und wir können sie heilen
Thomas Bruhn leitet am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam eine Forschungsgruppe zur Frage, welche Rolle mentale Modelle und Geisteshaltungen wie Achtsamkeit und Mitgefühl für die Transformation zur Nachhaltigkeit spielen. Für ihn sind die Krisen unserer Zivilisation Ausdruck einer Beziehungskrise. Wir sprachen mit ihm über die Ursachen destruktiver Beziehungsmuster und erkunden mit ihm, wie durch systemische Resonanz tragfähigere Beziehungsfelder erwachsen können.
evolve: Welche neuen geistigen Haltungen brauchen wir für das Anthropozän?
Thomas Bruhn: Die Krise innerhalb der menschlichen Zivilisation aber auch zwischen der Menschheit und nicht-menschlichem Leben ist eine Beziehungskrise. Sie spiegelt die Beziehungskrise, die in unserem Kulturkreis viele Einzelne erfahren, die sich immer stärker als getrennt erleben, als das eigentlich meinem Verständnis der Wirklichkeit entspricht. Wenn über Bewusstsein gesprochen wird, geschieht das oft aus einem eher individualistischen Verständnis. Daher betone ich eher den Beziehungsaspekt. Wir leben zugleich in einem Bewusstsein von uns selbst und dem Bewusstsein für die eigene Verflochtenheit in Beziehungen mit anderen Menschen, mit nicht-menschlichem Leben und letztlich mit der gesamten Erde.
Wenn ich in einem chinesischen Kontext interviewt würde, würde ich vermutlich eher die Stärkung des Inneren oder des Selbst betonen, weil ich dort den Eindruck hätte, dass Beziehung viel stärker vorausgesetzt wird und die Beziehungswahrnehmung dominant ist.
Instrumentelle Beziehungsmuster
e: In deiner Arbeit bringst du Nachhaltigkeit mit Bewusstseinsarbeit in Beziehung. Brauchen wir also, um nachhaltig zu sein, ein Bewusstsein dafür, wie sehr wir verwoben sind?
TB: Ich stolpere ein bisschen über die Formulierung »um nachhaltiger zu sein«, denn es hört sich so an, als ob Nachhaltigkeit das Ziel sei. Natürlich ist das ein Stück weit so, gleichzeitig ist es mir ein Anliegen, eine Funktionalisierung von Bewusstsein oder innerer Entwicklung zu vermeiden. Anders als vor einigen Jahren würde ich daher heute nicht mehr sagen, dass innere Entwicklung nötig ist, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Inzwischen empfinde ich eher so, dass die Nicht-Nachhaltigkeit unserer Lebensweise ein Spiegel bestimmter Beziehungsmuster ist, die auch in unserem Bewusstsein zu finden sind. Insofern ist meine innere Arbeit an Beziehungsmustern an die Art gekoppelt, wie sich gesellschaftliche Beziehungsmuster im Bereich Nachhaltigkeit verändern.
¬ ES IST ES MIR EIN ANLIEGEN, EINE FUNKTIONALISIERUNG VON BEWUSSTSEIN ODER INNERER ENTWICKLUNG ZU VERMEIDEN. ¬
Um es an einem plakativen Beispiel zu verdeutlichen: Wir diskutieren im Nachhaltigkeitskontext über die Einhaltung oder Überschreitung planetarer Grenzen, in denen stabiles Leben auf der Erde möglich ist. Die Überschreitung der planetaren Grenzen aufgrund einer anthropozentrischen Wirtschaftsweise enthält ein Beziehungsmuster von Übergriffigkeit und Grenzüberschreitungen. Und da frage ich mich: Gibt es dieses Muster nicht auch auf anderen Ebenen unserer Beziehungen? Man denke nur an die MeToo-Debatte oder ähnliches. Oder Grenzüberschreitungen mir selber gegenüber, wo ich als Einzelner meine Kapazitäten nicht achte, sondern mich überfordere und ins Burn-out hineintreibe.
e: Die »Um-zu«-Haltung – um nachhaltig sein zu können, müssen wir dieses und jenes tun – ist schon Teil des Problems.
TB: In der Tat. In der Gewichtung erlebe ich oft eine zu starke Betonung der Funktionalbeziehung zwischen Mensch und Nachhaltigkeit oder dem Inneren und Nachhaltigkeit. Darin reproduziert sich ein Paradigma, das Hartmut Rosa als instrumentelle Beziehungen bezeichnet, die in unserem Kulturkreis ein Übergewicht haben. Der Fokus auf instrumentellen Beziehungen ist letztlich die Ursache für Ausbeutung. Wenn ein Wald für mich vor allem was Nützliches ist, dann beute ich ihn eher aus, als wenn ich seinen intrinsischen Wert wahrnehme.
