»Da ist etwas lebendig, da geh ich weiter«

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

July 17, 2017

Mit:
Phillip Stoll
Nicanor Perlas
Otto Scharmer
Kategorien von Anfragen:
Tags
AUSGABE:
Issue 15 / 2017:
|
July 2017
Mensch & Maschine
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Wie Kunst wirken kann

Philip Stoll hat in Eigenregie mit Freunden ein Individualstudium in Art andSocial Entrepreneurship durchgeführt. Wir sprachen mit ihm über die Verbindung von Kunst und Unternehmertum – und was möglich wird, wenn man Bildung und Potenzialentwicklung in die eigene Hand nimmt.

evolve: Du hast ein vierjähriges Selbststudium absolviert, das du »Art andSocial Entrepreneurship« nennst. Was hat dich dabei bewegt?

Philip Stoll: Unser Projekt ist aus einem Programm für Sozialunternehmer im International Youth Initiative Program in Ytterjärna in der Nähe von Stockholm hervorgegangen, an dem ich 2008 teilgenommen habe. Ein Jahr lang studieren dabei 40 junge Menschen aus der ganzen Welt mit Lehrern wie ­Nicanor Perlas oder Otto Scharmer. Unser Individualstudium konnten wir dann vier Jahre lang dort auf dem Campus weiterführen. Wir waren sechs junge Leute aus verschiedenen Ländern und haben gemeinsam ein Haus und ein Studio gemietet. Wichtig in diesem selbst gestalteten Studium war uns das Peer Mentoring, wir haben also füreinander als Mentoren gewirkt. Auf dieser Grundlage haben wir uns das Curriculum und die Strukturen geschaffen, die wir auf jeden Einzelnen von uns zugeschnitten haben. Dabei wollten wir immer die Frage nach dem Potenzial des Einzelnen stellen und radikal entscheiden, was es dafür braucht. Für manche stand das Thema Kunst im Vordergrund, für andere das Unternehmerische, für mich war es beides. Aufgrund dieser individuellen Ausrichtung hatte jeder auch andere Lehrer, ich hatte zum Beispiel meinen Lehrer für Flöte an der Königlichen Hochschule für Musik, bei dem ich einmal in der Woche eine Stunde hatte. Jeder von uns wusste, was er lernen und entwickeln will, aber wir fanden in den herkömmlichen Universitäten noch keinen Raum dafür. Wir wollten aber die gleiche Intensität erzeugen, um an den Fragen zu arbeiten, die uns interessieren. Deshalb haben wir uns sozusagen selbst unsere Uni geschaffen und dafür auch einen eigenen Verein gegründet, den wir nach dem Ende unseres Projekts wieder aufgelöst haben.

e: Warum habt ihr oder andere den Verein nicht weitergeführt?

PS: Weil wir erkannt haben, welche Wucht es hat, wenn man Lernen und Bildung vollkommen in die persönliche Beziehung stellt. Wir wollten, dass dies weiterhin möglich ist und dass jede Initiative zum individuellen Lernen immer wieder neu aus den konkreten Beziehungen entsteht. Es gab Leute, die den Verein weiterführen wollten, aber wir haben uns dagegen entschieden und stattdessen angeboten, ihnen dabei zu helfen, eigene Strukturen zu entwickeln. Einige Leute haben gesagt: »Oh, ich wusste gar nicht, dass man das machen kann. Wo muss man sich denn dafür anmelden?« Uns ging es eben genau darum, dass man immer wieder ganz neu schaut, welche Fragen die Menschen haben und was und wie sie lernen wollen. Vielleicht geht es gar nicht darum, jeden Tag in die Uni zu gehen, sondern man sollte eher ein Praktikum in der Landwirtschaft machen und dann ein bestimmtes Buch lesen und meditieren und über einen langen Zeitraum mit einem visionären Landwirt Gespräche führen. Aber dafür braucht man nicht unbedingt eine Uni oder eine Vereinsstruktur. Wir wollten durch die Auflösung des Vereins auch die Strukturen, die wir selbst geschaffen haben, wieder aufbrechen.

e: Welche Fähigkeiten wolltest du bei diesem Projekt entwickeln?

PS: Ich wollte das Unternehmerische und das Project Management lernen, um in der Lage zu sein, auf die globalen Prozesse einwirken zu können. Andererseits wollte ich auch lernen, ganz präsent und ganz empathisch mit einer direkten Wahrnehmung der Welt im täglichen Leben zu stehen. Dazu gehörte vor allem auch die Aufmerksamkeitsübung, die für mein künstlerisches Schaffen sehr wichtig wurde. Ich habe einen Fotografiestil wieder aufgenommen, mit dem ich schon vor einigen Jahren experimentiert hatte. Hinzu kam noch die musikalische Praxis, weil ich gespürt habe, dass ich darin eine große Kreativität erfahren kann, die mir dann auch im künstlerischen und unternehmerischen Tun hilft. Deshalb habe ich diese Studienzeit »Kunst und Sozialunternehmertum« – Art andSocial Entrepreneurship – genannt. Diese Bereiche haben sich dann wechselseitig befruchtet. Ich habe aus der Musik gelernt und es in sozial­unternehmerische Projekte einfließen lassen.

