Der Blick über den Horizont

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Published On:

July 21, 2016

Featuring:
Scilla Elworthy
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Ausgabe 11 / 2016:
|
July 2016
Lebendigkeit
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Scilla Elworthy: Ein Leben aus Liebe für die Welt

1956. Sowjetische Panzer rollen in Budapest ein, um die antikommunistischen Aufständeniederzuschlagen, und junge Menschen stellen sich den Panzern entgegen. Ineinem Wohnzimmer in der Nähe von London erscheinen diese Bilder auf einemSchwarz-Weiß-Fernseher. Und ein junges Mädchen, damals 13 Jahre alt, siehtschockiert diese Bilder, geht in ihr Zimmer und packt ihren Koffer. Ihre Mutterbemerkt es und fragt ihre Tochter, was sie da tue. »Ich fahre nach Budapest!«,sagt sie, ohne zu wissen, wo die Stadt liegt. »Wa­rum um Himmels willen?«,fragt ihre Mutter. »Dort werden Kinder umgebracht, ich muss da hin.« Nach einem Wortwechsel kann die Mutter ihre Tochter zum Bleiben überreden: »Du bist zu klein und musst erst eine Ausbildung bekommen, um dort helfen zu können. Ich unterstütze dich dabei, aber jetzt pack deinen Koffer wieder aus.«

In diesem Moment der Übereinkunft zwischen Mutter und Tochter wurde die Grundlagegelegt für ein Leben des Aktivismus, in dem die Liebe für die Menschheit, die dieses junge Mädchen empfand, zu einer wirkungsvollen Kraft wurde, die vieleHerzen berührt hat und immer noch zu neuen Möglichkeiten aufbricht. Als ich voreiniger Zeit mit Scilla Elworthy sprach, traf ich eine energievolle Frau, diemit einer natürlichen Autorität spricht, die sich aus einem Leben unermüdlichen Engagements speist, mit dem sie hinter den Kulissen und öffentlich an einigender drängendsten Konflikte der letzten Jahrzehnte arbeitete.

Mit vietnamesischen Flüchtlingen, 1964.

Wie ihre Mutter es ihr versprochen hatte, konnte Scilla Sozialwissenschaftenstudieren und war schon früh in sozialen Projekten aktiv, zunächst in einemFerienheim für Menschen, die nach dem 2. Weltkrieg in Lagern für Vertriebenegewesen waren, und danach in einem Lager für vietnamesische Flüchtlinge in Frankreich.Sie reiste nach Algerien, das gerade erst einen Guerillakrieg durchgemachthatte, und arbeitete mit Waisenkindern. »Die Universitätsausbildung hat michnichts über die schrecklichen humanitären Folgen des Krieges gelehrt, auchnicht über die Verzweiflung der Flüchtlinge oder was mit verlassenen Kinderngeschieht. Was ich erfuhr, machte mich jeden Tag wütender, weil nichtsWirksames getan wurde, um die Zerstörung des Lebens dieser Kinder aufzuhalten«,sagt sie über diese Zeit.

Nachdem Studium folgte Scilla einer Faszination für Afrika, bereiste den Kontinentund kam schließlich nach Südafrika. Es war 1966, der Höhepunkt der Apartheid.Weil es sehr gefährlich war, sich sozial zu engagieren, nahm Scillavorübergehend einen Job in der Kleiderbranche an, lebte das privilegierte Lebender Weißen, heiratete und wurde Mutter. Aber schon bald engagierte sie sichehrenamtlich in einer Organisation, die gegen Hunger kämpfte. »Ich erkannte,wie schlimm der Hunger war und wie stark dies vom Apartheid-Regime geleugnetwurde.« Scilla wurde Leiterin der Organisation und konnte durch ihre Kontaktehohe Geldsummen sammeln.

Ich kann immer ein Stück über den Horizont hinaussehen, in die Welt, die möglich ist.
Scilla Elworthy

1974, als Scilla 30 Jahre alt war, kam ihr engagiertes Leben zu einem plötzlichenHalt. Sie litt unter einer Gehirnerkrankung namens Enzephalitis und lag zweiWochen lang im Koma. Als sie wieder aufwachte, hatte sie sechs Jahre langheftige Kopfschmerzen. Diese schmerzvolle Erfahrung führte sie zu tieferenFragen. »Während dieser Zeit ging mir eine Frage ständig durch mein schmerzendesGehirn: Wer bin ich? Diese Frage führte mich zu verschiedenen Denkschulen,Meditation, jungianischer Analyse und tiefer Selbsterforschung.« Ihr wurdeklar, dass ihre Zukunft in einer Kombination aus Selbsterkenntnis undAktivismus lag. »Denn viele Menschen, die soziale oder politische Arbeit tun,sind voller Wut. Aber solange wir nicht innerlich mit dieser Wut umgehenkönnen, projizieren wir sie auf andere und dämonisieren unsere Gegner oderMenschen, die anderer Meinung sind. Aber das führt nur noch zu weiterer Gewalt.Wenn ich die innere Arbeit tue und diese Ängste verarbeite, kann ich alsAktivistin viel wirkungsvoller sein.«

