Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
January 31, 2019
Könnte es sein, dass jede Gesellschaft ihre eigene Religion hat? Wenn wir Religion nur als die traditionellen Institutionen verstehen, die es heute überall auf der Welt gibt, übersehen wir eine wichtige Aufgabe der Religion: kulturellen Zusammenhalt zu schaffen. Aus dieser Perspektive untersucht Elizabeth Debold die Geschichte der Religion und die überraschende »religiöse« Rolle, die Gender in den vergangenen Jahrhunderten gespielt hat.
Mich fasziniert der Ursprung von Worten, und wenn ich tief in ein Thema eintauche – wie das der Religion –, finde ich die Wurzel von bestimmten Begriffen oft sehr erhellend. Häufig entdeckt man, wie sich die Bedeutung der Worte im Laufe der kulturellen Entwicklung verändert. Also: Religion kommt aus dem lateinischen religare, was sich binden bedeutet. Und es wird noch spannender: Das Wort religio meint eine Pflicht, Verpflichtung oder Bindung, insbesondere zwischen Menschen und Göttern. Es bedeutet auch Respekt für das Heilige, Ehrfurcht, eine moralische Verpflichtung, Gottesdienst oder sogar Heiligkeit. Im 5. Jahrhundert steht Religion für ein klösterliches Leben, ein an ein Gelübde gebundenes Leben. Erst um das Jahr 1300 herum bezeichnen wir mit Religion ein Glaubenssystem oder bestimmte Glaubenssätze. Um 1530 herum, zur Zeit Luthers, wird Religion benutzt, um ein Leben zu bezeichnen, das im Anerkennen einer höheren, unsichtbaren Macht geführt wird, die dem eigenen Leben Ausrichtung gibt.
Diese kurze Geschichte legt nahe, wie neu unser Verständnis von Religion ist. Geschichtliche Prozesse sind lang und verlaufen mäandernd, aber das Wort Religion erhält wohl erst mit der Geburt der Moderne seine gegenwärtige Bedeutung. Ironischerweise bringt die Moderne anscheinend gleichzeitig das Konzept von Religionen und den aufgeklärten Geist hervor, der den Tod Gottes verkündet. Die Vorstellung von Religion als eine Lebensweise, die ein Glaubenssystem unterstützt, entstand in einem Kontext, der bereits säkular geworden ist. Und das Wort säkular, das vom lateinischen saeculum abstammt, was Generation oder Zeitalter bedeutet, erhält um das Jahr 1300 – zur gleichen Zeit, als Religion benutzt wurde, um ein Glaubenssystem zu bezeichnen – auch eine neue Bedeutung: das weltliche Leben außerhalb eines klösterlichen Ordens. In dieser Zeit trennte sich in der westlichen Welt die Suche nach dem Heiligen von den Leben, die wir lebten.
Die Heiligkeit der Schöpfung wurde durch die Heiligkeit des Schöpfers ersetzt.
Das alles warf für mich einige Fragen auf: Wenn Religion das ist, was uns verbindet, was schuf diese Verbindung, bevor Religion zu etwas wurde, das von unserem täglichen Leben getrennt war? Was hielt die Kultur zusammen? Eine zweite Frage ist: Wenn wir diese »Verbindung« als wesentlich für unseren kulturellen Zusammenhalt sehen, was hält uns dann in unserer heutigen säkularen Gesellschaft zusammen? Meine dritte Frage betrifft die Zukunft: Was könnte uns, wenn wir über unsere gegenwärtige pluralistische, säkulare Kultur hinausgehen, auf eine Weise zusammenhalten, die unsere Trennung zwischen dem Heiligen und dem Weltlichen wieder heilt?
Natürlich spielt für mich bei diesen Überlegungen darüber, was uns in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft miteinander verbindet, das Thema Gender eine wichtige Rolle – Gender verstanden als die Art und Weise, wie wir unsere unterschiedlichen Körper mit ihren verschiedenen Rollen in der Fortpflanzung verstehen und manchmal fetischisieren.
