Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
November 6, 2020
Für diese Ausgabe von evolve stellt Thomas Steininger John Vervaeke vor, Professor für Kognitionswissenschaften an der Universität Toronto, der auf YouTube eine 50-teilige Vortragsreihe mit dem Titel »Awakening from the Meaning Crisis« veröffentlicht hat. Diese anspruchsvollen einstündigen Vorlesungen erreichten weltweit bis zu 150.000 Zuschauer. Und das hat seinen Grund. Die Kognitionswissenschaft ist eine junge, interdisziplinäre, ja integrale Wissenschaft, und Vervaeke eröffnet mit einem erstaunlichen enzyklopädischen Wissen aus Anthropologie, Kulturgeschichte, Neurowissenschaft, KI-Forschung, Linguistik, Psychologie und Philosophie ungewöhnliche, neue Perspektiven auf die Sinnkrise unserer Zeit. Ein perfekter Einstieg für unsere Ausgabe über die Suche nach Sinn und die Sinnkrisen unserer heutigen Zeit.
Im vergangenen Sommer schickte mir eine Kollegin aus den USA ein Video, in dem John Vervaeke im Gespräch mit Nora Bateson zu sehen ist. »Kennt ihr ihn? Er scheint genau über eure Themen zu sprechen«, schrieb sie. Ich schaute mir das Video an, und dank der Algorithmen von YouTube entdeckte ich mehr – viel mehr – von diesem Kognitionswissenschaftler aus Kanada. Was ich sah, beeindruckte mich. Mit ungewöhnlicher Bildung und klarem Sachverstand schien hier jemand über die Wurzeln unserer gegenwärtigen Sinnkrise zu sprechen: Die Klima- und Gesundheitskrise, die weltweite Armut und das Wohlstandsgefälle, die Sucht- und Selbstmordkrise, über die nicht viel gesprochen wird, das Gefühl des Verlustes, der Verlassenheit und des Nihilismus inmitten eines empfundenen Systemkollapses – all das, so seine These, hat mit einer tiefen Sinnkrise zu tun. John sprach Dinge an, deren ich mir bewusst war, aber vieles kannte ich so nicht. Während des Interviews, das wir letztlich zu diesem Thema führten, brachte er seine Sicht so auf den Punkt: »Wir im Westen leiden an einer Krise der Weisheit.«
Eine Krise der Weisheit als die entscheidende Krise unserer Zeit? Diese Diagnose, und noch dazu von einem Wissenschaftler, ist ungewöhnlich. Die Weisheitstraditionen der großen Religionen haben in der modernen westlichen Kultur eine Außenseiterrolle. Sie bestimmen unsere Kultur nicht. Die Wissenschaft, die Psychologie und auch die Vielzahl der modernen und postmodernen Therapien und sozialen Praktiken konnten dieses Vakuum nicht füllen.
KANN ES GELINGEN, WEISHEIT ALS KULTURGUT ZURÜCK IN DIE MITTE DER GESELLSCHAFT ZU BRINGEN?
In unserer säkularen Kultur ist Weisheit mehr ein Privatvergnügen. Die Tatsache, dass ein Wissenschaftler wie John Vervaeke diese Frage nach der Weisheit von einem zeitgenössischen, wissenschaftlichen Standpunkt aus anspricht, erlaubt uns, auf eine neue Weise darüber zu reden. Kann es gelingen Weisheit als Kulturgut zurück in die Mitte der Gesellschaft zu holen? Um diese Frage zu beantworten, bat ich John Vervaeke, in einem Interview sein Verständnis der Sinnkrise mit mir zu teilen. Was haben wir verloren? Wie kann es vielleicht auf eine neue Weise wiederentdeckt werden?