Ähnlich verhält es sich mit unserem Inneren: Begreife ich mein Innenleben nur in der Funktionalität zum Erreichen von Nachhaltigkeit, dann reproduziere ich diese instrumentelle Logik, die sich in unserer Zivilisation auch gegenüber dem nichtmenschlichen Leben finden lässt und die zu der Ausbeutung und Übergriffigkeit geführt hat, aufgrund derer unsere Lebensweise nicht-nachhaltig ist. Dieses Paradigma zu hinterfragen, ist mein zentrales Anliegen.
Sein und Seinlassen
e: Was ist die Alternative zu dieser »Um zu«-Haltung?
TB: Ich möchte »Um zu«-Haltungen nicht verteufeln. Es geht mir eher um das Ausloten eines gesunden Dazwischens. Mir selber könnte ein bisschen mehr »Um zu«-Haltung vielleicht ganz guttun. Der Kontext jedoch, in dem ich großgeworden bin, ist stark geprägt von einer funktionalen Logik, wo das Resonante, das Sein und Seinlassen zu kurz kommen. Wir suchen nach Instrumentarien, mit denen wir unsere Gesellschaft in gesündere Bahnen lenken können. Gleichzeitig sollten wir achtgeben, mit der Art, wie wir diese Instrumentarien gestalten, nicht die Fehler der Vergangenheit zu reproduzieren.
Wenn ich die Größe der Probleme sehe und der »Um zu«-Logik vertraue, dann sage ich leicht, dass wir einen noch größeren Hebel in der Gesellschaft finden, noch mehr Menschen mobilisieren müssen. Ganz schnell bin ich in einer Wachstumslogik, die eigentlich längst als Teil des Problems identifiziert ist.
e: Du sprichst vom Sein und Seinlassen. Wir reden über Nachhaltigkeit und dass unser Planet in großer Not ist – und wir mit ihm. Wie kann uns in solch einer Situation das Sein und Seinlassen helfen?
TB: Das ist auch für mich schwer auszuhalten, es ist ein absurdes Paradox. Ein französischer Astronaut hat einmal gesagt: »Die Erde muss nicht gerettet werden. Sie will nur geliebt werden.« Das fand ich sehr berührend. Natürlich ist der Planet in Not und unsere Zivilisation mit ihm. Aber wie reagiere ich darauf? Muss meine Antwort nun noch größer und einflussreicher sein als alles Bisherige?
¬ JEDER VON UNS KANN IM EIGENEN LEBENSUMFELD BEWUSST ZU HEILSAMEN BEZIEHUNGEN BEITRAGEN. ¬
Ich möchte den Fokus verschieben und sage: Jeder von uns kann im eigenen Lebensumfeld bewusst zu heilsamen Beziehungen beitragen. Aber niemand von uns muss das große Ganze retten. Das ist eine subtile, aber wichtige Verschiebung. Es ist ein schmerzhaftes Paradoxon, weil ich in diesem Bewusstsein darum, wie groß die Not des Planeten ist, natürlich leide. Gleichzeitig muss ich ein Stück weit loslassen von der Vorstellung, dass es meine oder irgendjemandes Aufgabe wäre, dieses große Ganze zu retten. Mein systemwissenschaftliches Verständnis legt mir nahe, dass die Heilung des Gesamtsystems dadurch entsteht, dass sich überall innerhalb des Systems andere Beziehungsmuster entwickeln. Und aus psychologisch-therapeutischer Sicht entsteht Heilung oder Transformation oft bereits dadurch, dass etwas »einfach erstmal sein darf«. Insofern betrachte ich eine Beziehungsqualität des Seins und Seinlassens auch als zentrale Ressource für gesellschaftliche Transformation.
Ein Hintergrund dafür ist auch meine Beobachtung einer Dissonanz zwischen manchen abstrakten Diskursen und dem, wie die beteiligten Menschen in ihrem Umfeld tatsächlich agieren. Es macht ja keinen Sinn zu glauben, dass ich auf einer abstrakten Ebene ein Problem löse und Regeln für mehr soziale Gerechtigkeit implementiere, während ich in meinem eigenen Umfeld antisozial und übergriffig agiere. Natürlich ist es wichtig, für die Beziehungsdynamiken in komplexen Systemen geeignete Rahmenbedingungen, Regeln und Governance-Strukturen zu schaffen. Das trägt aber aus meiner Sicht nicht, wenn es vom eigenen Wirkungskreis entkoppelt ist. Das Bewusstsein über die Ganzheit des Kontextes muss einhergehen mit der Selbstzentrierung im eigenen Beziehungsfeld.
