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Das soziale Gefüge unserer Gesellschaften gleicht heute in Vielem einem Flickenteppich. Das Ausmaß der Fragmentierung nimmt immer mehr zu. In einer überraschenden Auseinandersetzung zur Fragmentierung zwischen den Geschlechtern lädt Elizabeth Debold uns ein, neue Wege jenseits einer Politk der Idendität zu entdecken.
Vor einigen Jahrzehnten, noch als Studentin, gab ich einmal eine Präsentation bei einer Konferenz über Klinische Psychologie, bei der sich die Teilnehmenden vor das Publikum stellen und ihren »Standpunkt« benennen sollten – die eigene Ethnie, soziale Klasse, sexuelle Orientierung und alle anderen relevanten demografischen Merkmale: »Ich bin eine weiße Frau aus der unteren Mittelschicht, heterosexuell, mit privilegierter Bildung.« Und so weiter. Es war eine Art neues postmodernes Begrüßungsritual, mit dem versucht wurde, die Besonderheit und Rahmenbedingungen für das Wissen oder die Autorität der Teilnehmenden zu bestimmen.
Ich war fasziniert aber auch etwas erschrocken. Zwar verstand ich das Bedürfnis, mit generellen Annahmen oder Zuschreibungen vorsichtig zu sein und nicht automatisch über »alle« Frauen und Mädchen zu sprechen. Ich teilte die Überzeugung, daß wir Raum und Resonanzmöglichkeiten für das ganze Spektrum der Stimmen schaffen müssen. Aber trotzdem fiel mir auf: Alle diese Selbstbeschreibungen schufen mehr Wände als Öffnungen. Statt eine Öffnung in eine bestimmte menschliche Sichtweise zu ermöglichen, blieb nur das Unverständnis: »Wenn du nicht schwarz oder bisexuell oder wohlhabend bist, kann ich nicht wissen, wer du bist.« Wenn aber keine Hoffnung besteht, dass wir uns kennenlernen können, warum sollten wir dann kommunizieren, uns verbinden oder es auch nur versuchen?
Als Opfer zu leben, ist genauso vergiftend, wie als Unterdrücker zu leben.
Seit damals ist die Spannung zwischen dem Verstehen und der Verständnislosigkeit zwischen Gruppen unterschiedlicher Identität enorm gewachsen. Die Identitätspolitik hat einerseits die kollektive Aufmerksamkeit auf die unantastbare Stimme der jeweils »anderen« gerichtet. Das ermöglichte neue Formen der Gerechtigkeit und neue rechtliche Regelungen. In Deutschland führte die Tatsache, dass Menschen aus Migrantenfamilien in der zweiten und dritten Generation die Staatsbürgerschaft verweigert wurde, vor fast 20 Jahren zu Gesetzesänderungen. Andererseits hat sich unser soziales Gefüge in den letzten Jahrzehnten immer weiter zu einer Art Flickenteppich verwandelt und damit viel an Zusammenhalt verloren. Die lauwarmen Beteuerungen des Wertes von Toleranz aus dem liberalen Spektrum haben es schwer gegen eine tiefliegende Fremdenangst und eine angenommene Bedrohung der nationalen Identität
Wie kann sich eine Balance oder gar eine Synergie zwischen der Lebenserfahrung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und dem gemeinsamen Ziel einer lebendigen, offenen Gesellschaft entwickeln? Braucht es in unserer Kultur ein anderes Bewusstsein, um einen Zusammenhalt zu schaffen, der verschiedene Lebenserfahrungen und Werte gemeinsam tragen kann? Kurzgefasst: Kann Vielfalt eine neue Form von Einheit schaffen?
Warum können wir … nicht hassen?