Die Sinnkrise
Offensichtlich geht etwas zu Ende. Die westliche Welt, so wie wir sie kennen, ist tief verunsichert. Vor den beiden Weltkriegen war unser abendländisches Selbstverständnis noch intakt. Der Westen war die Zukunft der Welt. Die Kriege, der Holocaust und der Gulag haben dieses Selbstvertrauen gründlich erschüttert. Aber mit Amerika fand der freie Westen in den 50er-Jahren zu einer neuen Zuversicht, eine goldene Zukunft vor sich zu haben. Auch das hat sich geändert.
Unser wachsendes Bewusstsein für die Auswirkungen fossiler Brennstoffe, die Zerstörung der Lebensräume, das Scheitern vieler kapitalistischer Versprechen und demokratischer Hoffnungen hat uns beunruhigt. Wir glauben nicht mehr an uns selbst. Wir »fremdeln« in unserer eigenen Welt. In den ersten Jahrhunderten der Moderne gaben uns unsere christlich-abendländischen Werte einen klaren moralischen Kontext. Heute haben wir uns, mit Ausnahme einiger Fundamentalisten, von diesem starren Wertekanon entfernt. Auch die Werte der Aufklärung stehen mit ihrer kolonialen Geschichte auf der Anklagebank. Auch unser Glaube an den Fortschritt ist erschüttert. Wer sind wir? Und wer wollen wir sein?
Aber dieser Verlust des Glaubens an Technologie und Fortschritt ist nur der jüngste »Heimatverlust«. Wir haben uns vor allem von den tieferen Quellen der Weisheit abgekoppelt, die auch in der europäischen Tradition eine große Rolle spielten. John Vervaeke bemerkt: »Die Religion gab den Menschen zuverlässig eine Weltanschauung, die ihnen ein Zuhause gab und in der sie Weisheit kultivieren konnten. In der säkularen Welt haben wir diese Weltanschauung verloren. Wir hofften, dass politische und sozioökonomische Strukturen sie ersetzen und das Gleiche leisten könnten. Die Politik gibt heute vor, sich mit dem menschlichen Streben nach Glück zu befassen – was immer das heißt. Dabei ist sie zu einem ideologischen Wettbewerb verkommen. Sie macht uns für genau die Ebene blind, mit der wir uns bei solchen Fragen befassen müssen. Der Aufstieg des Säkularismus mit seinem rein gesellschaftspolitischen Diskurs hat also unser Getrenntsein verschärft.«
Durch Verbundenheit entsteht Sinn und das ist der Kern von Weisheit. »Weisheit bedeutet nicht nur, Unterscheidungsvermögen zu entwickeln«, erklärt er. »Sie bedeutet, sich mit den Dingen auseinanderzusetzen, die uns von jener Verbundenheit abgeschnitten haben, die letztlich der Sinn des Lebens ist.«
Die Weisheitstraditionen
Die ersten Weisheitstraditionen waren die schamanischen Traditionen. Vor etwa 40.000 Jahren, während der jungpaläolithischen Revolution, entdeckten wir Menschen die Welt der Symbole, die Sprache, die Rituale und die schamanische Trance. Die Schamanen reisten mit ihren magischen Riten, die für Vervaeke dem gleichen, was wir als Flow-Erfahrungen kennen, in unbekannte bedeutungsvolle Geisterwelten – Welten, aus denen sie zurückkamen, um mit ihren Erkenntnissen ihrem Volk Sinn und Weisheit zu vermitteln.
Mit der geschichtlichen Entwicklung der ersten großen Reiche zerfielen viele dieser kleinen regionalen Gesellschaften und mit ihnen ihre indigenen Praktiken zur Deutung der Welt. Das letzte prägende Ereignis dieses Übergangs in eine neue Zeit war die Eroberung großer Teile Eurasiens durch Alexander den Großen. Sie brachte eine Synthese vieler regionaler Götterwelten innerhalb einer neuen, hellenistischen Welt. In dieser hellenistischen Achsenzeit, eine frühe Form der Globalisierung, sieht Vervaeke einen ersten Fall von »Domizid«, des Heimatverlusts vieler kleinräumiger Kulturen. Die alten, regionalen Mythen hatten Mühe, in dieser neuen Welt weiter auf die gleiche Weise Sinn zu stiften, wie sie es über Tausende Jahre vermochten.
