Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
October 26, 2015
Die Griechenlandkrise ist wohl nur ein Symptom für die Frage, wie wir in Zukunft in Europa in einem globalen Kontext zusammenleben wollen. Diese Frage hat sich evolve-Redakteur Mike Kauschke während einer Griechenlandreise in diesem Sommer auch gestellt – und gemerkt, wie groß und komplex sie ist.
Gedanken einer Reise
Griechenland bestimmt momentan nur noch am Rande die Schlagzeilen, die Flüchtlingskrise steht im Hauptfokus – und dabei vor allem unsere. Denn gerade Länder wie Griechenland oder Italien erleben diese Krise schon länger hautnah. Der Umgang mit den Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, und der Umgang mit verschuldeten Staaten wie Griechenland hat in Europa zu Konflikten geführt und die Frage nach dem, was uns verbindet, neu gestellt. Im Kontext eines globalen Dialogs sehen wir, dass schon die Begegnung mit unseren kulturellen Nachbarn eine Herausforderung ist. In einer positiven Perspektive bietet diese Auseinandersetzung aber auch den Raum, um neu darüber nachzudenken, wie wir in Europa künftig zusammenleben wollen. Dazu gehört auch, dass wir die Menschen, mit denen wir das tun wollen, besser verstehen lernen. Wie bei jedem Dialog erfordert dies aber auch eine Haltung, in der Stereotypen und Vorurteile zur Seite fallen, um den Blick freizumachen für eine gemeinsame Zukunft. Für mich war deshalb eine Reise in diesem Sommer nach Griechenland auch die Begegnung mit einem Land, das ich bisher vor allem aus den aktuellen Zeitungsberichten kannte.
Ein wichtiger Aspekt dieser Begegnung wurde für mich, mehr über die Geschichte Griechenlands zu erfahren. Dadurch erhielt ein bisher ziemlich flaches Bild des Landes Tiefe, Konturen und Menschlichkeit. Ich konnte gegenwärtige Tendenzen nachvollziehen und verstehen, was nicht heißt, sie einfach gutzuheißen. Ohne solch ein historisches Bewusstsein ist es schwierig, sich in eine andere Kultur tiefer einzufühlen. Ganz im Sinne des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der sich, wie wir später noch sehen werden, gerade viele Gedanken über unsere Zukunft in Europa macht: »Vergangenheit bedeutet für uns [in Europa] nicht nur Kulturgut und Tradition, sondern eine anthropologische Grundbedingung. Wir können zur Gegenwart nur archäologisch vordringen, indem wir mit unserer Geschichte ins Reine kommen.« Begeben wir uns also auf eine kleine archäologische Reise.
Geschichte mitdenken
In der schnelllebigen Diskussion wird sehr leicht vergessen, dass Griechenland eine substanziell andere Entwicklung genommen hat, als die Staaten Kerneuropas. Während hier die Renaissance und die Aufklärung die Moderne voranbrachten, war Griechenland Teil des Osmanischen Reiches. Heinz Richter, ein profunder Kenner der politischen Kultur Griechenlands, sagt dazu: »Als osmanische Provinzen nahmen diese Teile Europas an folgenden Entwicklungen nicht teil: Renaissance, Reformation, Gegenreformation, Absolutismus, Rationalismus, Aufklärung und bürgerliche Revolution. Für beinahe 400 Jahre stand die Zeit dort fast still.« Richter weist auch auf den tief in der griechischen Gesellschaft verankerten Klientelismus hin, der die private Bereicherung an staatlichen Geldern erst möglich und ganz selbstverständlich machte. Auch nach der Befreiung von osmanischer Herrschaft war Griechenland größtenteils von Schutzmächten bestimmt wie Deutschland, England oder den USA. Und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Griechenland zu einem der ersten Schauplätze des Kalten Krieges, wo in einem blutigen Bürgerkrieg die kommunistischen Partisanen gegen konservative Truppen kämpften, die durch die USA und England unterstützt wurden. Als nach einigen Jahren anfänglicher demokratischer Entwicklung eine linke Partei die Wahlen gewann, putschte das Militär und errichtete eine Diktatur. Erst 1976, nach dem Ende der Junta, begann für die Griechen der Weg in die Demokratie, die aber bis heute laut Richter als klientalistische Demokratie wirkt. Die politischen Eliten, die gerade an der Macht waren, bedienten sich freizügig im »Versorgungssystem« der EU, der Griechenland 1981 beigetreten war. Und diesem Beispiel folgten die Griechen in der Beziehung zu ihrem eigenen Staat. Immer wieder hörte ich auf meiner Reise, dass es in Griechenland eine Art Sport ist, Wege zu finden, um den Staat zu betrügen. Wenn man sich die Geschichte Griechenlands ansieht, wird das auch verständlich, denn ein staatliches System, dem man vertrauen kann, gab es nicht.
Vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Fremdbestimmung ist nun Alexis Tsipras der erste Präsident, der sich mit den Westmächten und den Klientelstrukturen »anlegt«. Ich habe viele Griechen getroffen, die bei aller Unzufriedenheit auf ihn zählen, weil er Hoffnung auf einen neuen Typ Politiker macht. Entgegen der Klientelpolitik der letzten Jahrzehnte hoffen viele auf eine Politik, der die nachhaltige Entwicklung des Landes am Herzen liegt.
¬ DER UNTERSCHIED ZWISCHEN DEM GRIECHEN UND BUDDHA IST NICHT GROSS, ABER ZUERST MUSST DU ZUM GRIECHEN WERDEN.¬ Bhagwan Shree Rajneesh
Philhellenen und Bestien
Berührt war ich auch von dem engen historischen Verhältnis zwischen Deutschland und Griechenland. Nach dem Besuch der Akropolis las ich überrascht vom Phänomen der Philhellenen. Deutsche und andere Mitteleuropäer, die im 19. Jahrhundert inspiriert durch die Romantik die griechische Antike verehrten. Nicht wenige der Philhellenen griffen mittels finanzieller Unterstützung oder direkt in den Befreiungsaktien Königs von Griechenland nach der Befreiung von den Türken: seinem Sohn Otto, der Griechenland 30 Jahre lang regierte. Er war es auch, der Athen zur Hauptstadt machte, womit auch die Wiederentdeckung der Antike begann.
Ein weiteres Kapitel deutsch-griechischer Geschichte, das bis heute nachwirkt, ist die Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Auf einer meiner Touren in der Nähe von Delphi kam ich zufällig durch das kleine Dorf Distomo. Im Reiseführer las ich, das hier eine SS-Einheit aus Rache für einen Angriff von Partisanen über 200 Frauen und Kinder brutal ermordet hatte. Auf dem Marktplatz des Ortes gab es eine Gedenktafel und auf einem Hügel ein Mausoleum. Auf dem Rückweg ließ ich mich von einer Taxifahrerin, die kein Englisch sprach, dorthin fahren. Nach einer Gedenkminute stieg ich wieder ins Auto, die Taxifahrerin schaute mich etwas ungläubig an und lächelte. Der Wald rund um die Gedenkstätte war niedergebrannt, schwarz verkohlte Baumstämme standen herum. Wie eine offene Wunde klaffte der Ort in der Landschaft. Und für viele Griechen wird diese Zeit noch heute so empfunden, auch wegen der unbeschreiblichen Bestialität, mit der die Deutschen dort wüteten.
Einen Eindruck von diesen Wunden gibt der Film »Ein Lied für Argyris«, in dem die Geschichte von Argyris Sfountouris erzählt wird, der beim Massaker von Distomo 30 Familienmitglieder auf schrecklichste Weise verlor. Später kam er als Waisenkind im Rahmen eines Hilfsprogramms des Roten Kreuzes in die Schweiz, konnte schließlich Physik studieren und arbeitete viele Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit. Gleichzeitig versuchte er, den Schrecken seiner Kindheit zu verarbeiten. Mehrere Male hatte er versucht, vom deutschen Staat Schadenersatz zu erhalten – vergeblich. Das Massaker wurde noch in den 2000er Jahren als »Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung« bezeichnet, für die es keinen Anspruch auf Schadenersatz gibt. Wenn man solch ein beispielhaftes Schicksal mitempfindet, bekommen die Forderungen nach Reparationszahlungen, die kürzlich wieder laut wurden, einen anderen Klang. Vielleicht geht es hier weniger um Geld als um eine echte Geste der Versöhnung. Im Film sagt Sfountouris, dass der Moment, in dem er Hoffnung auf Versöhnung schöpfen konnte, der Kniefall von Willy Brandt in Warschau war. Bis heute vermisst er solch eine Geste für das Verbrechen von Distomo.
