Challenge is good
With the Alter Ego network, Ronan Harrington and Richard Bartlett create a meeting place where pioneers and leaders experience transformative processes to work more effectively and joyfully for social change.
November 5, 2018
Kent Bye ist Gastgeber des Podcasts »Voices of VR« und hat mit fast eintausend Pionieren zu Fragen rund um das Potenzial der virtuellen Realität gesprochen und Theo Badashi beschäftigt sich als Ökologe, Autor und Filmemacher mit einer integralen Vision der Verbindung von Technik und Ökologie. Inspiriert vom Philosophen Richard Tarnas sehen beide das Potenzial einer neuen Renaissance, die durch die technischen Möglichkeiten und ihre Grenzen ganz neue Fragen an uns stellt.
Virtuelle Realität schafft eine ganze Umgebung, die einem das Gefühl von verkörperter Präsenz gibt.
Kent Bye
evolve: Wie wirken sich eurer Ansicht nach die neuen Medien auf unsere Bewusstseinsentwicklung aus?
Kent Bye: Die Renaissance und die Aufklärung beruhten zum Teil auf der Verbreitung des Buchdrucks, der die Fähigkeit mit sich brachte, Informationen und Wissen in völlig neuer Weise zu erfassen. Heute erleben wir eine ähnliche Zeit, in der die digitalen Medien mit Videospielen, dem Internet und interaktiven Kommunikationstechnologien fast wie virtuelle Druckerpressen fungieren. Und Filme dienen als visuelles Medium des Geschichtenerzählens, das tiefe Gefühle vermitteln kann. Mit der virtuellen Realität geben wir den Medien zum ersten Mal einen Körper. Wir gebrauchen alle unsere sensomotorischen Fähigkeiten in einer Weise, die uns das Gefühl gibt, komplett in der Erfahrung eingetaucht und präsent zu sein.
Für mich ist das, was in dem Medium der virtuellen Realität passiert, eine Balance zwischen Yang und Ying, den zwei Polen der menschlichen Erfahrung, wie sie im Taoismus beschrieben werden. Der Körper kann absichtsvoll mit der Erfahrung eines anderen Menschen interagieren, was eher dem Yang-Prinzip entspricht. Und es gibt eine Geschichte, die unsere Gefühle bewegt, was zum Ying-Prinzip gehört. Virtuelle Realität schafft eine ganze Umgebung, die einem das Gefühl von verkörperter Präsenz gibt, in der man sich tatsächlich in seiner unmittelbaren phänomenologischen Erfahrung erlebt, statt nur in einer getrennten objektiven Realität.
Gerade entsteht eine neue technologische »Weisheitskultur«, die auf einer tiefen Ehrfurcht vor der Natur beruht.
Theo Badashi
Theo Badashi: Die neuen Medientechnologien sind heute die Grundlage der modernen Kultur und unserer Erfahrung der Wirklichkeit. Die kulturellen Narrative, die durch diese Technologien unterstützt werden, bestimmen auch unsere Entwicklung als Spezies. Gegenwärtig kommt der stärkste Einfluss auf die neue Medienlandschaft und das umfassendere Narrativ im Zusammenhang mit der Technik aus dem wissenschaftlichen Materialismus, der sich mehr und mehr durch die sich schnell entwickelnde Kultur des Transhumanismus ausdrückt. Obwohl ich viele transhumanistische Technologien unterstütze, empfinde ich das kulturelle Narrativ dahinter oft als sehr problematisch. Es basiert auf der Idee der Aufklärung, dass die Natur eine Maschine sei, die kontrolliert werden sollte. Dieses Narrativ der Kontrolle der Natur war die Triebkraft des Kapitalismus und des wirtschaftlichen Kolonialismus der vergangenen 200 Jahre. Es ist der Hauptgrund der ökologischen Katastrophe, des Artensterbens und des Klimawandels. Das ist sicher kein Narrativ, dem wir in Zukunft weiter folgen wollen.
Ich glaube, dass gerade eine neue technologische »Weisheitskultur« entsteht, die auf einer tiefen Ehrfurcht vor der Natur beruht und deren Ziel es ist, die Technologie in einem umfassenderen spirituellen und kosmologischen Kontext zu verorten. Dieses neue Paradigma, das ich als Kosmohumanismus bezeichne, möchte die neuen Medientechnologien nicht nutzen, um unser Menschsein aufzugeben, wie es viele Transhumanisten anstreben, sondern so tief in die Natur einzutauchen, dass wir uns zu kosmischen Wesen entwickeln. Wenn wir die neuen Medientechnologien weise anwenden, können sie eine integrale Rolle bei der weiteren Entstehung dieses Paradigmas spielen.
e: Ihr sprecht beide davon, dass diese Technologie aus dem Projekt der Aufklärung hervorgeht, das den Westen in den letzten 500 Jahren geprägt hat. Welche Aspekte ziehen sich durch diese Entwicklung der Technologie?