Doch aus dieser historischen Krise ging die Revolution der Achsenzeit hervor. Es entstanden die neuen Weisheitstraditionen der großen Weltreligionen, die griechische Philosophie, Buddhas Weg der Erlösung, das prophetische Judentum und später das Christentum oder der Islam sowie im Osten Asiens der Konfuzianismus und der Taoismus. Ihr Weg zur Weisheit war neu. Gerade die griechische Philosophie entwickelte eine neue Weltanschauung, mit einer übergeordneten idealen und transzendenten Wirklichkeit, mit der wir Menschen uns verbinden können.
Wir alle haben ein intuitives Verständnis dafür, was eine »Weltanschauung« ist. John Vervaeke und sein Ko-Autor Christopher Maestropietro bestimmten diesen Begriff in ihrem Buch »Zombies in Western Culture« mit wissenschaftlicher Präzision: »Eine Weltanschauung beinhaltet zwei Dinge gleichzeitig: (1) ein Modell der Welt und (2) ein Modell für das Handeln in dieser Welt. Es macht das Individuum zu einem handelnden Akteur, und es macht die Welt zu einer Arena, in der diese Handlungen Sinn machen. Die Übereinstimmung zwischen ›Akteur‹ und ›Arena‹ schafft Sinn im Leben.« Sie »geben sich gegenseitig Sinn und bestätigen gegenseitig ihre Existenz und Verständlichkeit.« Eine Weltanschauung eröffnet die Möglichkeit, im Kleinen wie im Großen Sinn zu schaffen: »Ein Mann schneidet einige Blumen und bringt sie in seine Wohnung. Er gibt die Blumen der Frau, die mit ihm dort wohnt. Innerhalb ihrer Weltanschauung wird ein ansonsten rudimentärer Akt zum Prisma für eine neue Deutung, die das Wesen ihrer Beziehung zueinander vertieft. Mit dem Verschenken der Blumen zeigen sich viele Bedeutungen: Der Mann wird zum Liebenden, sie zur Geliebten, ihre Wohnung zu einem Heim und die Blumen zu einem Fest.«
DIE WESTLICHE WELT, SO WIE WIR SIE KENNEN, IST TIEF VERUNSICHERT.
Weltanschauungen geben Bedeutung. Sie zeigen uns den Sinn der Welt. Durch die neuen Weisheitstraditionen der Achsenzeit konnten die Menschen ihre Selbstständigkeit auf eine neue Art und Weise ausdrücken und der größeren Komplexität ihrer neuen Welt begegnen. Mehr noch als bei den schamanischen Praktiken ging es jetzt um persönliche Transformation. Sie boten uns Weisheit, um uns für eine wesentlichere Wirklichkeit zu öffnen, damit wir selbst weisere Menschen werden können. In Platons Ideenwelt konnten wir eins werden mit der Idee des Guten. Oder in der großen Geschichte des Volkes Israels konnten wir uns mit dem einen Gott verbinden, der uns im Verlauf der Zeit in das zukünftige Heil führt. So wurden wir Teil seiner Heilsgeschichte. Mit diesen neuen Welten konnten wir mit etwas verbunden sein, in dem sich der Sinn der Welt zeigte. Rituale, Praktiken und Lebensschulen öffnen uns für diese andere, tiefere oder höhere Welt, damit das existenzielle Wissen ihrer Wahrheit uns zu einem ethischen und weisen Menschsein verhilft.
