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Wie aus der Konfrontation mit dem Dunkel Heilung erwachsen kann
Das Selbstmord-Attentat einer Palästinenserin war für Brigitta Mahr der Anlass, sich für die Verständigung zwischen israelischen Juden, Palästinensern und Deutschen einzusetzen. Licht auf die Schatten des kollektiven Miteinanders zu werfen, beginnt für sie damit, dass wir unserem menschlichen Wesen tiefer begegnen.
evolve: In Ihrer Arbeit mit »Friendship Across Borders – FAB e. V.« gibt es eine ungewöhnliche Verschränkung von sozialem Engagement und therapeutischer und spiritueller Bewusstseinsarbeit. War Ihr Interesse an diesen inneren Dimensionen die Grundlage dafür, sich politisch zu engagieren? Oder war umgekehrt die Erkenntnis, dass wir diese politischen Verwerfungen nicht ohne unsere Innendimension wirklich angehen können, das Motiv, diese zwei Dimensionen ins Zentrum Ihrer Arbeit zu stellen?
Brigitta Mahr: Mein Motiv, mich im weitesten Sinne politisch und sozial zu engagieren, ist vor allem aus einer sehr langen inneren Praxis und aus einem tiefen Mitgefühl entstanden. Der Beweggrund war die Erschütterung darüber, was Menschen anderen Menschen aus Hass und Angst antun können. Der Auslöser, 2003 den Verein »Friendship Across Borders – FAB e. V.« zu gründen, war jedoch das Selbstmord-Attentat einer Palästinenserin, die verzweifelt war, weil vorher Israelis ihren Verlobten vor ihren Augen erschossen hatten. Ich wachte eines Morgens auf, schlug die Zeitung auf und war tief erschüttert. Und aus dieser Erschütterung heraus war mir klar, dass ich etwas tun muss. Mir taten nicht nur die Opfer leid, sondern auch diese junge Frau, die sich derart verblendet einem Racheakt hingegeben hat. Ich habe gespürt, wie hier Liebe und Hass so ganz nah beieinander waren, auch in dem, was diese Frau getan hat. Heilung oder Versöhnung beginnt, wenn wir anerkennen, dass beides, Hass und Liebe gleichermaßen, in jedem von uns sind. Das wissen wir auch aus unseren alltäglichen eigenen Beziehungen zu unseren Kindern, Partnern oder Eltern.
Wenn wir aber erkennen, dass sowohl Liebe als auch Hass in uns sind, können wir nicht mehr sagen, dass nur der andere Schuld hat. Wir anerkennen, dass wir immer beteiligt sind. So gibt es niemanden, der schuldlos bleiben kann. Es gehört zu unserer menschlichen Ausstattung, dass wir schuldig werden. Diese Erkenntnis könnte uns eigentlich helfen, uns weiter zu entwickeln. Begreifen wir, dass wir keine »reinen Wesen« sein können – egal, wie sehr wir uns anstrengen und spirituelle Praktiken üben –, dass wir immer Menschen bleiben und als Menschen schuldig werden können, dann haben wir eine Chance, zu wirklichem Herzensfrieden zu reifen.
Wenn wir unsere inneren Dämonen anerkennen und anschauen, dann heißt das für mich natürlich nicht, dass Menschen per se schlecht sind. Ich glaube aber, wir werden erst wirklich mitfühlende Menschen, wenn wir uns allem Negativen in uns stellen. Indem wir das tun, entfaltet sich eine ganz neue Dimension der Liebe in uns. Sie kann uns befähigen, viel authentischer in die Welt hinaus zu wirken, weil wir damit demütiger werden. Wenn ich wirklich anerkenne, dass ich Abgründe in mir trage, sie anschaue und annehme, dann kann ich Mitgefühl für mich selbst entwickeln und werde wahrscheinlich weicher und demütiger. Wenn ich meine negativen Seiten nicht anerkenne, bin ich geneigt, nur nach außen zu schauen. Ich möchte dann auch keine Verantwortung für mein Handeln übernehmen wollen, sondern erwarte, dass andere die Gesellschaft in Ordnung bringen. Doch Gesellschaft beginnt bei uns und unserem ehrlichen Blick auf uns selbst.
Den Dämonen in uns begegnen
e:Wie ich Sie verstehe, endet diese Einsicht aber nicht in Verzweiflung, sondern darin liegt eine Hoffnung. Denn darin liegt auch die Erkenntnis, dass Heilung möglich ist, wenn wir anerkennen, dass diese gegensätzlichen Impulse von Hass und Liebe gleichermaßen in uns sind.
BM: Ja, dies ist keine einmalige Erkenntnis, sondern ein kontinuierlicher Prozess, der über Stufen verläuft. Genauso wie wir mit der Liebe die Erfahrungen machen können, dass sie sich stufenweise vertieft. So können wir auch in uns erleben, wie sich die Erkenntnis über unsere inneren Abgründe stufenweise vertieft und wie dies uns beeinflusst, in allem, was wir tun. Wenn wir all diese Facetten von Liebe und Hass in uns zulassen, entdecken wir in unserem Herzen eine viel größere Freundlichkeit für uns selbst und für unsere Mitmenschen. Das bedeutet also: Lasse ich die Dunkelheit in mir selbst zu, stelle ich mich ihr, dann vertiefen sich meine Lebensfreude, mein Mitgefühl und vor allen Dingen meine Wahrhaftigkeit – der Mut, alle Dinge des Lebens so anzuschauen, wie sie sind.
