Eine nachhaltige Weltgemeinschaft

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Kolumne
Published On:

November 2, 2021

Featuring:
Papst Franziskus
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Ausgabe 32 / 2021:
|
November 2021
Der Markt
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Als Papst Franziskus im September während seiner »Pilgerreise ins Herz Europas« Ungarn und die Slowakei besuchte, rief er nicht nur zum Brückenbau zwischen den Religionen auf, sondern warnte auch vor einer »starren Verteidigung unserer sogenannten Identität«. Der ungarische Ministerpräsident Orbán wiederum postete nach dem Treffen der beiden auf Facebook: »Ich habe Papst Franziskus gebeten, das christliche Ungarn nicht untergehen zu lassen.«

In vielen nationalen Gesellschaften Europas, Amerikas und anderer Teile der Welt wird Politik heute von einem erbitterten Konflikt zwischen progressiven und rechtspopulistischen Fraktionen bestimmt. Erstere definieren eine nationale Gemeinschaft als eine im Grunde willkürliche und beliebig veränderbare soziale Struktur. Nationalistische Haltungen gehen demgegenüber davon aus, dass eine Nation eine Art einzigartige und unwandelbare Prägung aufweist. Unter der Annahme, dass jede dieser Ansichten ­eine gewisse Teilwahrheit verkörpert, scheint deshalb ein neues Verständnis darüber unumgänglich zu werden, was Nationalstaaten heute sind und wohin sie sich entwickeln müssen, um zu einer gemeinsamen und friedlichen Welt beitragen zu können.

Nationen bilden, aus einer integralen Perspektive betrachtet, eine Übergangsphase auf dem Weg zu einer nachhaltigen Weltgemeinschaft. Dieser temporäre Status bedeutet jedoch nicht, dass Länder keine authentische Identität hätten. Wie beim einzelnen Menschen lässt sich diese Prägung als ein zeit- und gestaltübergreifender Kern mit sich ständig wandelnden und evolvierenden Ausdrucksformen beschreiben. Die »integrale Kunst« besteht darin, diese Gleichzeitigkeit der inneren Kernidentität und ihrer mitunter schnell wechselnden äußeren Erscheinungsweise fortlaufend abzugleichen und auszubalancieren. Geschieht das nicht, ergeben sich Staus und Rückschritte. 

Nationen bilden, aus einer integralen Perspektive betrachtet, eine Übergangsphase auf dem Weg zu einer nachhaltigen Weltgemeinschaft.

Ungarns Regierung zum Beispiel will erklärtermaßen an der historischen Kulturprägung eines »christlich-konservativen Vaterlandes« festhalten. Das steht der modernen humanitären Notwendigkeit gegenüber, Immigranten aus anderen Kulturen als Neubürger zu akzeptieren. Dabei ist eben dies heute in vielen Ländern eine zentrale Aufgabe. Ein ausreichender Ausgleich und die Anpassung von Einwanderern und Gesellschaft lässt sich nicht als beliebiger Zwang oder Druck zur Veränderung handhaben. Er kann im Gegenteil nur gelingen, wenn beide Seiten auf potenziell in ihnen vorhandene und in der Vergangenheit zumindest in Ansätzen erkennbare Qualitäten zurückgreifen können.

Deutschland zum Beispiel hat eine eigenständige mystisch-poetische Tradition. Sie gehört gewissermaßen zum seelischen Repertoire der Deutschen, auch wenn sie in bemühter Nachkriegsnüchternheit heute im eigenen Land eher verschwiegen wird. Nicht jedoch im Rest der Welt, wo Hesse und Rilke zu den meistgelesenen deutschen Autoren gehören. »Eingewanderte« islamische (Sufi-)Mystik – nicht allgemein Religion! – ­könnte unter Umständen dazu beitragen, dass Deutschland seine entsprechende Seelenqualität wiederbelebt. Umgekehrt könnte das heutige Deutschland Immigranten aus dem Bereich des arabischen Islam dazu verhelfen, an die verloren gegangene wissenschaftliche und tolerantere Ausrichtung ihrer Herkunftsreligion und -kultur anzuschließen. Als Repräsentant für diese beidseitige Reintegration eigener Qualitäten kann etwa der deutsch-iranische Autor Navid Kermani gelten. Er ist eine Art modern aufgeklärter Mystiker, der sogar für die Wahl zum Bundespräsidenten nominiert wurde! Es geht also um mehr als um einen Versuch der Assimilation der Immigranten an die Gegenwart ihrer neuen Heimat. Richtig betrachtet steht stattdessen eine Win-Win-Realisierung im Raum, wobei hier noch nicht einmal praktische Aspekte wie die nach einer sich anbietenden (Teil-)Antwort auf den deutschen Facharbeitermangel berücksichtigt sind. 

Die ebenso reale, aber eher subtile seelische Dimension moderner Einwanderungspolitik kann jedoch kaum von staatlichen Agenturen begleitet werden. Es bedarf einer Bürgergesellschaft in Form von Beiräten, Stiftungen und Medien, deren Aufgabe es wäre, ein neues Narrativ und Handeln für die erfolgreiche Integration von Neubürgern zu erstellen. Und damit auch für die innere Weiterentwicklung des Landes.  

Author:
Wolfgang Aurose
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