»Eine Weltanschauung ist im kulturellen Bereich vergleichbar mit der Ökologie in der biologischen Welt«, schreiben die beiden Autoren. »Die Übereinstimmung zwischen dem Akteur und der Arena spiegelt die darwinistische Übereinstimmung zwischen einem Organismus und seiner ökologischen Nische wider. Eine fluide Weltanschauung gleicht einer gesunden und ausgewogenen Ökologie. So wie es die Möglichkeit einer ökologischen Krise gibt, so gibt es aber auch die Möglichkeit einer Krise der Weltanschauung.«
Heute befinden wir uns in einer Zeit der Globalisierung, welche die Eroberung Alexanders in den Schatten stellt. Wieder sind wir mitten in einer fundamentalen Krise der Weltanschauung. Und gleichzeitig gibt uns die Welt der Wissenschaft, des Säkularismus, der Politik und der Wirtschaft keinen existenziellen Halt für unser Selbst. Wir haben auch in diesem Sinn unsere Heimat verloren. Wir sind Fremde.
Information statt Weisheit
Die Geschichte, wie wir im Westen Gott töteten und ihn durch eine säkulare Kultur und eine wissenschaftlich-materialistische Weltsicht ersetzten, ist auf viele Arten erzählt worden – auch auf den Seiten dieser Zeitschrift. Aus Sicht der Kognitionswissenschaft entstand mit den Hauptprotagonisten – Descartes, Newton, Kant – auch eine neue Form des Wissens. John Vervaeke nennt dieses Wissen der Informationsgesellschaft »propositionales, aussagenlogisches Wissen«. Dieses Wissen beruht auf Tatsachen und Benennungen: Dieses Gestein ist Dolomit. Ein menschlicher Fötus braucht etwa neun Monate bis zur Geburt. Vitamin D kann nachweislich das Immunsystem stärken.
Wir neigen dazu, das propositionale Wissen überzubetonen: Wir haben Erklärungssätze, die uns bestimmte Überzeugungen geben, und dann klassifizieren wir sie in Theorien usw. »Ich bin Wissenschaftler, ich finde propositionales Wissen großartig. Ich will es nicht verurteilen. Das Problem ist nicht das propositionale Wissen an sich. Das Problem ist, dass wir andere Formen des Wissens verloren haben, die es uns ermöglichen, unsere Verbindung mit uns selbst, miteinander und mit den Welten, in die wir eingebettet sind, zu erfahren«, erklärt Vervaeke.
In einer bemerkenswerten und ironischen Wendung brachte das bisherige Scheitern der Kognitionswissenschaft bei der Schaffung einer menschenähnlichen Künstlichen Intelligenz Vervaeke und seine Kollegen dazu, die Grenzen des rein faktenbasierten, aussagenlogischen Denkens, das den Kern des wissenschaftlichen Denkens bildet, auszuloten. »Das Weltbild, in dem unsere Weisheitstraditionen geboren wurden, ist aus komplexen historischen Gründen erheblich untergraben worden«, stellt er fest. »Dies hat mit Entwicklungen wie der Entstehung des wissenschaftlichen Weltbildes und der Auflösung der Klöster durch die protestantische Reformation zu tun. Und die Trennung der Philosophie von einem System transformativer Praktiken – in der Tat nannte Epikur den Philosophen immer noch den Arzt der Seele.« Was bleibt, ist Information, nicht Weisheit: »Die Menschen wissen, wohin sie gehen müssen, um Informationen zu finden. Aber wenn wir uns fragen, wohin man geht, um Weisheit zu erlangen, ist unsere Antwort: Ich weiß es nicht. Die Menschen suchen sich hier und dort etwas in einer autodidaktischen und oft fragmentierten Art und Weise, was eine große Gefahr der Selbsttäuschung mit sich bringt.«
WEISHEIT IST DIE ANTWORT AUF SELBSTTÄUSCHUNGEN, AUF GETRENNTHEIT, SPALTUNG UND VEREINZELUNG.