Offensichtlich entsteht ein großer Teil der gesellschaftlichen Herausforderung, Vielfalt und Einheit gemeinsam zu halten, aus den historischen Dynamiken von Herrschaft, Dominanz und Unterdrückung. Auch im Verhältnis der Geschlechter ist das mehr als deutlich. Zu oft wird als Lösung für die männliche Dominanz ihre Umkehrung vorgeschlagen. Aber Gleichberechtigung und Gerechtigkeit entstehen nicht einfach durch die Verschiebung der Dominanz einer Gruppe zu der historisch unterdrückten Gruppe. Wenn man einfach darauf setzt, dass es besser ist, dass Frauen mehr Macht haben, entsteht dadurch ein Muster der Dominanz und Unterdrückung, das letztendlich für alle destruktiv ist. Die Dynamik von Überlegenheit, Trennung und Missachtung der Menschlichkeit des anderen bleibt unverändert.
Vor Kurzem schickte mir ein Freund eine Kolumne aus der »Washington Post«, die ihn aufregte und bestürzte. Sie stammte von Suzanna Danuta Walters, einer Soziologin und der Direktorin eines Instituts für Genderstudien an einer US-amerikanischen Universität und trug den Titel: Why Can’t We Hate Men? – Warum können wir Männer nicht einfach hassen? Zuerst dachte ich, die Kolumne sei ironisch gemeint, denn wer würde so eine Meinung vertreten? Und wie könnte es die »Washington Post« veröffentlichen, wenn es nicht ironisch gemeint war? Denn es ist ganz offensichtlich, wenn man das Wort »Männer« mit »Schwarze«, »Weiße«, »Muslime«, »Juden«, »Sportler« oder »Frauen« ersetzen würde, dann wäre Walters’ Artikel nie gedruckt worden. Mein Freund sah das als einen Hinweis darauf, dass dieses brutale und vereinfachende Denken weitverbreitet und gar im Mainstream angekommen ist.
Ich bezweifle das, aber Walters’ Text ist leider nicht ironisch gemeint. Ich frage mich, wie eine Zeitung, die Jeff Bezos gehört und von einem renommierten männlichen Redaktionsteam geleitet wird, solch einen aufstachelnden und undurchdachten Artikel veröffentlichen konnte. (Auch wenn man leicht einwenden könnte, dass der Artikel Walters’ Anliegen mehr geschadet als genützt hat.) Aber statt zu spekulieren, möchte ich Walters’ Denkweise betrachten. Sie konzentriert sich auf Dominanz: Frauen waren in der Gesellschaft jahrhundertelang in unterdrückten Positionen, deshalb müssen die Männer jetzt alle Machtpositionen abgeben und an Frauen übertragen. Sie möchte keine Gleichheit, sie will, dass die Frauen nach oben kommen. Ihr Denken macht das Zusammenspiel von männlich und weiblich zu einer polarisierten Hierarchie, in der ein Geschlecht »gewinnt«. Auch wenn sie wahrscheinlich progressive Ziele hat, ihr Denken ist ein aggressives und regressives Stammesdenken. Dieses Nullsummenspiel – Ich gewinne, du verlierst; du gewinnst, ich verliere – schafft und verstärkt Dominanz und Hierarchie. Beides wird auf diese Weise zu einem zentralen Element unserer Identität.
Wir können nicht frei sein, wenn wir keinen starken Kern der Selbstverantwortlichkeit kultivieren.
Erfahrung und Lebenserfahrung
Paradoxerweise hat die Identitätspolitik ein tieferes soziales Bewusstsein für Ungerechtigkeit und Ausgrenzung geschaffen und gleichzeitig zu sozialer Fragmentierung und Isolation geführt, die so Ausgrenzung und Ungerechtigkeit weiter verstärken. In seinem neuen Buch »Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet« versucht der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama herauszufinden, wie man dem Bedürfnis jedes Menschen, als Mensch anerkannt zu werden, gerecht werden kann, um auf diese Weise ein integriertes soziales Ganzes zu schaffen. Fukuyama will über die Einschränkungen der Rationalität der Moderne, mit denen er sehr vertraut ist, hinausgehen und sich in die Bereiche des Fühlens und des Innenlebens begeben, die sich in der Postmoderne eröffnen. Er fragt: Wie kann unsere postmoderne Gesellschaft den Wert der zunehmend unterschiedlichen Bürger anerkennen und gleichzeitig ein gemeinsames Verständnis der Geschichte und eine gemeinsame Hoffnung für die Zukunft entwickeln? Er meint, wir brauchen »eine bessere Theorie der menschlichen Seele«.
