April 21, 2016
Eine Rezension des Buches »Narratives Bewusstsein« von Tom Amarque
Christian Grauer
Spirituelle Aufklärung heißt für mich, sowohl spirituellen Lehren und Techniken mit klarem Denken zu begegnen, als auch die rationalistische Selbstbeschränkung der Wissenschaft für die Tiefen der Erfahrung zu öffnen. In der Lektüre des neuen Buches von Tom Amarque habe ich ein neues, nicht ganz unbekanntes Instrument für spirituelle Aufklärung gefunden: das Narrativ!
Vereinfacht gesagt beschreibt das Buch die Tatsache, dass unsere Wahrheiten und Wirklichkeitsvorstellungen von den Kommunikationen bestimmt werden, die wir und unsere Kultur darüber führen. Diese Narrative, fast unbewusste und unhinterfragte prototypische Bedeutungsmuster, definieren unser Wirklichkeitsbild. Ein wesentliches Moment der Bewusstseinsentwicklung liegt darin, von einem rein wahrnehmenden Bewusstsein über ein denkendes zu einem Bewusstsein zu finden, das die Ordnungsprinzipien dieses Denkens hinterfragt und dabei auf diese Narrative trifft. Sich dieser Narrative und ihrer Funktion bewusst zu sein, heißt narratives Bewusstsein.
¬ DAS NARRATIV IST EIN PHILOSOPHISCHER GENERALSCHLÜSSEL, DER DAS VERHÄLTNIS DES BEWUSSTSEINS ZUR WIRKLICHKEIT BESCHREIBT. ¬
So schwer zu greifen der Begriff des Narrativs am Ende auch bleibt, so sehr hat er auch etwas Zwingendes. Die anschaulichen Beispiele, die Amarque bringt, machen deutlich, dass das Narrativ ein philosophischer Generalschlüssel ist, der das Verhältnis des Bewusstseins zur Wirklichkeit beschreibt. Und Amarque macht das zuerst an der Psyche deutlich. Das Narrativ macht Wirklichkeit überhaupt erst zu dem, was sie ist: Würden wir uns nicht auf ein Narrativ, also ein prinzipielles Beschreibungsmuster festlegen, das einigermaßen konstant bleibt, wir könnten uns kein Bild von der Psyche machen, weil sie sich in ihrer immateriellen Prozesshaftigkeit jeglichen Zugriffs entzöge. Umgekehrt werden gerade psychische Phänomene nur dadurch wirklich, dass wir sie beschreiben und bezeichnen. Das Narrativ als solches ist willkürlich. Die Unterschiede der Kulturen und Überzeugungen werden durch das Narrativ bestimmt, das ihnen zugrunde liegt. Notwendig ist es gleichwohl, weil es dem ungeformten Sein Form gibt. Es gibt Kontinuität und Stabilität, blendet das Unbestimmte aus und ermöglicht damit die handhabbare Wirklichkeit, die wir kennen.
Hier deckt sich der Begriff des Narrativs mit vielen spirituellen Lehren, die letztlich alle einen Weg in die Ungeteiltheit des Seins suchen. Das Narrativ bei Amarque ist aber so wohltuend, weil es nicht nur seine eigene Kritik immer mit sich führt – natürlich ist das Narrativ auch nur ein Narrativ zur Beschreibung der Wirklichkeit –, sondern weil er die Alltagswelt nicht diskreditiert und die Rückkehr ins Non-Duale nicht als moralisches Gebot propagiert. Stattdessen liegt das Augenmerk dazwischen. Die Erotik der Erkenntnisbemühung liegt im Aufdecken und später im aktiven Gestalten des oszillierenden Übergangs zwischen beiden Sphären. Während die Postmoderne das Narrativ als willkürliche und damit relativierende Wirklichkeitsbedingung entlarvt, raubt sie ihm zugleich einen Teil der stabilisierenden Funktion. Am entscheidenden Übergang zwischen Nichts und Sein die Erzeugung der Wirklichkeit selbst in die Hand zu nehmen, sich mit genügend Humor der Relativität des eigenen Narrativs bewusst zu bleiben, sich zugleich aber mit Passion dafür zu entscheiden und seine bedeutungsstiftende Funktion zu nutzen, das ist die Aussicht, die Amarque für eine Lebenskunst nach der Postmoderne gibt.
Und diese Aussicht bleibt keineswegs abstrakt. Ein besonderer Lesegenuss wird das Buch immer dort, wo Amarque konkrete Narrative hinterfragt. Zu seinen Lieblingsopfern zählt fraglos die Instrumentalisierung der Sexualität zum Zwecke der gesellschaftlichen Disziplinierung durch die Kirchen und das Narrativ der Monogamie, das als historisch absolute Ausnahmeerscheinung hartnäckig weitererzählt wird. Genüsslich seziert er die Narrative des christlichen Mittelalters, der Moderne und Postmoderne und zeigt, wo sie noch immer unserer Kommunikation zugrunde liegen. Diese informierten, unprätentiösen, weder moralisch noch politisch wertenden aber gleichwohl treffsicheren Beschreibungen sind ein Vorbild für jeden fruchtbaren gesellschaftlichen Diskurs, und nicht selten frohlockte ich innerlich beim Lesen, weil der Autor unter dem arglosen Vorwand der Exemplifizierung die Finger in einige meiner Lieblings-Wunden unreflektierter gesellschaftlicher Stereotypen legt.