Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
April 21, 2017
Wir alle lernen. Aber was ermöglicht bewusstes, essenzielles Lernen, das uns als Menschen verändert und erweitert? Wir haben fünf Lernende gefragt:
Kirstie Simson
Ich verstehe wirkliches Lernen als Transformation der Selbst-Entdeckung durch einen Prozess des Aufdeckens und Enthüllens. Jeder Mensch hat das Potenzial für einsichtiges Verstehen als innewohnende Qualität des Menschseins. Ein Kind tritt ins Leben mit einem natürlichen Gefühl tiefer Neugierde. Durch einen Prozess von Versuch und Irrtum entdeckt das Kind eine angeborene Aufmerksamkeit für Bewegungen, die zu Sitzen, Stehen, Gehen, Laufen und schließlich Reden und Kommunizieren führen. Dem Kind wird nicht »gelehrt«, wie man diese Dinge tut; es lernt sie dadurch, dass es seine Umgebung aufnimmt und darauf antwortet.
Durch unsere Verbindung mit dem Leben und dem Wunsch, ganz daran teilzuhaben, bewegt diese Sehnsucht nach tiefem Verstehen, Lernen und Transformation unser Sein. Liebe, Unterstützung, Respekt, Verbindung, eine nicht-bedrohliche Umgebung, die Vertrauen schafft, und die Grundbedürfnisse, wie gesunde Nahrung und sauberes Wasser, die wir für das Überleben brauchen – diese Dinge geben uns die wesentliche Grundlage, um in diesem von Neugierde erfüllten Zustand des Lernens zu bleiben und uns zu entfalten. Sich bewusst zu werden, dass sich so die Lebenskraft in uns manifestiert, ist Teil unseres Reifungsprozesses, der in uns eine engagierte, liebevolle Absicht weckt, dem zuzuhören, was das Leben uns mitteilt. Wir müssen still sein, um zuzuhören. Das ist Lernen in seiner wahrsten Form.
Kirstie Simson, Tänzerin und Tanzlehrerin, lehrt u. a. an der University of Illinois und in Amsterdam, Kopenhagen und London.
Klaus-Dieter Platsch
In meinem Beruf als Arzt geht es neben dem medizinischen Wissen vor allem um einen heilsamen Umgang mit den Menschen. Nur steht »heilsamer Umgang« nicht unter den Ausbildungszielen des Arztberufes. Auch wenn an manchen Universitäten die Themen ärztliche Kommunikation, Empathie oder Achtsamkeit inzwischen am Rande vorkommen, lässt sich menschliches Verhalten nicht akademisch lernen. Es macht einfach einen gravierenden Unterschied, ob man etwas über Empathie weiß oder empathisch ist.
Wenn Wissen zum integrierten Bestandteil einer Persönlichkeit werden soll, braucht es Übungs- und Erfahrungsräume, in denen auch das innere Wissen auftauchen kann. Durch eine kontinuierliche Übungspraxis kann sich das so Erfahrene im Lernenden verankern und lebendig werden.
Das Subjektive des kranken Menschen und des Arztes müssen miteinander in Resonanz stehen dürfen. Das Prinzip der Machbarkeit braucht das Gegengewicht der Demut; das Prinzip des Wissens die Bereitschaft, das noch nicht Gewusste miteinzubeziehen. Und das Fachliche braucht das Menschliche, um heilsam wirken zu können.
Dr. med. Klaus-Dieter Platsch, Leiter des Instituts für Integrale Medizin, Projektleiter des Caring and Healing-Trainings an der Steinbeis-Hochschule Berlin.
Simon Tress
Lernen bedeutet für mich, nie aufzuhören, etwas zu tun, aber auch zu lassen, wenn es notwendig ist. Wenn ich lerne, weiß ich, dass ich mit dem, was ich tue, Erfolg haben kann – aber ich lerne auch, wenn es noch nicht so ist, wie es sein soll. Ich denke, man sollte im Leben bei allem, was man tut, sehr viel Demut, Dankbarkeit und Respekt einbringen. In meinem bisherigen Leben habe ich schon sehr oft gelernt, dass man das, was man aussät, auch erntet. Und im Leben lernt man nie aus.
