Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 12, 2021
Ein Interview mit der Malerin Edith Vonnegut
Wir konnten diese Ausgabe mit den Arbeiten der US-amerikanischen Malerin Edith Vonnegut gestalten. Wir sprachen mit ihr über das Anliegen Ihrer Kunst.
evolve: Wie Sind Sie zur Kunst gekommen?
Edith Vonnegut: Als ich fünf Jahre alt war, habe ich die ganze Zeit gezeichnet, also gaben mir meine Eltern ein Buch mit dem Titel: »Meisterwerke für junge Menschen«. So, wie andere Kinder in Kinderbücher eintauchten, tauchte ich in Gemälde von Botticelli und Raphael ein. Sie erzählten mir Geschichten und hinterließen einen gewaltigen Eindruck. Mein Vater kolorierte eine meiner Zeichnungen, rahmte sie und hängte sie im Wohnzimmer auf. Schon als Kind ermutigten mich meine Eltern, und so war schon immer klar für mich, dass ich Künstlerin werden würde.
e: Was machte diese alten Meister und ihre Malweise so interessant für Sie?
EV: Ich weiß nicht, woher diese Begeisterung kam. Sie war einfach da und ist es immer noch. Ich kann ins Schwärmen geraten über die Pinselstriche eines Velasquez oder die Schönheit in den Linien einer Zeichnung von Da Vinci. Andere Menschen verehren Dinge wie athletische Fähigkeiten oder Musik. Meine Wertschätzung galt schon immer der Malerei, der Bildhauerei und dem Zeichnen. Die klassischen Meister haben diese Kunstformen in ihrer höchsten Vollendung beherrscht, sie sind also ein guter Orientierungspunkt, wenn man gut darin werden will. Es gibt auch heute wundervolle, gelungene Bilder, aber Tizian und Velasquez sind für mich die größten künstlerischen Genies. Ich weiß, dass ich ihre Meisterschaft nicht erreicht habe und nie erreichen werde. Aber manchmal, wenn ich ihre Bilder betrachte oder ihre Worte lese, bekomme ich eine winzige Ahnung davon, wie es sich anfühlt, so zu malen wie sie. Das ist mir genug.
e: Viele Ihrer Arbeiten haben eine mythische Stimmung. Warum verwenden Sie diese mythischen oder mythologischen Bilder, wie die Meerjungfrau oder Engel?
EV: In der Kunst gab es schon immer geflügelte Wesen. Heute wirken Bilder von ihnen oft wie schlechte Glückwunschkarten, kitschig und unangenehm sentimental. Aber meine erste Liebe galt nun einmal Raphael, Botticelli und Da Vinci. Wenn sie damals dachten, es sei richtig, Engel zu malen, warum sollte ich das dann im 21. Jahrhundert nicht tun? Deshalb verwende ich diese mythischen Bilder. Es gibt viele Menschen, die glauben, dass es Engel gibt, und auch ich glaube das manchmal. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es Bereiche gibt, die wir nicht sehen können.
e: Sie malen auch viele Frauen auf die unterschiedlichste Art. Weshalb gerade Frauen?
EV: Zuerst einmal, weil ich eine Frau bin, und damit ist es die Erfahrung, die ich kenne. Ich möchte zudem unseren Blick auf die Frau verändern. Auf den Bildern von Rubens, Raphael oder Velasquez sind nackte Frauen zu sehen, die meistens herumliegen und nichts tun. Sie haben keine Kraft, keine Muskeln und keine erkennbare Intelligenz. Sie sind schön, aber das entspricht nicht der Realität von Frauen, besonders nicht der von Müttern. Ich habe zwei Kinder großgezogen und Mutterschaft ist damit vergleichbar, bei den US-Marines zu sein. Du musst immer wachsam sein und bereit, in jedem Moment mit klarem Kopf und Nerven aus Stahl zu handeln.
e: Ich habe auf Ihrer Website gelesen, dass Sie denen Wertschätzung geben wollen, denen sie oft versagt bleibt, dass Sie dem Alltäglichen Erhabenheit verleihen möchten. Können Sie sagen, was Sie damit meinen?
EV: Gewöhnliche Menschen erhalten keine Oscars oder Nobelpreise dafür, dass sie die Wäsche waschen, ihre Kinder aufziehen und all die anderen Alltagsaufgaben erledigen. Als ich mich selbst als Vollzeit-Hausfrau und -Mutter wiederfand, konnte ich ihr Erleben nachvollziehen und beschloss, ihnen etwas Ruhm und Bedeutung zu verleihen. Die unverzichtbaren Arbeitskräfte, die oft nicht einmal einen Mindestlohn erhalten, werden ihr Geld nicht dafür ausgeben, jemanden damit zu beauftragen, sie märchenhaft darzustellen. Aber warum sollte man sie nicht für ihre undankbare, unterbezahlte Arbeit, die sie mitten in einer Pandemie verrichten, ehren, indem man sie wunderbar aussehen lässt?