Indien: Heimatland der Meditation

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Essay
Published On:

August 1, 2014

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Ausgabe 03 / 2014
|
August 2014
Maschinen meditieren nicht
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Modernes Leben und kulturelle Tradition

Indien gilt als Mutterland der Meditation, seit Jahrtausenden wurden vor allem in der hinduistischen und buddhistischen Tradition die Tiefen unseres Bewusstseins ausgelotet. Was bedeutet dieses kulturelle Erbe heute – für Indien und die Welt?

Vor einigen Jahren arbeitete ich an einem Projekt in Indien und musste dabei jeden Tag von meinem Wohnort zum Büro und wieder zurück durch die verkehrsreichen Straßen von Hyderabad fahren. Eines Tages steckte ich mit dem Taxi im Stau, von allen Seiten bedrängt durch Abgase und eine Kakophonie verschiedenster Geräusche, und erfuhr direkt körperlich das Ausmaß an körperlichem und psychischem Stress, der das Leben des modernen Indien durchdingt. Für Hunderte Millionen Menschen in diesem Land ist das wohl nichts Neues, viele Inder versuchen damit fertig zu werden, indem sie sich in eine subjektive Welt zurückziehen. Wir suchen Zuflucht in der Privatheit unserer Gedanken und tun unser Bestes, um den unerbittlichen Tumult um uns her draußen zu halten, sooft wir können. Es ist kein Zufall, dass moderne spirituelle Lehrer in Indien Millionen Menschen Yoga und andere meditative Techniken zur Stressminderung anbieten und dass der Bedarf an Beratung zu diesen Themen in den Großstädten explosionsartig anwächst.
Natürlich ist es vollkommen legitim, wenn jemand versucht, Stress zu vermindern, und wir alle haben es nötig, unseren inneren Raum zu pflegen, damit wir mit dem permanenten Stress des Alltags besser zurechtkommen. Aber können uns solche inneren Übungen wirklich in die Lage versetzen, besser mit familiären, finanziellen oder beruflichen Problemen zurechtzukommen? Oder sehnen wir uns nicht doch nach tieferen Antworten auf existenzielle und philosophische Fragen nach dem Wesen des Lebens, die Übungen für mehr innere Ausgeglichenheit einschließen, aber gleichzeitig auch weit darüber hinausreichen? Denn das ist ein wesentlicher Unterschied. Schließlich sollten wir, wenn wir schon die großen Fragen stellen, auch große Antworten erwarten, die uns ein tieferes Verstehen und Handeln ermöglichen.
Ich bin schon ziemlich früh zu diesem Schluss gelangt. Zum Ende meiner Teenagerzeit und in meinen frühen Zwanzigern wuchs mein Interesse für philosophische Fragen. Von vielen erhielt ich den Rat, dieses Interesse erst einmal hintanzustellen. „Dafür bist du noch zu jung!“, sagte man mir, und es hieß immer wieder, ich sollte meine Zeit besser dazu nutzen, mich den „praktischen Angelegenheiten“ zuzuwenden, meiner schulischen und beruflichen Laufbahn etwa. Solche Antworten haben mich immer verwirrt. Ich spürte, dass die Beschäftigung mit philosophischen Fragen uns zu der Erkenntnis führen sollte, wie man gut lebt – und was könnte praktischer sein? Aber ich musste auch feststellen, dass es nicht so einfach war, wirklich zu dieser Erkenntnis zu kommen. Zwar inspirierte und faszinierte mich meine Beschäftigung mit der Philosophie sehr, ich las viele Bücher und lernte viele gelehrte Menschen kennen, doch viele Jahre lang fand ich selbst nicht die unerschütterliche Überzeugung, die diese philosophischen Einsichten geben wollten. Denn allein die unmittelbare Erfahrung kann uns überzeugen und für mich wurde die Meditation im Kontext meiner inneren Forschungen zum Tor, das zu Vertrauen und Überzeugung führte, und auch mein Leben in der Welt veränderte.

Wenn wir schon die großen Fragen stellen, sollten wir auch große Antworten erwarten.