Beim Kochen ist das Lernen so wichtig, weil sich viele Prozesse nicht wiederholen. Wir kreieren ein Gericht, kochen es eine Weile und dann finden wir ein neues Rezept. Das ist insbesondere so, wenn man saisonal mit frischen Zutaten kocht. Natürlich ist das ein sehr schönes Lernfeld, weil Kochen und Genießen zu den schönsten Dingen auf der Welt gehören. Und wir lernen, immer etwas Neues aus den Zutaten zu machen. Es wird auch erwartet, dass wir etwas Besonderes kochen, was man zuhause nicht kochen kann. Wir müssen also immer weiter an neuen, kreativen Rezepten arbeiten, immer weiter lernen. Und dazu muss ich zur Ruhe kommen, um herauszufinden, was ich mit dem, was mir an Zutaten zur Verfügung steht, kreieren kann. Das Wichtigste ist Achtsamkeit, achtsam mit sich selbst, achtsam in seinem Tun, achtsam mit seinen Ressourcen, achtsam mit den Zutaten, mit denen man arbeitet. Achtsamkeit ist die wichtigste Haltung, die Lernen möglich macht.
Simon Tress, Bio-Koch, Kochbuch-Autor, Fernseh-Koch und Restaurantbetreiber.
Aftab Omer
Wirkliches Lernen entsteht durch Erfahrung. Was immer Erfahrung fördert, unterstützt das Lernen. Und was Erfahrung reduziert, behindert Lernen. Erfahrung entsteht in geheimnisvoller Weise aus der Verbindung zwischen dem, was uns als »Innen« und »Außen« erscheint, und dem, was wir als »individuell« und »kollektiv« wahrnehmen. Aus einer integralen Perspektive ist es wesentlich, individuelles und kollektives Lernen zu fördern, das wirklich transformativ ist. Wenn Erfahrung durch Ungerechtigkeit und Unterdrückung eingeengt, oberflächlich und fehlgeleitet wird, entsteht ein falsches, nachahmendes Lernen, welches dem wahren Sein nicht gerecht wird. Lernen, das auf Information und rationales Wissen zielt, ist eine adaptive Kompensation für eine fehlende Erfahrung des Seins.
Ein integrales »Ich«, das das Sein durch vertiefende, diversifizierende, verkörpernde und personifizierende Erfahrung bewahrt, ist die Grundlage für die Verwirklichung unseres individuellen und kollektiven Lernpotenzials. Optimales Tun vertieft und unterstützt unser Sein. Wirkliches Lernen verändert den Lernenden unaufhörlich. Die Verfügbarkeit von Information kann wirkliches Lernen sowohl behindern als auch unterstützen. Da das Internet überwiegend auf Informationen basiert, haben wir gerade erst begonnen, sein Potenzial für die Unterstützung von wirklichem Lernen global zu verwirklichen.
Dr. Aftab Omer, Gründer und Leiter der Meridian University in Petaluma, Kalifornien.
Helga Breuninger
Lernen heißt, Neuland zu betreten. Neues wahrzunehmen, zu begreifen, zu erspüren. Ein Abenteuer mit offenem Ausgang. Kann auch gefährlich werden.
Üben lässt sich nur das, was man schon kann. Lernen ist eine hochkomplexe und zauberhafte Mischung aus sinnlichen, kognitiven, rationalen und emotionalen Ereignissen. Lernen gelingt aber nur dann, wenn jemand etwas lernen will. Deshalb ist die Freude am Lernen der entscheidende Motor für alle Lernprozesse. Er kommt ins Stottern und verliert seinen Antrieb, sobald jemand zum Lernen gezwungen wird. Dann wird nur noch gelernt, wie dieser Zwang überwunden werden kann. So verschwinden die Entdeckerfreude und die Gestaltungslust. Dann sind nicht mehr alle Teile des Gehirns gleichermaßen involviert und kooperieren: der Neocortex für Kognition, das Mittelhirn für die Gefühle und das Stammhirn für die körperlichen Reaktionen, die jeden Lernprozess begleiten.
Wenn das Gehirn aber zusammenarbeitet, entsteht der beglückende Moment der Stimmigkeit. Das Kind strahlt und sagt: »Mama schau mal!« Glücksmomente wollen geteilt, d. h. mitgeteilt werden, denn das Gehirn ist ein Sozialorgan.
Und deshalb lernen wir am besten in vertrauensvollen Beziehungen. Mit Menschen, die uns aus einer wertschätzenden und ermutigenden Grundhaltung heraus beim Abenteuer des Lernens begleiten. Die uns dabei unterstützen, mit der Ungewissheit umzugehen und uns unerschütterlich zutrauen, dass wir es selbst schaffen. Die uns weder daran hindern, Fehler zu machen, noch uns in der Frustration alleine lassen. Begleiter, die uns helfen, Fehler als wichtigen Teil der Lösungsfindung zu erkennen und zu nutzen. Begleiter, die sich mit uns freuen, wenn wir wachsen und unser Potenzial entfalten.
Dr. Helga Breuninger, Psychologin, Begründerin der Integrative Lerntherapie und Gründerin der Helga Breuninger Stiftung.