Mit Rückbezug auf die alten Griechen fokussiert er sich auf thymos, den Teil der Seele, der von Sokrates identifiziert wurde und von Fukuyama als das Bedürfnis definiert wird, als wertvoll anerkannt zu werden. Unsere liberale Demokratie beruht auf den universellen Menschenrechten, aber, so Fukuyama, wenn wir eine plurale Gesellschaft wollen, die allen Bürgern zugutekommt, müssen wir auch auf das Bedürfnis jedes Bürgers eingehen, schlicht und einfach gesehen und wertgeschätzt zu werden. Das Erleben der unterschiedlichen sozialen Gruppen ist aber sehr verschieden und diese Unterschiede sind in institutionellen Strukturen und menschlichen Vorurteilen tief eingebettet. Das macht dies alles zu keiner leichten Aufgabe.
Hier greift Fukuyama zu kurz. Er zeigt, wie der Begriff »Lebenserfahrung« im Gegensatz zu »Erfahrung« zu einer subtilen Waffe geworden ist. Er schließt jeden außerhalb einer bestimmten sozialen Gruppe aus. Ein Beispiel ist die Geschichte von der Konferenz, mit der ich begonnen habe: Wenn ich nicht zu einer bestimmten sozialen Gruppe gehöre, dann kann ich ihre Erfahrung nicht kennen und nicht für sie sprechen. Wäre es nicht heilsamer, statt uns hinter getrennten und oft feindlichen Identitäten einzumauern, eine Praxis der Erweiterung unserer Empathie gegenüber den »anderen« zu entwickeln? Aber so weit geht Fukuyama nicht. Sein Vorschlag ist, dass es möglich ist, unsere Identitäten zu verändern und zu erweitern.
In seinem Bemühen, Wege zur Erweiterung unserer Identitäten zu finden, damit sie umfassender werden können, weiß Fukuyama nicht, wie man hier tief genug gehen kann. Wenn unser gemeinsames Menschsein unsere jeweiligen Identitäten durchdringen könnte, dann entstände vielleicht ein soziales, gemeinsames Bewusstsein, das uns zusammenhält. Hier wird die Arbeit derjenigen von uns wichtig, die sich spirituell engagieren.
Radikale Abrüstung
Das heikle und schwierige Unterfangen, auf das wir uns einlassen müssen – nicht nur in Bezug zu Gender, sondern in Bezug zu allen sozialen Aspekten unserer Identitäten –, ist zweifach. Erstens, es braucht ein tiefes Gewahrsein der heiligen Dimension des Urgrunds dessen, wer wir sind. Wir können das in der Natur und in der spirituellen Praxis insbesondere der Meditation entdecken. Mit der Fähigkeit, uns unseres Geistes und unserer eigenen Reaktionen bewusst zu werden, beginnen wir auch, unseren eigenen Anteil an den Dynamiken von Dominanz und Unterordnung zu erkennen. Und wenn Vertrauen in den radikal offenen heiligen Raum jenseits des Verstandes entsteht, dann kann die Erkenntnis, dass wir alle immer schon verbunden sind, auch unseren Beziehungen mit denen eine neue Grundlage geben, die anders erscheinen als wir. Dieser Raum braucht unsere Demut. Und es ist unsere Neugier, die ihn lebendig hält. Eine Neugier, die entsteht, wenn wir Menschen nicht durch unsere Bezeichnungen und Annahmen in Schubladen legen.