Er fährt fort: »Als wir das religiöse Weltbild hinterfragten, verloren wir eine Sprache der ›zwei Welten‹, die ein mythologischer Ausdruck dafür war, dass bestimmte Wahrheiten nur durch tiefgreifende Transformation und erfahrene Transzendenz zugänglich werden. Als wir die Mythologie des Übernatürlichen hinter uns ließen, verloren wir eine Möglichkeit, transformative Wahrheiten und die Kultivierung der Weisheit zugänglich zu machen. Dies hat sich durch den Säkularismus massiv beschleunigt. Der Verlust des religiösen Weltbildes – was Peter L. Berger den ›heiligen Baldachin‹ nennt – und seine Ersetzung durch den ökonomischen Marktstaat kann den eingetretenen Verlust nicht auffangen. Der letzte Ort, an dem ich Weisheit suchen würde, wäre bei Politikern oder auf dem Markt.«
Formen des verlorenen Wissens
Trotz dieses Verlustes gibt es kein Zurück. »In seinem Roman ›Die Pest‹ schrieb Camus: ›Zu lernen, wie man ohne Gott ein Heiliger sein kann, war das ganze Problem, mit dem er zu kämpfen hatte‹«, bringt es John Vervaeke mit Humor und Aufrichtigkeit zur Sprache. »Wie kann man innerhalb der wissenschaftlichen Weltanschauung wirklich ein Weiser werden? Was würde das eigentlich bedeuten?« Die Antwort liegt seines Erachtens in der Wissenschaft selbst. »Die Kognitionswissenschaft zeigt uns mehr und mehr, worauf das propositionale Wissen aufbaut. Wir haben also eine neue Sicht auf uns selbst, die aus der Wissenschaft kommt und uns sagt: Ja, wir können nicht zur religiösen Weltanschauung zurückkehren. Aber könnten wir sie erfassen, könnten wir sie wiederherstellen, könnten wir sie neu erfinden?«
Vervaeke erweitert deshalb die Möglichkeiten des Wissens. Zusätzlich zu den propositionalen, d. h. auf Beobachtung und Rationalität beruhenden Tatsachenaussagen, formuliert er drei weitere Formen des Wissens: ein Prozesswissen, ein perspektivisches und ein partizipatives Wissen. »Beim propositionalen Wissen ist unser Gedächtnis ein System von Fakten, z. B. dass Katzen Säugetiere sind. Aber das Prozesswissen hat ein Gedächtnis für die Fähigkeiten, wie man einen Baseball fängt, wie man Fahrrad fährt oder sonst etwas tut. Man hat Fähigkeiten, und die sind nicht wahr oder falsch. Die Frage ist: Wie wirkungsvoll ist die Fähigkeit? Wie gut passt sie in die Welt? Und das Wissen um eine Fertigkeit hängt auch vom Bewusstsein für diese konkrete Situation ab. Dieses Wissen bestimmt, welche Fähigkeiten wir anwenden können und welche Fähigkeiten wir vielleicht erwerben sollten.«
»Die Wahrnehmung der jeweiligen Situation ist verbunden mit unserem perspektivischen Wissen. Was bedeutet es, jetzt hier zu sein? Was steht im Vordergrund, was ist im Hintergrund, was sticht hervor, was ist relevant? Perspektivisches Wissen ist unsere geistige Landschaftsgestaltung in einem bestimmten Kontext aus einer bestimmten Geisteshaltung heraus. Es ist unser Situationsbewusstsein. Und das hängt ganz davon ab, wie die Biologie, die Kultur und unsere fluide Intelligenz uns in unserer Umgebung formen, sodass sie zueinander passen und die Dinge eine Bedeutung bekommen. Ein Beispiel: Ein Becher ist für mich greifbar. Mit ihm kann ich das Problem des Trinkens lösen.
WIE KANN MAN INNERHALB DER WISSENSCHAFTLICHEN WELTANSCHAUUNG WIRKLICH EIN WEISER WERDEN?
Hier wirkt eine weitere Form des Wissens, das partizipatorische Wissen. Die Welt und ich werden biologisch, kulturell und kognitiv füreinander geformt. Das ist eine Form des Wissens, mit der wir uns den Dingen anpassen und uns mit ihnen identifizieren. Das lässt Dinge für uns wichtig werden. Religiöse Praktiken eröffnen in diesem Sinne ein partizipatorisches Wissen, sie bringen uns in Verbindung, sie unterstützen unsere Fähigkeit, zutiefst sinnvolle Welten zu schaffen und uns mit einem Wissen zu verbinden, das uns daran teilnehmen lässt. Diese vier Formen des Wissens – das propositionale, prozedurale, perspektivische und partizipative Wissen – sind dynamisch entwicklungsfähig und entfalten sich ständig weiter.«
Wie können wir weise werden?