KB: Die Aufklärung stellte sehr intensiv die Frage nach dem Individuum. Was heute ansteht, ist die Integration des Individuellen mit dem kollektiven Ganzen in einer viel ganzheitlicheren Weise. Joseph Campbell sprach über die archetypische Heldenreise, die dem Yang-Prinzip entspricht. Was heute entsteht, ist eine archetypische Reise, die das Ying zum Ausdruck bringt und uns wieder mit dem Ganzen verbindet. Die immersiven Technologien werfen diese Fragen auf: Was bedeutet es, mit dem Ganzen verbunden zu sein? Was bedeutet es, ganz präsent in unserem Körper, in unseren Gefühlen und tief in unseren unmittelbaren phänomenologischen Erfahrungen verwurzelt zu sein?
TB: Dieser Individuationsprozess im Kern der Aufklärung war eine notwendige Rebellion gegen die autoritäre Kontrolle der Kirche. In diesem Sinne war die Aufklärung eine absolut notwendige Bewusstseinsrevolution, damit wir eine neue Ebene persönlicher Freiheit und Autonomie erreichen konnten. Diese Suche nach Autonomie war ein Segen und ein Fluch. Sie führte zu einem tiefgreifenden Fortschritt in der Freiheit und der Technologie, die den Lebensstandard und die Möglichkeiten des Selbstausdrucks für zahllose Menschen erweitert haben. Gleichzeitig ist eine Art technologische Hölle entstanden mit dem globalen Überwachungssystem und weit verbreiteter Techniksucht, von der so viele betroffen sind. Diese Realitäten existieren im unbewussten Schatten des Projekts der Aufklärung. Wenn wir uns als technologisch fortschrittliche Kultur weiterentwickeln wollen, müssen wir uns diesem Schatten stellen, ansonsten riskieren wir die Zerstörung des gesamten Projekts.
Die Aufklärung war eine notwendige Bewusstseinsrevolution, damit wir eine neue Ebene persönlicher Freiheit erreichen konnten.
Theo Badashi
KB: Die Frage, »Was ist Wirklichkeit?« bewegt gerade viele Menschen. Wenn Menschen eine virtuelle Erfahrung machen, wird ihr Bewusstsein so stimuliert, dass es sich real und nicht unterscheidbar von anderen Erfahrungen anfühlt, wie mit anderen Menschen zu interagieren, die eigene Handlungskraft auszudrücken oder ein Rätsel zu lösen. Diese medial vermittelten Erfahrungen werden im Gehirn genauso verarbeitet wie echte Lebenserfahrungen. Was bedeutet das im Licht der Frage: »Was ist Wirklichkeit?«
Es gibt eine Spannung zwischen Objektivität und Subjektivität. Online-Trolling ist ein gutes Beispiel dafür. Wenn Leute glauben, dass etwas, das mittels einer Technologie vermittelt wird, nicht real ist, können sie annehmen, sie hätten das Recht, andere zu belästigen. Wenn wir jedoch Bewusstsein als den primären phänomenologischen Aspekt von Wirklichkeit ansehen und Technologie dieses bloß vermittelt, ist es genauso real wie jede andere Erfahrung.
Mit der #MeToo-Kampagne und #BlackLivesMatter erleben wir einen philosophischen Wandel in der Kultur. Wir waren es gewohnt, nur das als wirklich zu betrachten, was objektiv bewiesen ist. Jetzt sehen wir, dass so gut wie jede Frau Belästigung erlebt hat und ignoriert wurde oder ihr nicht geglaubt wurde. Jetzt bewegen wir uns plötzlich in eine neue Realität, in der wir glauben, dass es passiert ist, weil wir sehen, dass es in der Gesellschaft Beweise dafür gibt. Das wirft wiederum die Frage auf: Was ist Wahrheit? Woher wissen wir, dass jemand einen Erfahrungsbericht nicht erfunden hat? Denn wenn wir jede Geschichte glauben, können wir dies nur schwer mit der momentanen Rechtsprechung vereinbaren.
Die Strukturen unserer Wirklichkeit fallen auseinander. Durch künstliche Intelligenz und Deep Fakes, also täuschend echte Falschinformationen, kann man keinem Foto oder Video mehr trauen. Jeder kann jede erdenkliche Wirklichkeit kreieren. Es gibt bereits die Filterblasen, die von den sozialen Medien geschaffen werden. Darin treffen wir nur noch auf Menschen, die unsere Meinungen teilen.
Die Technologie hat all diese Entwicklungen ermöglicht und beschleunigt. Gleichzeitig können immersive Technologien helfen, weil sie uns aus abstrakten und fragmentierten mentalen Konstrukten lösen und uns in die Verkörperung bringen.