»Man kann den europäischen Gott nicht erkennen. Er ist unsichtbar. Man kann ihn weder berühren noch sehen«, sagte mir eine amerikanische Freundin mit indigenen Wurzeln. »Aber für uns ist Gott überall – der Wind, der meine Haut berührt, die Wärme der Sonne.« Vater Himmel und Mutter Erde, die Vier Heiligen Elemente, die Vier Himmelsrichtungen. Die immanente Heiligkeit des Lebens, die von den indigenen Menschen auf unserem Planeten erfahren und gefeiert wurde, kann nicht vom Alltagsleben getrennt werden. Das ist mit ein Grund dafür, dass unsere Vorfahren kein Wort für Religion in unserem heutigen Sinne hatten und die Trennung zwischen der Hingabe an das Göttliche und dem Leben, das sie lebten, für sie nicht existierte. Für die indigenen Völker und Kulturen, die ursprünglich auf unserem Planeten lebten, war das ganze Leben durchdrungen von den Kräften der Natur. Die großen Mysterien von Geburt und Tod, Schöpfung und Zerstörung waren allgegenwärtig. Natürlich waren Rituale und Zeremonien ein besonderer und wichtiger Teil des Gemeinschaftslebens. Aber diese besonders intensiven Erfahrungen verstärkten die Verbindung zu den Geistern, die allem ihre Gegenwärtigkeit und Dynamik gaben.
Von unserer heutigen Perspektive aus sehen wir in diesen erdbezogenen Kulturen oft eine Verehrung der Frauen und ihrer Fähigkeit, Leben zu gebären, als das »Sacred Feminine«, das Heilige Weibliche. Das ist zwar nicht falsch, zeigt aber in eine falsche Richtung. Wir postmodernen Menschen im Westen haben das Bedürfnis, die jahrhundertelange kulturelle Dominanz des Mannes auszugleichen, indem wir Frauen gegenüber Männern ein stärkeres Gewicht verleihen oder den Frauen und allem Weiblichen einen besonderen Wert zuschreiben. Aber dadurch wird unser Blick auf diese Kulturen verzerrt. Gender – Männlichkeit und Weiblichkeit – war für sie keine Identitätskategorie, die Trennung oder Dominanz schuf. Ja, es gab spezielle Rollen für Männer und Frauen. Und es gab eine Menge Überschneidungen. Bei vielen frühen Völkern finden wir häufig mehr als zwei Geschlechter – oft drei oder sogar fünf. »Two-Spirit«, »Zwei Geister«, ist ein Name, den man Menschen gab, in denen sowohl Männlichkeit als auch Weiblichkeit lebte – wir könnten sie als »Trans« bezeichnen.
Worauf ich hinaus will: Der eigentliche Kern dieser erdverbundenen Kulturen ist »Spirit«, nicht das Heilige Weibliche oder das Heilige Männliche. Und »Spirit« ist die beseelende Kraft des Lebens in all seiner Vielfalt und Dualität. Unsere Vorfahren lebten auf den Ort bezogen, sie entdecken und verehrten die Geister des Ortes, in Zeiten der Fülle wie in Zeiten des Mangels. Ihr Eingebettetsein in den Lebensprozess war die verbindende Kraft, die sie als Kultur zusammenhielt und jeden Menschen an die Matrix des Lebens band. Es gibt keine »Religion« per se, getrennt vom täglichen Leben, weil das Alltägliche heilig ist.
Von Mutter Erde zur Materie
Das, was in einer Kultur den tiefsten Wert besitzt oder als besonders kostbar gilt, schafft Zusammenhalt und Bindung. Wir finden uns zu einer Einheit, wir werden eine Kultur durch unser gemeinsames Verständnis dessen, was das Wirklichste ist, und was uns durch die Berührung des innersten Mysteriums der Existenz mit dem Sinn des Lebens verbindet. Das ist das, was als heilig bezeichnet wird. In dem Sprung von einer Vielzahl von Erdgeistern zu dem Einen Gott entdeckten viele Menschen in den letzten Tausend Jahren eine neue Wirklichkeit und Endgültigkeit in einer alles durchdringenden Gegenwärtigkeit, die ihren Fokus von der Erde auf das Jenseits verlagerte. Die Heiligkeit der Schöpfung wurde durch die Heiligkeit des Schöpfers ersetzt. Aber ursprünglich wohnte Gott der Schöpfer nicht nur innerhalb der Kirchenmauern. Seine heilige Gegenwart durchdrang und erleuchtete alles. Sicher war ein Teil dieses Gespürs für das Mysterium reine Unwissenheit: Das Chaos der Natur, die Grenzen der Sterblichkeit und die Komplexität des menschlichen Charakters öffneten die Tür zum Aberglauben. Aber gleichzeitig war die Welt verzaubert von einem transzendenten Mysterium und dem unaufhörlichen Drang unserer Herzen, ihm zu begegnen.