Wie können wir wieder kulturell relevante Praktiken entwickeln, die Weisheit fördern? »Mir gefällt das lateinische Wort inventio«, sagt John Vervaeke. »Es bedeutet sowohl erfinden als auch entdecken. Könnten wir jene sinngebenden Praktiken neu erfinden, die in diesen religiösen Weltanschauungen vorhanden waren, ohne uns auf ihre Metaphysik festzulegen? Was würde das bedeuten?« Er möchte das Entstehen »einer Religion ohne Religion« unterstützen – eine Ökologie von Gemeinschaften, die sich alle in Ökosystemen transformativer Praktiken engagieren. Er erklärt: »Können wir von der Basis aus neue Praxisformen, neue Ökosysteme von Praxisformen, neue Gemeinschaften von Praktizierenden bilden, welche die Menschen im perspektivischen und partizipatorischen Wissen schulen? Denn so können sie an ihren Selbsttäuschungen arbeiten und ihr Gefühl der Einheit mit sich selbst und miteinander in der Welt stärken.«
Er beantwortet seine eigene Frage: »Es geschieht bereits. Das menschliche Bedürfnis nach Weisheit – auf tiefe und lebendige Weise in kreativer Verbindung zu leben – ist zu stark, als dass man es hinter sich lassen könnte.« Weisheit ist die Antwort auf die Selbsttäuschung von Getrenntheit, Spaltung und Vereinzelung. In verschiedenen Formen geschieht diese Transformation bereits: Es gibt die Achtsamkeitsrevolution, aber auch neue Formen der Körperarbeit und Bewegungsübungen, eine neue Auseinandersetzung mit indigenen Traditionen und Naturerfahrung sowie eine Vielzahl neuer Dialogpraktiken. Sie alle sind Teil einer Szene von Gemeinschaften, »die diesen Weisheitspraktiken eine angemessene Heimat geben.«
Von zentraler Bedeutung ist für John Vervaeke die Achtsamkeitsbewegung. Man könnte sogar sagen, dass die Achtsamkeitsbewegung den Bann der Trennung gebrochen und für uns einen Raum des Seins jenseits der bloßen mentalen Aktivitäten eröffnete. »Mit der Achtsamkeitspraxis«, sagt er, »kann ich aus der egozentrischen Voreingenommenheit ausbrechen. Sie ermöglicht mir, die Selbsttäuschung zu überwinden. Sie stärkt meine Verbundenheit mit der Welt. Achtsamkeit ist eine Art ›Praxis höherer Ordnung‹. Sie ermöglicht uns eine Meta-Perspektive auf unser eigenes Selbst und die eigene Arena des Handelns.«
»Viele Menschen schaffen gerade Ökosysteme von Praktiken, die transformatives partizipatorisches Wissen erforschen«, sagt er weiter. »Da ist Rafe Kelly mit Parkour, einer Bewegungspraxis in der Natur und in urbanen Räumen, die Menschen hilft, Prozesswissen und vor allem das perspektivische und partizipatorische Wissen auf eine gelebte, engagierte Weise zu kultivieren. Sinnerfüllte Bewegung ist gerade einer der wichtigsten Impulse. Die Gemeinschaften rund um Körperbewusstsein und die Gemeinschaften, die Achtsamkeit praktizieren, kommen miteinander ins Gespräch.« Auf eine autopoetische Weise entstehen Initiativen – eine Bewegung der komplexen Selbstorganisation innerhalb der westlichen Kultur –, die über die »propositionale Welt« der Konzepte hinausgeht. »Es gibt zum Beispiel Versuche, zu einem Umgang mit Sprache und Texten wie vor dem 11. Jahrhundert zurückzukehren, als die Mönche heilige Texte gemeinsam laut lasen, um vom Wort Gottes berührt zu werden.«