Die Faszination am Fremden
Wie in einem Revival der Philhellenen wurde Griechenland in den 70er und 80er Jahren zum Sehnsuchtsort. Mit der Hippiebewegung und dem Traum von einem Leben, frei von gesellschaftlichen Zwängen, wurde der »natürliche, spontane Grieche« so etwas wie ein Sinnbild des neuen Menschen. Symbol dafür war natürlich »Zorba the Greek« oder »Alexis Sorbas«, der weise Lebemann aus dem Roman von Niko Kazantzakis. Noch spirituell aufgewertet hat das Bild des sinnlich erleuchteten Griechen Baghwan Shree Raineesh mit seinem Bild von »Zorba the Buddha«. Für Osho müssen wir erst Zorba werden, bevor wir Buddha werden können: »Ich mache mir Sorgen um Menschen, die keine Zorbas sind. Wie wollen sie Buddhas werden? Sie haben keine Basis für einen Buddha. … Der Unterschied zwischen dem Griechen und Buddha ist nicht groß, aber zuerst musst du zum Griechen werden.« Es war die Vision von der Vermählung von spiritueller Bewusstheit und lebendiger Sinnlichkeit. Aber auch die Vereinnahmung und Verklärung einer anderen Kultur, die zur Projektionsfläche der eigenen lebendiger Sinnlichkeit wird.
Während meiner Zeit in Griechenland verbrachte ich auch einige Tage bei dem Unternehmer Fritz Bläuel, der in den letzten Jahrzehnten eine Olivenölfirma aufbaute. Er lebt in der Mani im Süden von Pelleponnes, unweit des Ortes, wo Kazantzakis einige Zeit mit dem »echten« Sorbas verbrachte, dem er später ein literarisches Denkmal setzte. Fritz kam vor fast 40 Jahren mit einer Kommune aus Wien nach Griechenland, die hier ein neues, freies Leben führen wollte. Für sie erschienen die Griechen die Offenheit für das Sinnliche und seine Energien, das Zerbrechen des »Charakterpanzers«, wie es Wilhelm Reich nannte, schon verwirklicht zu haben. Aber in der Konfrontation mit der ländlichen Kultur erkannten sie, dass sie »das äußere Verhalten prämoderner Menschen mit der postmodernen Figur des Zorbas verwechselt hatten«, wie es Fritz formuliert. Die Kommune löste sich auf, allein Fritz blieb. In den folgenden Jahren erlebte er auch die positiven Wirkungen des EU-Beitritts: Moderne Ideen wie Gleichberechtigung der Frauen oder Tierrechte veränderten das Land.
Ein Tanz mit den Kulturen
In den folgenden Jahren baute Fritz Bläuel gemeinsam mit seiner Frau Burgi das Unternehmen von einer Ein-Mann-Firma zum größten Arbeitgeber der Region mit 70 Angestellten auf. Damit geben sie auch ein Beispiel dafür, wie eine erfolgreiche Integration unterschiedlicher kultureller Lebensformen möglich sein kann. Die Mani ist ein ländliches Gebiet, das sehr von dörflichen, familiären Strukturen und der Landwirtschaft geprägt ist. Beim Aufbau seiner Firma hat Fritz diese Metapher der Familie aufgegriffen und versucht, im Unternehmen eine familiäre Kultur zu entwickeln. In diesem familiären Rahmen hat er aber auch immer wieder Wege gefunden, die Eigeninitiative der Mitarbeiter zu fördern und ihnen durch Weiterbildung neue Perspektiven zu eröffnen. So konnten sie sich entwickeln und die Firma konnte mit loyalen Mitarbeitern wachsen.