Wenn wir das tiefste Gefühl vom Leben und seinem Mysterium nicht mehr teilen, was verbindet uns dann?
Als die Suche nach dem jenseitigen Gott zur Klosterbewegung des frühen Christentums (ca. 500 n. Chr.) führte, öffnete sich eine neue, heilige Sphäre, die das Alltägliche und die Suche nach dem Heiligen institutionell und sozial trennte. Dieses Streben nach dem Transzendenten öffnete sowohl dem Denken als auch dem Geist des Menschen neue Horizonte. Die Menschen im Westen begannen sich zu individuieren – sich selbst als getrennt von Natur und Gott zu erleben –, was schließlich zur Fähigkeit der Objektivierung und einer tieferen Reflexion führte. Descartes denkt sein Selbst – und uns alle, die ihm darin folgen – ins Sein. Wir brauchen Gott nicht mehr. Der fast 2.000 Jahre lange Weg, der zum modernen, individuierten Selbst führte, war gleichzeitig eine schrittweise Abspaltung von den tieferen Wirklichkeiten, die unsere Vorfahren miteinander verbanden.
Nur aus dieser Trennung heraus wurde die Religion zu etwas »Besonderem«, einer klar umrissenen Kategorie der Lebenserfahrung und der Praxis, die wir nicht alle teilen. Die moderne säkulare Kultur stellt eine interessante Frage: Wenn wir das tiefste Gefühl vom Leben und seinem Mysterium nicht mehr teilen, was verbindet uns dann? Die Wirklichkeit, die zu teilen uns die westliche Kultur einlädt, ist eine materielle Wirklichkeit. Dort, wo wir einmal Mutter Erde verehrten, kniet die Moderne vor dem Altar des Materiellen – durch Konsumismus und materialistische Wissenschaft. Ironischerweise entstammen Mutter und Materie derselben sprachlichen Wurzel.
Das Wesentliche jenseits der Materie
Die Beziehung zum allgegenwärtigen Gott wurde zu einer möglichen persönlichen Präferenz. Sie war nicht länger eine verbindende Kraft. Was könnte angesichts dessen eine tragfähige Grundlage der Moderne sein? Wissenschaft oder die empirische Erforschung der Natur wäre eine Möglichkeit. Aber ich schlage vor, dass eine andere Erfahrung diese Rolle übernommen hat: Die romantische Liebe wurde der Bereich unseres Lebens, in dem wir ekstatische Entrückung und religiöse Gefühle erfahren. Befreit von arrangierten Ehen und gesellschaftlichen Normen und ritualisiert in einem Kult der femininen und maskulinen Polarität, wurde das schwärmerische Ideal der romantischen Liebe zur zentralen Geschichte der säkularen Kultur. Der Held, der 40 Tage und Nächte in der Wüste verbringt, um seine Braut zu gewinnen … Die schöne Jungfrau, deren Gefühl von Liebe einem religiösen Erweckungserlebnis gleicht. … Vor einigen Hundert Jahren schienen die Unterschiede von Mann und Frau in Stein gemeißelt. Und das Bedürfnis der beiden Geschlechter, sich durch die Heirat gegenseitig ihr biologisches und kulturelles Schicksal zu erfüllen, schien als Verbindung stark genug zu sein. Das Gefährliche daran ist, dass diese »Religion« buchstäblich »hautdünn« ist.