Vertrauen in die Emergenz
e: In der Annahme, dass sich das Gesamtsystem in seiner Heilungsfähigkeit verändert, wenn wir in unseren realen Wirkungsfeldern nicht übergriffig sind, ist ein gewisses Vertrauen in das Gesamtsystem mitgedacht. Woher nimmst du dieses Vertrauen?
TB: Das ist auch für mich eine ständige Frage. Es gibt keinen kausalen Automatismus, in dem ich weiß: Wenn ich dies tue, dann wird sich auch das Gesamtsystem in diese Richtung entwickeln. Gleichzeitig ist für mich klar: Systemische Transformation geschieht durch Wandel von Beziehungsmustern quer durch alle Ebenen von Systemen. Wenn ich selber an meiner Beziehungsqualität arbeite, trete ich in Resonanz mit Menschen, die in ähnlicher Richtung unterwegs sind. So wie wir zwei miteinander in Resonanz treten, weil wir das Gefühl haben, in unserem Prozess gibt es eine Zusammengehörigkeit. Wir lernen voneinander, erkunden das Miteinander und befruchten uns gegenseitig im eigenen Transformationsprozess. Um dich herum bestehen Beziehungsfelder, du kennst Menschen in ganz anderen Kontexten. In dem Maße, wie ich Resonanzkörper für ein bestimmtes Beziehungsmuster werde, trete ich in Resonanzen quer durch alle Ebenen innerhalb des Systems.
Mein Vertrauen ist also einerseits systemtheoretisch begründet. Es beruht auf den Selbstorganisationsprozessen entlang bestimmter Beziehungsmuster als Grundlage für Emergenz. Gleichzeitig kommt darin vielleicht auch meine christliche Prägung durch, ein gewisses Gottvertrauen, das ich durch verschiedene Fügungen mitbekommen habe. An vielen Stellen meines Lebens gibt es Bereiche, die sich meiner Kontrolle entziehen und in die ich vertraue.
Gleichzeitig bewegt mich die Frage: Was für eine Art von Leben will ich denn leben? Will ich ein Rädchen zur Erreichung eines Zieles sein? Viel lieber möchte ich erkunden, wie ich meine Lebenszeit hier möglichst stimmig verbringen kann. Ich möchte nicht einem Pfad folgen, wo ich das Gefühl habe, ich muss die Welt retten und viel Einfluss bekommen, um den Hebel der Welt umzulegen. Das macht weder systemtheoretisch noch für mich persönlich Sinn.
e: Wenn ich dir zuhöre, zeigen sich für mich zwei Szenarien. Das eine Szenario ist, als Individuum in einer Notsituation, in der diese Erde ist, Kontrolle auszuüben, um den Schaden abzuwenden. Das andere Szenario hat etwas mit Resonanzphänomenen und mit einem gewissen Vertrauen zu tun. Das ist ein Vertrauen, das nicht an Kontrolle gebunden ist. Ich kann dort, wo ich wirklich bin, wo meine Wirkungszusammenhänge sind, eine Resonanz zu leben, die sich mit anderen Resonanzen verbindet. Aber Resonanz kann man nur lassen, Resonanz kann man nicht machen.
¬ SYSTEMISCHE TRANSFORMATION GESCHIEHT DURCH WANDEL VON BEZIEHUNGSMUSTERN QUER DURCH ALLE EBENEN VON SYSTEMEN. ¬
TB: Absolut. Und insofern ist mir wiederum die innere Arbeit wichtig. Meine Fähigkeit, überhaupt in Resonanz gehen zu können, ist Teil meines inneren Prozesses. Das kann ich auf verschiedene Weisen betreiben: als psychologische Arbeit, als künstlerischen Prozess, in spirituellen Praktiken. Es gibt verschiedene Zugänge, durch die ich Resonanz als eine Erfahrung mit mir selbst üben kann. Diese Arbeit an der eigenen Resonanzfähigkeit sollte nicht ausgeklammert werden aus unseren Bemühungen um Nachhaltigkeit. Das ist alles ist Teil eines gesünderen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur im Anthropozän.