Unddas war Scilla ganz sicher. 1979 begann sie, als Beraterin für Frauenfragen fürdie UNESCO zu arbeiten. Durch ein Forschungsprojekt entdeckte sie das ganzeAusmaß der Bedrohung, die sich damals mitten im Kalten Krieg aufbaute:Atomwaffen. Diese Entdeckung veränderte Scillas Leben und bestimmte ihrenAktivismus für die nächsten Jahrzehnte. Sie zog nach Oxford und an ihremKüchentisch versammelte sie befreundete Aktivisten und Forscher, um die OxfordResearch Group zu gründen. Sie wollte herausfinden, wer die Politik in denverschiedenen Atommächten beeinflusste, um diese Personen schließlich an einenTisch zu bringen, an dem auch Kritiker der nuklearen Bewaffnung sitzen könnten.Bei dieser Arbeit erkannte sie umso mehr die Bedeutung ihrer inneren Arbeit:»Als ich mit den politischen Regelungen zum Umgang mit Atomwaffen zu arbeitenbegann, war ich voller Wut, dass Politiker die Welt diesen tödlichen Waffenaussetzten. Ich tat meine Arbeit aus einer inneren Haltung des Widerstands. Nurdurch die Meditation lernte ich, dass ich die Wut nicht nach außen richtenmusste, sondern sie innerlich tranformieren konnte, um sie als Triebkraft für meineArbeit zu nutzen.« Mit dieser Haltung konnte sie 13 politische Entscheider imbritischen Atomwaffenprogramm inter­viewen und sie in einen Dialog bringen, ausdem die vertraulichen Gespräche mit ihren »Kollegen« in Russland, China, denUSA und Frankreich und auch mit Atomwaffenkritikern wurden. Hinter den Kulissenbereiteten diese Gespräche den Boden für Staatsverträge.

Treffen im Büro des britischen
Premierministers.

Beidiesen Dialogen bemerkte Scilla auch, »dass Verhandlungen oft mit mentalenArgumenten geführt werden, bei denen wir im Recht sind und der andere imUnrecht. Ich aber suche nach einer Form des Sprechens, die Kopf und Herzverbindet und eine tiefere Wahrnehmung und ein Verstehen des anderen umfasst.Alles verändert sich, wenn ich die tiefen Sorgen des anderen verstehe.«

Diese Dialogfähigkeit brachte Scilla in Meetings im NATO-Hauptquartier in Brüssel,ins Zentrum der Atomwaffenprogramme in Peking und in den Kreml in Moskau. Aberneben diesem Aktivismus auf höchster Ebene erkannte Scilla zunehmend auch denMut der vielen Aktivisten weltweit, die täglich ihr Leben riskieren, damit inden grassierenden Konflikten vor Ort Menschen geschützt werden. Um sie zuunterstützen, gründete sie Peace Direct. Die Geschichten, die sie über dieseMenschen erzählen kann, sind herzzerreißend. Wie die Geschichte von Henri BuraLadyi, der Kindersoldaten im Kongo befreit und dabei immer wieder sein eigenesLeben aufs Spiel setzt.

Scillasumfassende Erfahrung in der Friedensarbeit führte eines Tages im Jahre 2004 zu einem Anruf, den sie von Richard Branson, dem Gründer der Virgin Group erhielt.Zusammen mit dem Musiker Peter Gabriel wollte er »The Elders« gründen, eine Gruppe weiser Menschen aus der ganzen Welt, die klügere Entscheidungen für die Zukunft der Menschheit initiieren könnten. Nelson Mandela wurde zum Gründer derElders, und die Gruppe von zwölf Menschen wurde am 89. Geburtstag Mandelas insLeben gerufen, mit dabei unter anderem Desmond Tutu, Jimmy Carter und KofiAnnan.

Beim TED-Talk, 2012.

Diese beratende Arbeit mit »The Elders« beeinflusste auch ihr neuestes Projekt, dasihr sehr am Herzen liegt. Es heißt »Rising Women Rising World« und bringt zwölferfahrene weise Frauen aus verschiedenen Kontinenten zusammen, die ein tiefesWissen über verschiedene Themen besitzen. Für Scilla sind diese FrauenVisionärinnen, die in ihrer Arbeit zeigen, wie die Zukunft aufunterschiedlichen Gebieten sein könnte, darunter in der Regierungsarbeit, derWirtschaft, der Gesundheit oder der Bildung.

Des Weiteren möchte sie, dass in diesem Projekt innere und politische Arbeit tieferzusammenkommen, »damit wir keine Zeit mit politischer Arbeit verbringen, dienicht bewusst, von Gewahrsein getragen ist.« Aus diesem Gewahrsein schöpft Scilla ihre Energie. Und aus einer visionären Fähigkeit: »Ich kann immer ein Stück über den Horizont hinaussehen, in die Welt, die möglich ist – die Welt,in der wir alle gern leben würden.«

Author:
Mike Kauschke
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