Die Vorstellung, dass die Meditation unbedingt zu einem guten, weisen Leben dazugehört, ist in der indischen Kultur tief verwurzelt. In diesem Verständnis beschränkt sich die Meditation nicht auf eine bestimmte Sitzhaltung oder eine Methode. Vielmehr kann man sie eher als die Erkenntnis verstehen, dass das Leben unteilbar ist. Das Leben ist „nicht-zwei“, man kann es nicht zerstückeln, es ist unermesslich und ganz. Diese Erkenntnis führt unmittelbar zur Frage nach der Beziehung zwischen Einheit und Vielheit – was bedeutet „Nicht-Zweiheit“ oder Einheit in Blick auf die unendliche Vielfalt der Erscheinungen, der offenkundigen Unterschiede und der Umstände, durch die das Leben uns begegnet? Das ist das zentrale Paradox, mit dem sich viele indische Traditionen Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende lang vorrangig beschäftigt haben. Es ging nicht bloß darum, den Problemen zu entkommen oder sie besser zu ertragen. Dieses Anliegen der Verbindung von Einheit und Vielheit zeigt sich auf unzähligen Gebieten – Kunst, Religion, Philosophie, Musik, Tanz, Literatur, Architektur, Medizin und so weiter. In all diesen Bereichen ist eine fließende Flexibilität kennzeichnend, die sich deutlich von den scharfen Grenzen zwischen den einzelnen Disziplinen unterscheidet, die für den säkularen, wissenschaftlichen Geist so wichtig sind. Wenn die Grundabsicht aber in der Erforschung der Beziehung zwischen Einheit und Vielheit liegt, dann lässt sich die Kultur – das heißt, alles, was mit dem Leben und den Beziehungen von Menschen zu tun hat – nicht trennen von der aus Meditation gewonnenen Einsicht in die Unteilbarkeit der Wirklichkeit. Äußere Tätigkeit ist dann ein Versuch, etwas von dieser Einsicht zu vermitteln, indem wir das, was sich nicht ausdrücken lässt, zum Ausdruck bringen.
Dies ist also das Ideal, das der indischen Kultur zugrunde liegt: Unsere tiefsten Einsichten lassen sich nicht trennen vom Ausdruck unseres Lebens. Das moderne Leben hat seine legitimen Anforderungen und Ziele, doch auf die Entfremdung und den Stress, die daraus resultieren, finden wir keine Antworten, wenn wir uns nicht auf die tieferen Fragen des Lebens beziehen. Diese Fragen finden, wie eben skizziert, ein anhaltendes Echo im uralten Kulturerbe Indiens. Das ist in modernen indischen Städten nicht auf den ersten Blick sichtbar, doch die kulturellen Reichtümer, auf die ich mich hier beziehe, sind bis heute zugänglich. Unverhoffte Tiefe erwartet einen auf überraschende Weise im ganzen Land – im Vers eines tiefsinnigen Liedes, das aus dem Fernster eines Geschäftes dringt, in der ruhigen Schönheit eines schattigen Gartens, in der verletzlichen Würde vieler einfacher Menschen, in einem außergewöhnlichen literarischen Fundstück und einer Affinität mit der gesprochenen Sprache als Mittel der Transformation. Es gibt eine ganze Landschaft der Möglichkeiten, die erfüllt ist vom Zusammenfließen des Inneren und Äußeren. Aber ironischerweise scheinen viele Menschen im modernen Indien die Berührung damit verloren zu haben! Die indische Kultur bezog sich dabei immer auf eine lebendige Wirklichkeit, es ist keine rückwärtsgewandte Sehnsucht, sondern der beharrliche – wenn auch gegenwärtig kaum wahrgenommene – Versuch einer Kultur, diese Wirklichkeit in unzähligen Formen zum Ausdruck zu bringen. Die Quellen der Kreativität, die aus der Tiefe schöpfen, sind keineswegs versiegt, auch wenn sie häufig verschüttet scheinen. Die Antwort für Indien liegt heute in praktischer und spiritueller Hinsicht darin, diese Tiefe im Innen und Außen bewusster zu machen. Meditation kann uns dabei helfen, diese Tiefe wahrzunehmen, und kann die echten Stärken der indischen Kultur wieder wirksam werden lassen – auch als Beitrag für eine globalisierte Welt, in der immer mehr Menschen den Zugang zur Tiefe des Lebens suchen. Denn aus einer Verbundenheit mit dieser existenziellen Tiefe können wir die Probleme, vor denen ein Land wie Indien steht – und auf die wir heute überall auf der Welt antworten müssen –, in angemessener und neuer Weise angehen. Dann hat auch Meditation eine tiefere Bedeutung als allein ein Mittel gegen Stress zu sein.

Author:
Dr. Sridhar Pingali
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