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Published On:

April 17, 2019

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Ausgabe 22 / 2019:
|
April 2019
Soziale Achtsamkeit
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Wie aus Kreativität Freiheit entsteht

Als Künstler gestaltet Stefan Krüskemper Prozesse im öffentlichen Raum an ganz unterschiedlichen Orten wie Rostock, Ramallah, Bogotá oder Bangalore. Welche neuen Potenziale werden durch künstlerische Arbeit im sozialen Gefüge möglich? Und durch welche Haltung wird Achtsamkeit in solchen gesellschaftlichen Feldern wirksam?

Foto: VG Bild Kunst Bonn für Stefan Krüskemper

evolve: Sie arbeiten als Künstler mit Aktionen und Interventionen im öffentlichen Raum. Ein Bildhauer arbeitet mit Holz oder Stein, ein Maler arbeitet auf einer Leinwand – mit welchem Material arbeiten Sie?

Stefan Krüskemper: Mein Material ist zunächst meine Fähigkeit, zu denken, mich einzufühlen, einen Kontext zu verstehen. Eine künstlerische Konzeption, die das zur Grundlage nimmt und unterschiedliche Aspekte in eine Balance bringt, kann einen Raum eröffnen, für mich, aber auch für andere. Wenn ich dann in die Stadt gehe, Begegnungen suche, bin ich offen dafür, wie sich ein Projekt in diesem Rahmen entwickelt. Was dann entsteht, basiert auf der Kreativität der Menschen. Hier würde ich nicht von Material sprechen, sondern es erwächst ein Prozess, der darauf basiert, dass der Rahmen sicher trägt und sich jeder mit seinen Fähigkeiten einbringen kann.

In dem Moment, wo jemand versucht, seine eigene, manchmal verschüttete Kreativität zu aktivieren, berührt das den inneren Kern seiner Persönlichkeit. Wenn man sich in einer Gruppe öffnet, das zarte Pflänzchen der eigenen Ideen ernst nimmt, kann im geschützten Möglichkeitsraum so eines Projektes Kunst entstehen. Vielleicht verändert sich das Zusammenleben und -wirken. Kunst kann im besten Fall einen Emanzipationsprozess anstoßen, der aus diesem inneren Kern und dem Wiederentdecken der eigenen Fähigkeit erwächst, kreativer Gestalter seiner Lebensumwelt zu sein.

e: Wie sind Sie zu dieser Arbeit mit Begegnungsräumen gekommen?

SK: Nach meinem Architekturstudium habe ich »Kunst im öffentlichen Raum« studiert und arbeite seitdem in diesem Spannungsfeld. Ein Künstler, der im öffentlichen Raum agiert, dem Ort für Kommunikation und Begegnung, hat zwangsläufig mit den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern zu tun. Über die Beschäftigung mit dem öffentlichen Raum bin ich sehr schnell zu partizipativen Ansätzen gekommen, die mittlerweile der Kern meiner Arbeit sind. Für mich kann Kunst im öffentlichen Raum nur dann entstehen, wenn sie in diesem Feld verschiedener Beteiligter und Akteure wirkt und mit diesen eine Beziehung herstellt. Durch diese Arbeit habe ich die verschiedensten Gruppierungen von Menschen kennengelernt und mit ihnen zusammengearbeitet, beispielsweise bei einem Projekt in Rostock oder in Ramallah in der Westbank.

Der eigentliche Sinn der Achtsamkeit besteht darin, den Menschen in seiner Besonderheit zu sehen.

Mittlerweile sehe ich es als einen ganz wesentlichen Teil meiner Arbeit im sozialen Raum an, einen Vertrauensprozess herzustellen, anzuleiten, und daraus eine gemeinsame Kreativität zu generieren. Ich komme nicht als Künstler, der das Projekt im Grunde schon fertig konzipiert hat und dann machen die Leute mit. Stattdessen soll wirklich im Sinne einer multiplen Autorenschaft etwas Gemeinsames entstehen.

e: Ihre Arbeit erinnert mich in manchem an die Soziale Plastik, wie sie Joseph Beuys formuliert und umgesetzt hat. Sehen Sie Ihre Arbeit in diesem Bezug?