Wir wissen, dass es verschiedene Wertesysteme und Entwicklungsstrukturen gibt, wie die von Carol Gilligan, Jean Gebser oder das von Clare Graves formulierte Modell Spiral Dynamics. Das sind verschiedene Möglichkeiten, um die Entwicklung unserer Weltsichten im Laufe des Lebens zu verstehen. Ein Schlüsselaspekt dabei ist, dass man Entwicklung nicht erzwingen kann. Wir müssen unmittelbare Erfahrungen mit außergewöhnlichen Situationen machen, die dazu führen, dass wir Informationen integrieren, die nicht zu unserer bisherigen Weltsicht passen. Das dauert viel Zeit und wie es geschieht, ist ein Geheimnis. Niemand weiß genau, wie man diesen Prozess auslösen kann. Mit den immersiven Technologien finden wir vielleicht einen Weg. Durch künstliche Intelligenz, interaktive Dialoge, immersive Umgebungen usw. können wir den Menschen einen Erfahrungsraum bieten, in dem sie ihre Weltsichten überprüfen können.
e: Theo, du hast im Zusammenhang mit diesen immersiven Technologien über eine neue Weisheitskultur gesprochen. Wie finden wir Weisheit in dieser Welt der radikalen Subjektivität?
TB: Dafür müssen wir zunächst erkennen, dass diese Technologien tatsächlich Antriebskräfte unserer persönlichen und kollektiven Evolution sind, und dass die Stärke unserer Absicht bestimmt, wie wir uns gemeinsam mit ihnen entwicklen.
Ich habe eine Idee formuliert, die ich als »technologische Verwirklichung« bezeichne. Darin wird Maslows Vorstellung von Entwicklung und seine Bedürfnispyramide auf die Technik anwendet. Technologien werden vielleicht für bestimmte Zwecke eingeführt, wie zum Beispiel die Nutzung sozialer Medien, um mit Familie und Freunden in Kontakt zu sein. Aber während sie sich in der Menschheit ausbreiten, entwickeln sich die möglichen Anwendungsformen und Fähigkeiten dieser Technologien zu höheren Formen der Verwirklichung weiter. Ein Beispiel ist die Nutzung der sozialen Medien, um das Bewusstsein der Massen in einer bestimmten Richtung zu verändern.
Wenn wir das beachten, dann sehen wir, dass immer mehr Menschen und Gruppen die neuen Medientechnologien nutzen, um unsere kollektive Psyche schnell zum Guten zu verändern, wie wir es bei Bewegungen wie #BlackLivesMatter und #MeToo sehen oder bei der gestiegenen Aufmerksamkeit für die Klimakrise. Wenn also unsere Beziehung zu diesen Technologien reifer wird, werden sich auch unsere Fähigkeiten, sie für schnellen sozialen Wandel zu nutzen, weiterentwickeln.
Um eine dringend notwendige technologische Weisheitskultur entstehen zu lassen, müssen ausreichend Menschen die innere Arbeit auf sich nehmen, um ihr individuelles Ego zu transformieren. Dann können sie die neuen Technologien nutzen, um anderen bei ihrer Heilung und Transformation zu helfen. Psychedelische Drogen, transpersonale Psychologie und andere verfügbare Technologien können sehr wirksame Methoden für die Heilung und Transformation unserer tieferen Traumen und Wunden sein. Dadurch können wir sensibler und bewusster für unsere Verbundenheit mit dem Lebendigen Ganzen werden. Zudem können wir achtsamer werden in unserem Umgang mit Technologien wie sozialen Medien, virtueller Realität und künstlicher Intelligenz.
Was heute ansteht, ist die Integration des Individuellen mit dem kollektiven Ganzen.
Kent Bye
e: Kent, du sagst, dass wir nicht länger wissen, was wahr ist. Wie können wir gemeinsam in diesem neuen Kontext bei der kulturellen Entwicklung mitwirken?
KB: Leute wie Joe Rogan, Sam Harris und Jordan Peterson sprechen ausführlich über diese Themen, manchmal mehrere Stunden lang. Menschen führen solche tiefgehenden Gespräche und wir können diese ausführlichen Geschichten hören. Es gibt einen Trend zu Podcasts und neuen Medientechnologien auf YouTube. Die Podcasts existieren nicht in Schriftform, sie kommen nicht aus dem Verstand, sondern sind emergent, sie entstehen aus dem Moment, im lebendigen Gespräch. Daraus ergibt sich eine dialektische Haltung, durch die man den gesamten Kontext einer Aussage verstehen kann. In einem dialektischen Prozess lassen sich zwei Sichtweisen aufeinander ein. Wir können diese Widersprüche auflösen oder in der Lage sein, die andere Perspektive anzuhören, und durch diese Dialektik gelangen wir zu einer Wahrheit.