Aus der Sicht unserer postmodernen Zeit ist die Vorstellung, dass unser Verständnis der Geschlechter und der Liebe sich niemals ändern wird, nahezu lächerlich. Die sichere körperliche Dualität, auf der diese Religion der romantischen Liebe beruht, wird von allen Seiten gleichzeitig angegriffen. Der grundlegende Vertrag zwischen den Geschlechtern in der bürgerlichen Mittelschicht – die Heirat als Handel zwischen der reinen und gebärenden Frau und dem Mann, der für sie sorgt und sie beschützt – verliert immer mehr an Gültigkeit. Die Forderung von Frauenrechten hat die Rolle und die Verantwortlichkeiten von Männern und Frauen so rasant verändert, dass unser Gefühlsleben dem nicht nachkommt. Die Transgender- und Schwulen-Bewegung kämpft für ihre Rechte und um Anerkennung und untergräbt gleichzeitig die Annahme, dass Sex unveränderlich und bipolar sei. So groß die Errungenschaft universeller Menschenrechte auch ist, wir können sie nicht teilen: Sie bestärken uns in der Wahrnehmung, unsere eigene kleine Insel einer individuellen Identität als unser »Recht« und unseren Rückzug zu beanspruchen. Das, was unsere gemeinsame Grundlage sein sollte, endet darin, uns zu spalten.
Diesen Weg der Spaltung und Fragmentierung können wir weitergehen, aber kulturell würden wir ihn meiner Meinung nach nicht überleben. Während wir den Glauben an die romantische Liebe verlieren und in unterschiedliche Identitäten auseinanderfallen, die sich verschiedenen Ideologien zugehörig fühlen, ist es kein Wunder, dass die kommerziellen Werte des Marktes in das dadurch entstandene Vakuum eindringen. So verbinden wir uns heute mehr und mehr mit rein pragmatischen und vertraglichen Vereinbarungen – sogar in der Liebe. Aber ist das Religio? Können die Werte des Marktes jemals so tief sein, um uns wirklich zu nähren und unsere menschliche Sehnsucht zu erfüllen, das Mysterium zu umarmen? Natürlich nicht.
Ich glaube, es gibt eine Alternative – und diese Alternative ist schon jetzt bemerkbar. Eine neue »Religion«, eine neue Form der Verbindung mit dem heiligen Ganzen und Miteinander, muss in einer postsäkularen Gesellschaft auf den Rechten und der Vielfalt unserer bestehenden Kultur aufbauen. Es kommt keine neue Kirche und kein neuer Gott. Wir sehen die Sehnsucht nach Tiefe und Ganzheit in den vielen Menschen, die sich als »spirituell aber nicht religiös« bezeichnen. Aber diese und andere kulturelle Strömungen, wie das Interesse an indigener Weisheit oder der Druck des Klimawandels, brauchen ein tiefes Gewahrsein, dass wir nicht getrennt sind. Nur so schaffen wir einen Kontext, der nicht im Individuellen stehen bleibt, sondern in dem wir uns als Individuen in Verbundenheit begegnen. Das »Ich« muss zum »Wir« werden.
Viele Menschen sind unglücklich mit den leeren Versprechungen der Religion der romantischen Liebe.
Zuletzt möchte ich – vielleicht überraschend – auf den intensiver werdenden »Gender War« und die zunehmende kulturelle Aufmerksamkeit für alternative »Gender Identities« als einen möglichen Hebel für eine umfassende kulturelle Transformation hinweisen. Diese Entwicklung hat alarmierende und auch gefährliche Aspekte. Aber vielleicht ist sie auch ein Weckruf. Viele Menschen sind unglücklich mit den leeren Versprechungen der Religion der romantischen Liebe, ihren Verlockungen von Liebe und Konsum. Viele junge Menschen wollen aus den Schubladen der Geschlechter ausbrechen, die sie zunehmend als Zwang erleben. Diese Unzufriedenheit ist real und zerstörerisch. Sie wird zur Verzweiflung führen – einige werden fordern, dass wir zu den alten einfacheren Zeiten zurückkehren sollten, in denen »ein Mann ein Mann und eine Frau eine Frau« war. Aber das ist nicht der Grund für unsere Schwierigkeiten. Stattdessen wird uns eine neue Religio in dem miteinander verbinden, was wesentlich ist. So kann ein neuer Sinn des Heiligen, einer heiligen Lebendigkeit entstehen. Das wäre ein neuer, gemeinsamer Weg in die Zukunft, vereint im Spirit und bereit, unsere Unterschiede anzuerkennen, auch zum Wohl unserer gemeinsamen Mutter: der Erde. Das ist nicht nur möglich. Es hat bereits begonnen.