SK: Ja, Beuys ist der große Lehrende, der uns mit dem Begriff der Sozialen Plastik einen neuen Blick geschenkt hat. Ich sehe mich ganz stark in dieser Tradition. Von Beuys stammt auch der Satz »Jeder Mensch ist ein Künstler«, das würde ich allerdings auch kritisch hinterfragen. Denn was ist dann eigentlich Kunst, wie entsteht das Besondere der Kunst? Durch künstlerische Kompetenz? Durch authentische Erfahrungen? Aus meiner Praxis sehe ich immer deutlicher, dass sozial engagierte Kunst aus einem Gemeinsamen entsteht, aus dem Einbringen diverser Fähigkeiten und Erfahrungen in den künstlerischen Prozess. Beuys‘ Projekt 7000 Eichen in Kassel lebt beispielsweise als sozialer Prozess und ist nur ein Kunstwerk, wenn sich viele Menschen daran beteiligen.

e: Wie kann solch ein sozialer Prozess mit Achtsamkeit in Verbindung gebracht werden?

SK: Für mich geht es dabei immer um die Menschen, die mir gegenüberstehen und mit denen ich in Begegnung bin. In einem Kunstprojekt kann ich in dieser Begegnung den anderen sehen, in seiner Besonderheit und Einzigartigkeit, und kann daraus aktiv werden. Das ist der Kern, den ich sehe, ob man das jetzt Christusimpuls oder ganz anders nennt. Der eigentliche Sinn der Achtsamkeit besteht darin, den Menschen in seiner Besonderheit zu sehen. Dadurch kann eine tiefe Verbindung miteinander und ein freies Menschsein entstehen. Darin kann jeder aus seinem inneren Kern, aus dem Impuls, aus der Art, wie er in der Welt steht, dem Werdenwollen, seine Individualität entwickeln. Ich glaube, dass sich auch eine Gesellschaft nur aus diesen freien Individuen entwickelt – ein Wir entsteht nur aus starken Ichs. Daraus kann mit einem Menschen oder einer Gruppe von Menschen eine starke Verbindung entstehen, die stärker ist als eine, die nur auf Sachargumenten basiert.

e: Darin höre ich, dass in der Achtsamkeit für die Freiheit dieses Begegnungsraumes etwas freigelegt werden kann, was sonst oft verstellt wird. Als Künstler können Sie diesen inneren Kern der Nicht-Bedingtheit der Begegnung herausarbeiten. Dadurch entstehen Begegnungsräume, die von Sachzwängen freigehalten werden und wo zwischen uns etwas entstehen kann, was vielleicht inniger mit uns zu tun hat, als diese Sachzwänge.

SK: Sie sagen das sehr schön, ich möchte das aus meiner praktischen Arbeit heraus illustrieren. In Rostock-Lichtenhagen habe ich 2017 eine performative künstlerische Intervention mit dem Titel »Gedenkstücke« realisiert. Der Anlass war das Gedenken an die Ausschreitungen von 1992 gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter. Zusammen mit Rostocker Bürger:innen haben wir in einem gemeinsamen Prozess Gesangsstücke für fünf verschiedene Orte und Kontexte entwickelt. Die dokumentarischen Songtexte entstanden aus Archivmaterialien von den damaligen Ereignissen und wurden mit Rostocker:innen, die gerne singen, improvisierend eingeübt.

In dem Moment, wo Menschen ihre eigene Stimme, dem ureigensten Mittel des Künstlerischen, entwickeln und erheben, um sich im öffentlichen Raum zu positionieren, darin zu agieren und ihre Kreativität offen zeigen, verändern sie sich. Dieses Projekt hat die beteiligten Menschen mit ihrem Mut verändert, aber es hat auch die Stadtgesellschaft verändert. Ein Dialog wird möglich, weil die Menschen aus dieser Verletzlichkeit anders agieren und anders miteinander reden, sich in der Kunst spiegeln. Solche Interventionen sind natürlich nur Impulse, aber sie leben weiter.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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