Hab keine Angst
e: Kann es nicht aber auch so sein, dass die innere Arbeit eine Vermeidung ist? Es gibt Stimmen, die sagen, es sei Luxus, sich mit innerer Arbeit zu beschäftigen, während die Welt brennt. Und oft kann es eine Form der Isolierung sein, mit sich selber in Resonanz zu sein unter Ausklammerung von großen Zusammenhängen. Aber wenn es darum geht, nicht nur instrumentale Verhältnisse zur Welt zu pflegen, sondern auch resonanzfähig zu sein, dann wird offensichtlich, dass wir nicht gelernt haben, resonanzfähig zu sein. Wenn ich mich selbst als Ressource wahrnehme, die optimierbar ist, werde ich nicht das Sensorium haben, um überhaupt verstehen zu können, was mit Resonanz gemeint ist. Die Welt braucht unsere Resonanzfähigkeit. Es ist eine Tugend, die wir entwickeln müssen. Wenn wir in dieser Situation mit dem Planeten sorgfältig umgehen wollen, wird resonanzfähig zu sein zu einer politischen Kategorie.
TB: Ganz sicher wird innere Arbeit häufig als eine Strategie der Vermeidung und Selbstoptimierung innerhalb eines ungesunden systemischen Kontextes betrieben. Ein Kollege aus den USA, Ron Purser von der Universität San Francisco, hat dieses Phänomen als »McMindfulness« beschrieben. Und damit sind wir wieder bei der Beziehungsfähigkeit. Ein globales Wahrnehmen von In-Beziehung-Stehen. Das ist ein Stück weit abstrakt, gleichzeitig ist es emotional, affektiv, empathisch. Ich spüre, was in der Welt geschieht, und es ist nicht von mir getrennt. Was ich in den Nachrichten sehe, ist Teil der Wirklichkeit, mit der ich in Beziehung stehe, und ist insofern auch eine Belastung. Wenn wir diese Ebene von Beziehungsfähigkeit zulassen, dann spüren wir Schmerz, denn wie du sagst, die Welt brennt an allen Ecken und Enden. Gleichzeitig möchte ich innerhalb des Bewusstseins über den Zustand des Gesamtplaneten sinnvoll Verantwortung übernehmen – da, wo ich jetzt gerade bin, in der vollen Annahme meines Wirkungskreises. Das ist eine Spannung und ich habe Verständnis dafür, dass viele Menschen dieses Ausmaß von Bewusstheit der eigenen Beziehungsunfähigkeit ausblenden, weil es überwältigend ist.
Es gibt Menschen, die die Nachrichten konsumieren und das Schlimme herausfiltern und nicht an sich heranlassen, damit es sie nicht lähmt. Das ist ja eine reale Gefahr und es gibt natürlich Momente, da fühle ich mich völlig erschlagen von all dem, was in dieser Welt passiert. Damit ist natürlich weder mir gedient noch dem Planeten, um den ich mich sorge. Die Balance zwischen diesen beiden Polen erscheint mir ehrlich, lebendig und wert, mich darum zu bemühen.
Der Wissenschaftler in mir hat Vertrauen in die Emergenz des Systems. Dazu gehört aber auch die Erkenntnis: Ich bin Teil der Erde und des Evolutionsprozesses der Erde. In diesen Prozess habe ich Vertrauen. Was auch immer hier passiert, die menschliche Zivilisation ist kein »Fehler der Schöpfung«.
Es gibt in mir aber auch eine spirituelle Seite dieses Vertrauens, die auf ein persönliches Erlebnis zurückgeht. Als Kind und Jugendlicher war ich ein sehr ängstlicher Typ. Ich hatte Asthma und wachte jahrelang jede Nacht auf, konnte nicht atmen und dachte, ich sterbe. Als ich 16 war, besuchten wir eine befreundete Familie in Frankreich. Nach zwei, drei Wochen saß ich im Garten auf einer Liege und hatte plötzlich das Gefühl, eine Hand legt sich mir auf die Schulter. Und ich hörte eine Art innerer Stimme, die mir sagte: Es gibt nichts, wovor du jemals Angst zu haben brauchst. Es war eine sehr intensive Erfahrung, die sich schwerlich in Worte fassen lässt. Dieses Gefühl ist mal stärker und mal weniger stark präsent in mir. Aber es gibt dieses innere Wissen: Wovor soll ich mich fürchten? Ich werde eines Tages sterben und jeder Mensch, der gerade lebt, wird sterben. Und ich fühle mich im Angesicht all der Krisen in dieser Welt als Teil von etwas, das letztlich gütig mit mir ist.