Heute hören wir meist nur ein paar Ausschnitte aus einem vieroder fünfstündigen Interview. Es liegt in der Natur eines solchen Ausschnitts, dass der tiefere Zusammenhang dabei verlorengeht. Wenn eine solche Zerstückelung der Wahrheit vermieden wird, erhalten die Menschen direkten Zugang zum Zusammenhang des Gesprächs. Auf einer grundlegenden Ebene werden wir dadurch aufgefordert, gemeinsam in den dialektischen Austausch zu gehen. Letztendlich hängt die Zukunft davon ab, dass Menschen zusammenkommen und eine gemeinsamen Grundlage finden, Dinge, auf die sie sich einigen können.
e: Theo, wie siehst du unsere Entwicklung vom hyper-individualiserten Selbst zum sozialen Selbst?
TB: Eine Möglichkeit ist, eine stärkere Absicht und Authenzität in diese komplexen medialen Räume zu bringen, indem wir diese Plattformen nutzen, um bedeutungsvolle Verbindungen in Bezug zu wichtigen Fragen zu bilden. Ich sehe immer mehr digitale Gemeinschaften, die sich in der analogen Welt manifestieren. Menschen finden sich zunächst online im Zusammenhang mit einem gemeinsamen Interesse, aber dann treffen sie sich auch »offline« in sozialen Begegnungsräumen. Festivals und kreative Events sind ein Beispiel und Bewegungen wie die Meetups ein anderes. Wir können diese Technologien tatsächlich dafür nutzen, zusammenzukommen und bedeutungsvolle Gemeinschaften zu schaffen, wenn wir uns dafür entscheiden und dementspechend handeln.
KB: Viele Menschen nutzen heute die Technologie der Blockchain, in der Daten dezentral miteinander verbunden werden. Das bekannteste Anwendungsbeispiel ist die Onlinewährung Bitcoin. Durch Nutzung solcher dezentralen Technologien entscheiden die Menschen sich für Selbstsouveränität, was bedeutet, dass ihre Daten ihnen selbst gehören. An diesem Punkt beginnt das Pendel in Richtung Dezentralisierung zu schwingen, wodurch es möglich sein wird, über Methoden nach Art der Blockchains zu wählen und kollektiv Entscheidungen zu treffen. Es gibt nicht viele andere wirksame Kräfte, die den globalen Unternehmen etwas entgegensetzen, aber die starke Bewegung der Blockchain-Technologien ist in der Lage, die zentralisierte Macht zu dezentralisieren und die Macht wieder in die Hände der Menschen zu legen.
e: Worin liegt eurer Meinung nach das größte Potenzial dieser neuen Medientechnologien?
TB: Dies sind die vier größten Potenziale, die ich sehe: Die Nutzung dieser Technologien, um unsere tiefsten Traumen und Wunden zu heilen und die noch unentdeckten Fähigkeiten in unserer kollektiven Vorstellungskraft zu erforschen. Wir können diese Medien auch nutzen, um stärkere Kommunikationsplattformen aufzubauen, auf denen wir die besten Lösungen für unsere größten Probleme und Antworten darauf miteinander teilen können. Wir können zudem generative und ökologisch sensible Wirtschaftsformen schaffen, die auf kollektiver Ausdruckskraft und nicht auf materiellem Konsum beruhen. Und wir können regionale Regierungsformen entwickeln, die auf sozialer und öklogischer Gerechtigkeit basieren und die Bedürfnisse des Menschen aber auch der gesamten Erdgemeinschaft und all ihrer Bewohner berücksichtigen. Wenn sich diese technologische Weisheitskultur weiter ausbildet, könnten diese Technologien immer mehr für die vollkommene Transformation unserer Spezies und des Planeten genutzt werden.
KB: Ich sehe es als eine Renaissance, denn archetypisch spiegeln wir den Punkt, an dem die Druckerpresse erfunden wurde. Wir werden neue Wege finden, um mit allen Dimensionen menschlicher Erfahrung in Berührung zu kommen. Im Grunde wird uns die Technologie ermöglichen, uns tiefer zu verbinden, tiefer präsent zu sein. Mit diesen Flow-Zuständen erlangt unser Leben immer mehr Tiefe und Bedeutung. Da durch die künstliche Intelligenz jetzt viele Arbeitspätze verschwinden, wird eine neue kreative Klasse entstehen, die sich fragt: Wie können wir diese Technologien dazu verwenden, Ökosysteme zu schaffen, die besser dazu in der Lage sind, sich selbst zu erhalten und weiterzuentwickeln.
Das Gespräch führte Elizabeth Debold.