Es braucht noch ein Zweites. Es braucht die Bereitschaft aller Seiten, die Opferhaltung aufzugeben. In einem postmodernen Milieu, in dem die Wahrheit mit dem Gefühl gleichgesetzt wird, erscheint dieses Vorhaben verrückt. Man könnte fragen: Was ist mit den etwa 2500 Jahren, in denen die westliche Kultur Frauen als minderwertig bezeichnet hat? Erinnern wir uns nur an Aristoteles, der als Antwort auf Platon erklärte: »In Bezug auf die Geschlechter ist der Mann von Natur aus überlegen und die Frau unterlegen, der Mann ist der Herrscher und die Frau ist Untertan.« Oder um in die Gegenwart zu schauen: Was ist mit all dem, was die #metoo-Bewegung ans Licht gebracht hat – was kaum ansatzweise dem alltäglichen Sexismus – dem #everydaysexism – gerecht wird, durch den sich viele Frauen (und Mädchen) in ihrer Haut nicht sicher fühlen? Und dann gibt es ja noch Ethnie, Religion und gesellschaftliche Klassen. Was ist mit all dem?
Aber ein radikales Aufgeben der Opferhaltung ist der einzige Weg nach vorn. Es braucht uns, jede und jeden von uns, Frauen und Männer, Angehörige aller Religionen und Ethnien, um dies zu tun. Als Opfer zu leben, ist genauso vergiftend, wie als Unterdrücker zu leben. Wir können nicht frei sein, unsere Menschlichkeit voll entwickeln und gesunde Beziehungen aufbauen, wenn wir keinen starken Kern der Selbstverantwortlichkeit kultivieren. Zudem bindet uns die Opferidentität an diejenigen, die wir als Unterdrücker wahrnehmen. Es scheint der Intuition zu widersprechen, aber erst wenn wir Verantwortung übernehmen, können wir in einer angebrachten und nicht selbstgerechten Weise auf die systemischen Strukturen der Ungleichheit antworten, in denen wir als Frauen und Männer, Deutsche und Geflüchtete, Christen, Muslime oder Juden leben.
Reichhaltige Lebensräume gestalten
Wenn wir die Opferhaltung aufgeben, öffnet sich ein neues Potenzial für die Vielfalt dessen, wer wir sind. Statt durch eine Opferhaltung definiert zu werden, kann unsere Lebenserfahrung die Quelle von Stärken und von Werten werden, die miteinander geteilt und öffentlich in den Dialog gebracht werden. Wir können viel von den Menschen lernen, deren Erfahrung unserer Kultur sich dramatisch von der unseren unterscheidet. Die Schriftstellerin Toni Morrison, die 1993 den Nobelpreis für Literatur erhielt, sagte einmal: »Eine schwarze Schriftstellerin zu sein, ist kein armer Ort für das Schreiben, sondern ein ungemein reicher und vielfältiger. Er begrenzt meine Vorstellungskraft nicht, er erweitert sie.« Wie kann unser Erleben von Gender, Ethnie, sozialer Klasse oder Religion – einschließlich all der Kämpfe und Traumatisierungen – zu einem reichen, vielfältigen Ort werden, aus dem heraus wir leben und unser Erleben mit anderen teilen?
Die Identitätspolitik, wie sie von der Rechten und Linken verfolgt wird, ist zum Gewissen unseres Gemeinwesens geworden. So umstritten wie sie ist, hat sie eine Wahrnehmung für soziale Unterschiede an die Öffentlichkeit gebracht, die gleichzeitig Trennung und Feindseligkeit schuf – und einige wirkliche Dämonen von der Leine ließ. Zwischen Opfern, die gegeneinander um größere Anerkennung und Beachtung kämpfen, ist es fast unmöglich, ein starkes Gemeinwesen zu bilden. Aber es gibt eine reichere, vielfältigere Haltung der sozialen Erfahrung, die in der Ganzheit gründet und von der Einzigartigkeit und den Stärken, die aus einer anderen Lebenserfahrung erwachsen, belebt wird. Es ist ein Raum, in dem Unterschiede zu einem pulsierenden Ganzen werden. Hier kann unsere Sehnsucht danach gestillt werden, eine Welt zu sehen und zu verwirklichen, in der wir in den herausfordernden Zeiten, die vor uns liegen, einander unterstützen und gegenseitig bestärken.
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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