An den lauen Abenden haben mir Fritz und Burgi viele Geschichten darüber erzählt, wie es für sie war, in Griechenland Fuß zu fassen. Heute leben sie einen kreativen Dialog der Kulturen. Nicht nur in der Führung ihrer Mitarbeiter, sondern auch, wenn zum Beispiel an den Abenden im Sonnenlink, einem Bio-Hotel, das die Bläuels betreiben, Konzerte mit deutscher Klassik stattfinden. Nach einem langen Gespräch über die Geschichte Griechenlands fragte ich Fritz einmal, was wir Deutschen denn von Griechenland lernen könnten. Er lächelte und sagte halb im Scherz: »Die Entspanntheit.«
¬ ATHEN IST IN DIESEM SINNE AUCH EIN ZUFLUCHTSORT, WEIL MENSCHEN SOLIDARISCH MITEINANDER UMGEHEN. ¬ Adam Szymczyk
Nicht nur Ökonomie
Claudio Agamben, mit dem wir unsere Reise begonnen haben, spricht in seiner Analyse der Krise Europas von der »Verdrängung des Politischen durch die Ökonomie«: »Seit mehr als zwei Jahrhunderten konzentriert sich die Energie des Menschen auf die Ökonomie. Vieles deutet darauf hin, dass für den Homo sapiens vielleicht der Moment gekommen ist, die menschlichen Handlungen jenseits dieser einzigen Dimension neu zu organisieren. Das alte Europa kann gerade da einen entscheidenden Beitrag für die Zukunft leisten.« In der aktuellen Sparpolitik sieht er ein Europa, das nur noch nach Kriterien des Ökonomischen agiert. Ein Gegenmittel wäre für ihn eine Neubelebung der Kulturen und eine Begegnung im Dialog der unterschiedlichen Lebensformen, die sich in Europa entwickelt haben. Hier besteht natürlich die Gefahr, schnell in alte Stereotypen vom entspannten (bzw. faulen) Griechen und verspannten (bzw. fleißigen) Deutschen zu verfallen.
Aber angesichts der neoliberalen Machtübernahme in weiten Bereichen unserer Gesellschaft ist die Infragestellung der Herrschaft des Ökonomischen und Produktiven über unser Leben, die für Agamben auch aus den Lebensformen der Mittelmeerländer erwächst, der Beachtung wert: »Ich bin der festen Überzeugung, dass die verschiedenen Arten der Geschäftslosigkeit für eine Gesellschaft ebenso wichtig sind wie die verschiedenen Arten der Produktion.« Heute macht diese Einsicht bei uns als Work-Life-Balance, Stressprophylaxe und Achtsamkeitsübung die Runde.
Wenn Europa weiter einer neoliberalen, ökonomischen Agenda folgt, sieht Agamben es vor dem Untergang. Europas Zukunft liegt gerade in Zeiten, wo so viele Menschen hier Schutz suchen, vielleicht vielmehr darin, sich als Kulturraum zu verstehen, zu bewahren und zu entwickeln. Mit unterschiedlichen kulturellen Lebensformen, die in einen fruchtbaren Dialog kommen.
Solch einen Dialog will auch die nächste Documenta fördern. Die weltweit größte Ausstellung für moderne Kunst findet 2017 unter dem Motto »Von Athen lernen« gleichzeitig in Kassel und Athen statt. Als ich durch Athen lief, hat es mich etwas an das Berlin nach der Wende erinnert. Damals war ebenso ein altes System zusammengebrochen, aber in den verfallenden Häusern regte sich neues, kreatives Leben – aber niemand wusste, wie diese Zukunft sein würde. Adam Szymczyk, der Kurator der Documenta, beobachtet: »Die Menschen hier versuchen, sich selbst zu organisieren. Es gibt überall leer stehende Gebäude, die von Künstlern, solidarischen Projekten der gegenseitigen Hilfe und Migranten belagert werden. Athen ist in diesem Sinne auch ein Zufluchtsort, weil Menschen solidarisch miteinander umgehen.«
Krisen und Zeiten des Umbruchs, wie wir sie in Griechenland und ganz Europa gerade erleben, bieten auch immer kreative Freiräume für das Neue. Damit sich dieses Neue zeigen kann, brauchen wir einen Dialog der Kulturen auf Augenhöhe, ohne zu beschönigen, ohne zu romantisieren und ohne Vorurteile und Ängste. Und vielleicht ist es angemessen, »Alexis Sorbas« das letzte Wort zu überlassen. Darin lässt Kazantzakis den Freund von Sorbas sagen: »Ich wusste wohl, was niedergerissen werden musste, aber ich wusste nicht, was man dann auf den Trümmern aufbauen könnte. Das weiß niemand, dachte ich. Die alte Welt steht handgreiflich vor dir, fest verankert. Wir leben sie und kämpfen mit ihr jeden Augenblick. Sie existiert. Die zukünftige Welt ist noch ungeboren, nicht zu greifen, im Flusse. Sie besteht aus dem Stoff, aus dem die Träume entstehen.«