Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
April 17, 2019
Achtsamkeit ist ein populäres Wort geworden. Die Medien berichten davon. Große Firmen haben begonnen, sie in ihre Unternehmenskultur einzubauen. Noch vor wenigen Jahren eine Randerscheinung, hat Achtsamkeit die Mitte der Gesellschaft erreicht. Thomas Steininger untersucht die Karriere dieses Begriffs und seine Zukunft in einer postindustriellen Welt.
Es gibt Bücher, die einen nie verlassen, auch wenn man viele Jahre nicht an sie gedacht hat. In meiner Schulzeit stieß ich auf das Buch »Der Weg der weißen Wolke« von Lama Govinda, einem deutschen Buddhisten, der in den 1930erund 1940er-Jahren in einsamen Expeditionen das alte Tibet bereist hatte. Sein Reisebericht war eines der ersten Bücher über diese fremde Welt. Was mich als jungen Menschen an diesem Buch so nachdrücklich fesselte, war diese andere, magische Welt, eine Welt der Meditation. Tibet, das Land auf dem Dach der Welt, wurde für viele zu einem Mythos für eine andere Weise, die Welt zu sehen.
Warum erzähle ich von diesem Buch? Weil das Wort Achtsamkeit, das heute so verbreitet ist, ursprünglich aus Ländern wie Tibet oder Burma und ihren Meditationskulturen kommt, wo es viel mehr als nur tiefe Entspannung bedeutet. Es war ein radikal anderer Blick auf die Welt. Und dieses Buch beschreibt nicht das Tibet der »Erwachten«. Es zeigt die Welt einer ganzen Kultur von Bauern, Händlern, Männern und Frauen und ihrem so fremden Blick auf die Wirklichkeit.
Denn alle Kulturen haben einen eigenen Blick. Das ist eine der großen Einsichten der postmodernen Philosophen und integrale Denker versuchen hier anzuschließen, um zu verstehen, wie sich die verschiedenen Arten des Sehens in der Geschichte der Menschheit entwickelt haben.
Um tiefer zu verstehen, was Achtsamkeit ist, hilft es vielleicht, die Art und Weise unseres eigenen Sehens durch unseren eigenen kulturellen Blick näher zu betrachten. Denn auch unsere moderne, europäische Kultur hat ihre eigene Sichtweise, einen Blick, den andere Weltkulturen nicht teilen.
Eine Welt, in der unabhängige Individuen einer objektiven Wirklichkeit gegenüberstehen, ist eine Welt, die in Europa entstanden ist. Genauer gesagt, ist in Europa über die Jahrhunderte ein Blick entstanden, mit dem wir begannen, die Welt so zu sehen – eine Welt uns gegenüberstehender Objekte, die am besten auch fassbar und messbar sind. Dieser europäische Blick wurde zu einer Erfolgsgeschichte. Wir erlernten das Fass- und Messbare zu berechnen und zu optimieren. Genau das ist die Erfolgsgeschichte der Naturwissenschaft, der Demokratie und der westlichen Marktwirtschaft.
In unserer öffentlichen Kultur entstand der Konsens, dass alles nicht Fass- und Messbare nicht wirklich ist.
Der erfolgreiche Blick hat aber auch seinen Preis. Er geht mit einer wachsenden Skepsis gegenüber all dem einher, was nicht fass- und messbar ist. In unserer öffentlichen Kultur entstand der Konsens, dass alles nicht Fass- und Messbare nicht wirklich ist – dass es auf jeden Fall nicht wirklich zählt. Wir schufen ein Tabu, so etwas wie ein kulturelles Blickverbot, in dem ganze Welten verschwanden. Vielleicht sind wir ja auch kulturell erblindet, weil wir nicht wissen, wie wir dem Unfassbaren technisch, sei es psycho-technisch, sozio-technisch oder öko-technisch begegnen können. Und: Das nicht Fassbare macht auch Angst, weil es unverfügbar bleibt. Dieser Weltverlust unseres kulturellen Blicks ist Teil der großen Krise unserer Zeit.
Die Achtsamkeitsbewegung der letzten Jahrzehnte ist auch ein Einspruch gegen diesen verengten Blick. Bevor wir diesen Einspruch näher betrachten, ist es vielleicht auch gut zu sehen, dass es in unserer Geschichte immer wieder Widerstand gegen die Verengung des europäischen Blicks gegeben hat. So stellte sich Johann Wolfgang von Goethe fast polternd gegen die newtonsche Naturwissenschaft und deren Auffassung vom Licht, weil Newton in seiner Wissenschaft nur auf getrennte physische Objekte blickte. Licht war für Goethe etwas, das den Sphären von Subjekt und Objekt vorausgeht. Sein Einwand, dass uns etwas Entscheidendes entgeht, wenn wir unsere Welt nur in Objekte und Subjekte zerfallen sehen, wird heute wieder neu gehört. Newtons Theorie des Lichts hat sich durch ihre technische Berechenbarkeit und Nutzbarkeit historisch durchgesetzt. Aber heute meint eine neue Generation von Tiefen- und Humanökologen, dass es auch genau dieser technische Blick ist, der zu einer Wurzel unserer Zivilisationskrise geworden ist, und sieht in Goethes Perspektive Ansätze für eine erweiterte Wissenschaft.
Die Achtsamkeitsbewegung, wie wir sie heute kennen, entstand in den 1950er-Jahren. Damals brachte in Kalifornien die Beatnik-Bewegung mit Kultfiguren wie Allen Ginsberg oder Alan Watts östliche Meditation in die USA. Eine Anekdote erzählt, wie Allen Ginsberg den bald darauf einflussreichen tibetischen Lehrer Trungpa Rinpoche zufällig in New York traf, als beide in dasselbe Taxi steigen wollten. Die zwei wurden Freunde und Ginsberg half Trungpa Rinpoche, in Amerika als Lehrer Fuß zu fassen.