Wir haben erkannt, welche Wucht es hat, wenn man Lernen und Bildung vollkommen in die persönliche Beziehung stellt.

e: Kannst du diese wechselseitige Befruchtung noch etwas konkreter beschreiben?

PS: Ein Projekt war, die Ostseeregion, in der wir ja lebten, als polyphones Ereignis zu beobachten, das aus vielen verschiedenen Staaten, Kulturen, Unternehmen, Lebensbereichen, historischen Hintergründen besteht. All diese Aspekte in dieser Region beeinflussen die Wasserqualität der Ostsee, sie sind verantwortlich für das Absterben oder Heilen des Meeres, das in der Mitte all dieser Länder liegt. Durch das permanente Üben von Musik habe ich versucht wahrzunehmen, wie diese verschiedenen Länder mit ihrer eigenen Qualität, die einem eigenen Ton gleicht, auf das Ganze des ökologischen Zustands der Region einwirken. Dieser ökologische Aspekt hat mich hier besonders interessiert, weil es der Ostsee so schlecht geht und sie sehr laut nach einer Veränderung ruft. Meine Idee war, dass eine neue Form gemeinschaftlicher Zusammenarbeit und eine Wahrnehmung des Potenzials solch einer Region möglich wäre. Eine Zeit lang habe ich mit zwei meiner Kommilitonen dazu recherchiert und Interviews mit Menschen aus diesen Ländern gemacht. Darauf aufbauend, haben wir ein Jahr lang Netzwerktreffen organisiert und mit sozialen Techniken der Zusammenarbeit wie World Café oder Open Space experimentiert. Daraus sind weiterführende Ideen, Projekte und Kooperationen entstanden. Die Grundlage dabei war die polyphone Wahrnehmung dieser Region und des Potenzials, das sich in solch einer Sichtweise zeigt. Diesen Ansatz haben wir zum Beispiel auch in einem Workshop bei Scania, dem Lkw-Hersteller, der in der Nähe von Järna sitzt, angewandt, in dem es um Kreativität und Zielfindung ging.

e: Wie hast du diesen Ansatz nach dem Ende deines Individualstudiums weitergeführt?

PS: Ich habe mich vor allem der künstlerischen Arbeit mit Fotografie zugewandt, mit der ich schon 2004 begonnen habe. Damals habe ich mich mit Land-Art beschäftigt und selbst damit experimentiert. Dabei ist es mir schwergefallen, den Kontakt zu den Materialien und den Orten zu finden. Durch einen inneren Prozess des Fragens bin ich dann bei einem Spaziergang auf die fotografische Methode gekommen, die ich bis heute anwende. Dabei halte ich einen analogen Fotoapparat vor der Körpermitte, begebe mich in eine präsente Aufmerksamkeit und mache in Langzeitbelichtung Fotos im Gehen. Das war so ein spontaner Einfall, den ich umgesetzt habe, und ich war von dem Ergebnis der Bilder völlig überrascht und fasziniert. Die Klarheit dieses Einfalls und die Qualität der Fotos, die daraus entstanden, haben mich dazu gebracht, seitdem diese Methode zu üben. Ich gehe an verschiedene Orte, begebe mich in eine tief konzentrierte Aufmerksamkeit und gehe. Dieses Sehen und Zuhören lasse ich in mir wirken und lasse Bilder entstehen – und manchmal auch nicht. Für mich ist es eine Schulung der Aufmerksamkeit geworden, die ich täglich praktiziere, um immer wieder die Momente zu finden, wo ein lebendiges Bewusstsein entsteht, wenn ich z. B. mit einem Freund spreche oder Querflöte spiele.

In der nächsten Zeit werde ich noch stärker in die Kunstwelt gehen, um im Künstlerischen die Themen Aufmerksamkeit und Hingabe zu bewegen, weil ich in diesen Qualitäten ein großes Potenzial sehe, um als Gesellschaft unsere Welt zu gestalten. Die Kunst ist ein lebendiger Raum, um solche Fragen zu stellen, denn durch eine tiefere Wahrnehmung können Zukunftspotenziale sichtbar werden. Meine Kunst ist ein Raum für Radikalität in Aufmerksamkeit. Wenn wir aus der Zukunft heraus arbeiten, können wir Staaten, Organisationen – oder auch Gewässer wie die Ostsee – anders gestalten.

Das Gespräch führte Mike Kauschke.

Author:
Mike Kauschke
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