Die intensive Beschäftigung mit den Grausamkeiten in der Nazi-Zeit, dem Holocaust und die Arbeit mit Israelis, Palästinensern und Deutschen haben mir geholfen, diese inneren Prozesse wahrzunehmen. In diesen komplexen Gruppen gibt es sehr viele Verwerfungen, Traumata und Verzweiflung. Wichtig ist dabei, dass dies alles einen Rahmen findet und so weit wie möglich zugelassen werden kann. Dass auch die Ablehnung und der Hass in einer geschützten Atmosphäre erlebbar und sichtbar werden können. Nur dann hat Hoffnung eine Chance und nur dann kann sich auch etwas wie Vertrauen und gegenseitige Anerkennung und Freude an der Begegnung einstellen. In den Menschen – und ich bin überzeugt auch in der Welt – entsteht Frieden, wenn wir uns den eigenen unbewussten Dämonen stellen.
Frieden entsteht, wenn wir uns den eigenen unbewussten Dämonen stellen.
e:Sie haben viele Jahre diese Begegnungen zwischen Israelis, Palästinensern und Deutschen organisiert. Welche Herausforderungen und Entwicklungen erfahren Sie in diesen Gruppen?
BM: Eine der größten Herausforderungen ist etwas, das ich als »dunkle Liebe« bezeichne, und das eine aufrichtige Versöhnung zwischen Deutschen und Juden behindert. Oft zeigt sich in diesen Begegnungen, dass die deutschen Teilnehmer, die Nachkommen von Tätergenerationen, gegenüber dem schuldhaften, gewalttätigen Verhalten ihrer Väter eine von zwei Haltungen einnehmen: Die eine Seite ist über das Schweigen ihrer Eltern über die Vergangenheit verärgert und fordert mehr Offenheit. Andere versuchen, eine weiche und sympathisierende Haltung gegenüber dem schamvollen Schweigen der Elterngeneration einzunehmen. Das geschieht sicherlich in der Hoffnung, einen Punkt zu finden, die damit verbundenen Schmerzen und die Enttäuschung zu überwinden, dass die Eltern mitgemacht haben. Beide Reaktionen kommen aus einer starken inneren Verbindung und dem Unvermögen, sich von der Schuld der Eltern, als den Tätern, zu trennen. Sich davon zu trennen, was die Eltern zu verantworten haben und damit von einer blinden, dunklen Liebe zu den Eltern, weil sie uns größer und kompetenter sein lässt, als wir es als Kinder den Eltern gegenüber sind. So als ob wir sagen wollen: »Wir regeln das schon für euch, letztlich konntet ihr ja nicht anders handeln« und mit dieser Aussage bleiben alle irgendwie doch schuldlos. Aber wir können weder unsere Väter und Mütter, Großväter und Onkel retten, noch ihnen ihr Schicksal erleichtern oder sie verdammen. Nicht, weil wir nicht wissen, wie wir in diesen Situationen gewesen wären und gehandelt hätten, sondern vor allem, weil wir uns damit an das binden, was sie zu verantworten haben. Für uns ist es wichtig, aus ihrem Schicksal die richtigen Schlüsse zu ziehen und uns für das Gute, für zwischenmenschliche Werte und für die Liebe einzusetzen. Dies nicht nur im persönlichen Bereich der Familie und Freunde, sondern besonders auch durch eine wahrhaftige und offene politische Haltung in unserer Gesellschaft, in unserem Land und in Europa.
Berührbar werden
e: Welchen neuen Umgang mit so etwas unvorstellbar Schrecklichem wie dem Holocaust haben Sie durch Ihre Arbeit gelernt?
BM: Bevor ich das erste Mal in Auschwitz war, hatte ich viel über den Holocaust gelesen und gehört. Aber an so einem Platz zu sein, sich dem völlig zu öffnen und wirklich ganz zuzulassen, dass man bis ins Tiefste hinein davon berührt wird, was da geschehen ist, ist etwas ganz anderes. Dann geht es gar nicht anders, als dass man erkennt, das ist nicht etwas, das nur da im Außen passiert ist, sondern das ist etwas, was wir sind. Wir als Menschen sind so, und das ist nicht abhängig von einer bestimmten Erziehung oder Kultur, sondern es ist eine menschliche Ausstattung. Die Erkenntnis, dass Menschen diese grausamen Taten begangen haben, muss uns unweigerlich zu uns selber führen und zu der Frage: Was davon ist in mir?
Wenn wir unseren Alltag genau beobachten, bemerken wir, wie oft wir in Wut geraten, wie oft wir jemanden ablehnen, wie oft wir Recht haben wollen und uns auf kriegerische Art verteidigen. Wenn wir die Welt anschauen und uns Sorgen über Donald Trump, einen drohenden Atomkrieg oder die rechten politischen Strömungen machen, dann sollten wir auch wissen, dass es immer bei uns beginnt, dass wir immer Teil von dem allen sind. Wir sind in nichts getrennt vom Ganzen. Das wissen wir alle, besonders wenn wir einen inneren Weg gehen. Aber was kann das bedeuten, wenn es nicht nur um das Gute und die Liebe geht, sondern auch um den Hass? Diese Erkenntnis zuzulassen, dass Hass ein Teil von uns ist, ist eine große spirituelle Herausforderung. Sich dies als Herausforderung einzugestehen und daran zu arbeiten, kann unser aufrichtiger Beitrag zu wirklichem Frieden sein.
Das Gespräch führte Thomas Steininger.
Author:
Dr. Thomas Steininger
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