenehmer Ort der Zuflucht und Erholung von der anonymen Anstrengung des Stadtlebens ist. In der Tat war dies die Absicht: dem arbeitenden Mann eine weibliche Zufluchtsstätte zu bieten, die seine Frau, der »Engel des Hauses«, in Ordnung hielt. Das Gefühl, dass uns ein eigenes Haus zusteht, das durch Besitz und Konsumdenken genährt wird, führt dazu, dass wir diese Situa­tion als »natürlich« ansehen. Es ist auch der Ort, wo wir zum ersten Mal Nähe und Genährtsein erfahren, deshalb spüren wir mit dem privaten familiären Raum eine besondere Resonanz. Aber das ist nicht nachhaltig. Deshalb ist es nicht die Antwort, wenn wir das Weibliche und eine (konstruierte) Idee von Natur als Antwort anpreisen. Wenn wir uns selbst und unsere Lebensweise auf dieser Erde jenseits der dualistischen Welt der Moderne neu erfinden wollen, müssen wir untersuchen, auf welche Weise unser Denken über Männlichkeit und Weiblichkeit Teil des Problems ist. 

Von den Termiten lernen

Wenn unsere modernen männlichen wie auch unsere weiblichen Modi zur Entwicklung von Lebensräumen problematisch sind, was bleibt uns dann noch? Ich würde vorschlagen, dass unsere Zukunft gemeinschaftlich sein wird. Ja, wir haben ein Bedürfnis nach Privatsphäre entwickelt, aber dieses Bedürfnis sollte nicht unser vielleicht noch größeres Bedürfnis nach Verbindung und Gemeinschaft überlagern – wie es heute oft der Fall ist. Experimente mit Co-Housing und Smart Villages, global vernetzte Dorfgemeinschaften, deuten auf neue Möglichkeiten hin. Zudem gibt es bemerkenswerte Experimente, die sich an der Natur orientieren, um menschliche Lebensräume so zu gestalten, dass sie mit dem natürlichen Lebensraum eines Ökosystems übereinstimmen. Diese Alternativen können funktionieren, wenn wir unser Verlangen nach dem Glitzern und der Macht der Wolkenkratzer oder der privaten Behaglichkeit des Hauses überwinden können. 

Nehmen wir zum Beispiel das Problem der Städte in der Wüste, wo es zu viel Hitze und zu wenig Wasser gibt. Der US-amerikanische Architekt Andrew Kudless hat einen unterirdischen, höhlenartigen Stadtraum konzipiert, der das hindurchfließende Wasser sammelt und aufbewahrt. Ein anderes Beispiel kommt aus einer überraschenden Quelle: Termitenhügel in Afrika. Der simbabwische Architekt Mick Pearce hat Gebäude entworfen, die die genialen Methoden nutzen, die Termiten anwenden, um in ih­ren gewaltigen Hügel eine stabile Innentemperatur zu gewährleisten, damit in einem heißen Klima keine Klimaanlagen nötig sind. Wie ein Autor auf »Green Prophet«, einem Blog für Nachhaltigkeit im Nahen Osten, schreibt: »Mr. Dubai, warum bauen Sie Ihr Hotel nicht wie einen Termitenhügel?«

Die Kreativität des Kosmos hat Wunder hervorgebracht, die das, was Menschen sich jemals vorstellen können, weit übersteigt. Unsere Freunde, die Termiten, haben auf ihre Größe bezogen weit, weit größere Strukturen gebaut als wir. Ich frage mich: Was wäre, wenn unsere Fähigkeit, zusammen etwas zu kreieren, so koordiniert wäre wie bei den Termiten, den Bienen oder Ameisen – aber selbst-gewahr? Könnten wir auf die dynamische Ganzheit der Natur zurückgreifen, damit sie uns zeigt, wie wir auf diesem Planeten zusammenleben können? Stellen Sie sich vor, wie es wäre, ein Kind in einer Welt zu sein, in der unsere Kreativität und unser Gefühl einer tiefen Verbundenheit uns nicht durch fragmentierte Identitäten trennen würde. Stellen Sie sich vor, was es für die Menschen auf diesem Planeten bedeuten würde, wenn der Westen die Macht der Technologie mit der Kreativität der Erde verbindet. Dann wären wir ganz andere Männer und Frauen. Stellen Sie sich das nur einmal vor.  

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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