Auch der Dialog oder »die Entstehung von Diskurspraktiken« stößt bei John Vervaeke auf großes Interesse. »Diese Praxisformen benutzen Sprache nicht nur, um Informationen und Ansichten zusammenzutragen, sondern um sich mit anderen zu verbinden, sich zu verändern, perspektivisches und partizipatorisches Wissen zu entwickeln. Die Menschen merken, dass es ihnen gelingt, wirklich anwesend zu sein und sich mit sich selbst, miteinander und mit etwas zu verbinden, das sie übersteigt, das ihnen etwas bedeutet und dem sie sich zugehörig fühlen, das sie in wirklicher Transzendenz über sie selbst hinausführt. Beispiele für solche Praxisformen sind Authentic Relating, Circling und euer Emergent Dialogue.«
Die Kultur stehlen
Wie kommen wir von diesen verschiedenen Gruppen, die diese neuen Weisheitspraktiken entwickeln, zu einem tatsächlichen Wandel der Kultur? Die Antwort von John Vervaeke hat mich überrascht: »Ich nenne es Diebstahl der Kultur. Was ich meine, ist vergleichbar mit dem, was das Christentum in der Antike tat, als es die Kultur von der heidnischen Weltanschauung stahl. Es gab keine politische Revolution und niemand machte Vorschläge, wie der Staat neu organisiert werden könnte. Stattdessen gab es eine Reihe von Gemeinschaften der Praxis und der Transformation, die den Menschen in etwas Neuem Heimat gaben und ihnen durch Agape beibrachten, dass sie Personen sein konnten, während die herrschende Weltanschauung meinte, sie wären keine Personen. Und diese Gemeinschaften begannen, sich miteinander zu vernetzen.«
WELTANSCHAUUNGEN GEBEN BEDEUTUNG. SIE ZEIGEN UNS DEN SINN DER WELT.
Am Anfang war ich skeptisch, aber je mehr ich über die Antwort von John Vervaeke nachdachte, desto mehr ergab sie für mich einen tiefen Sinn. Er lädt uns ein, uns zu engagieren, unsere eigene Arbeit zur Schaffung von Praxisgemeinschaften und zur Vernetzung zwischen den Gemeinschaften zu tun. Aber mehr noch als das lädt er uns ein, der autopoetischen Natur des Lebens selbst zu vertrauen – und, was wichtig ist, sie zu unterstützen. Einer Bewegung des Lebens, die uns in Richtung einer Verbindung von Achtsamkeitspraxis, Bewegungsformen, Natur und Dialogpraxis zu bewegen scheint. Diese neuen transformativen, partizipatorischen Prozesse führen uns vielleicht zu einer tieferen lebendigen, sich entfaltenden Bewegung. »So gab es bei der Geburt des Christentums eine Graswurzel-Transformation in Verbindung mit der Top-Down-Perspektive einer neuplatonischen Philosophie.«
Das hat mich zum Nachdenken angeregt: Wir wissen nicht wirklich, wie wir die Veränderungen erreichen, um uns neu zu beheimaten und um unsere Heimat, die Erde, zu schützen. Aber John Vervaeke erklärt: »Die Revolution der Achsenzeit, die christliche Revolution der Spätantike und die Renaissance, sie alle zeigen, dass es Wege gibt, um Menschen auf kulturellem Wege und durch Bewusstseinsarbeit neu zu beheimaten. Diese großen historischen Bewegungen, die ein neues Verständnis unseres Selbst und unserer Welt schufen, entwickelten diese durch neue Praktiken und eine offene Haltung für das Heilige der Verbundenheit. Das ist für auch für uns heute sehr wichtig. Jeder und jede kann sich sinnvoll an diesem Prozess beteiligen. John Vervaeke zeigt uns Wege auf, wie das für uns alle möglich ist.