In Deutschland kamen zur selben Zeit Menschen wie Graf Dürckheim und Eugen Herrigel mit seinem Buch »Zen in der Kunst des Bogenschießen« aus Japan zurück und brachten die neue Meditationskultur mit nach Europa. Die Gegenkultur der 1960er-Jahre war auch ein Versuch, mit dieser neuen Meditation und auch mit bewusstseinserweiternden Drogen den westlich-modernen Blick auf die Welt zu »erweitern« und unsere technische Kultur prinzipiell infrage zu stellen. Mit den Beatles und später auch mit kontroversen Bewegungen wie den Sannyasins von Bhagwan Shree Rajneesh erreichte sie große gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Aber sie blieb vorerst, was sie war – eine kleine Sub- und Gegenkultur.
Etwas öffnet sich, wenn der achtsame Blick sich für die soziale Dimension unserer Beziehungen erweitert.
Es war wahrscheinlich ein genialer Zug von Menschen wie Jon Kabat- Zinn in Boston, Massachusetts, dass es ihnen gelang, Meditation und Achtsamkeit in ein Feld einzubringen, in dem Glanz und Elend unserer modernen, technischen Welt besonders schmerzhaft sichtbar sind: im Gesundheitswesen. Einerseits ist die westliche Medizin ein Wunder. Ihre Erfolge sind atemberaubend. Es ist ihr gelungen, viel Elend in der Welt zum Verschwinden zu bringen. Gleichzeitig zeigt sich gerade in der Medizin, wie die Welt selbst zur Maschine wird. Für Ärzte, Pflegepersonal und Patienten wird es zunehmend unmöglich, einander als Menschen zu begegnen. So entstand im Gesundheitswesen eine große Sehnsucht, wieder als Mensch geheilt zu werden und als Mensch andere zu heilen. Der sich stetig beschleunigende Maschinenbetrieb, der die ganze Gesellschaft erfasst, hat im pathologischen Stress und im Burnout Warnsignale sichtbar werden lassen, dass inmitten des medizinischen Fortschritts etwas unter die Räder kommt.
Achtsamkeit war hier eine Revolution. Pioniere wie Jon Kabat- Zinn brachten Praxisformen aus einer anderen Welt mitten in den modernen medizinischen Betrieb. Sie entkleideten sie von alten kulturellen Kontexten und stellten sie in die messbare und methodisierbare Welt der naturwissenschaftlichen Medizin. Und: Achtsamkeit zeigte Wirkung, messbare Wirkung. Sie war in der Lage, Stress, Leiden, seelische Krankheiten zu heilen. Kam hier ein Trojanisches Pferd in den medizinischen Betrieb oder wurde eine letztlich spirituelle Praxis an die Welt der Technik verkauft? Man kann für beides Argumente finden.
Binnen weniger Jahrzehnte wurde Achtsamkeit von einem Randgruppenphänomen zu einem Megatrend unserer Gesellschaft. Große Firmen wie Google oder Lufthansa sehen heute in ihr eine positive Kraft für ihre Mitarbeiter. Natürlich wird Achtsamkeit hier auch benutzt. Die Beschleunigungsmaschine baut Schon-Zonen, um sich weiter beschleunigen zu können. Aber mittlerweile hat auch die Achtsamkeitskultur eine neue Qualität erreicht.
Wir erleben gerade eine zweite Welle der Achtsamkeit. Oft trägt sie nicht diesen Namen. Es handelt sich dabei um neue Formen bewusster Dialogarbeit. Es sind Aufstellungsarbeit, We-Space-Projekte oder Ansätze wie Social Presencing, die sich mit dem neuen Bewusstsein, das durch die Achtsamkeit entstanden ist, in ganz unterschiedlicher Weise der sozialen Sphäre zuwenden. Viele der Akteure besitzen einen Hintergrund in Meditation und Achtsamkeit und bringen jetzt das Potenzial dieses anderen Blicks in kollektive und gesellschaftliche Bereiche ein. Therapieformen wie die Gestalttherapie hatten bereits früher diesen Schwerpunkt gesetzt. Auch der Künstler Joseph Beuys mit seiner Vision der »Sozialen Plastik« setzte einen Meilenstein in der Vorbereitung dieser sozialen Achtsamkeit. Die Aufstellungsarbeit in ihren vielen Formen ist ebenfalls eines der Praxisfelder, wo Menschen oft zu ihrer größten Überraschung wahrnehmen, welche andere Information im Beziehungsfeld zwischen uns sichtbar wird, wenn wir bereit sind, uns hier auf einen neuen Blick und auf eine neue Wahrnehmung einzulassen. Etwas öffnet sich, wenn der achtsame Blick sich für die soziale Dimension unserer Beziehungen erweitert. Konfliktsituationen sind ein klassisches Beispiel dafür, was entstehen kann, wenn wir unsere üblichen Bahnen der Konfliktaustragung verlassen: Das gemeinsame Aushalten der Offenheit, des Nichtwissens trotz aller eigenen Überzeugungen erlaubt einer gemeinsamen kreativen Kraft, Teil des Konfliktfeldes zu werden. Darin zeigen sich manchmal völlig neue, integrative Perspektiven, die aus einer vereinzelten Sicht nicht wahrgenommen werden.
Allein das achtsame Erkennen eines Beziehungsraums selbst erlaubt eine neue Sicht auf unser menschliches Miteinander, sowohl in kleinen Gruppen als auch im Großen unserer Gesellschaft. Unsere gewöhnliche Perspektive auf das Soziale, die Weise, wie wir es vor allem aus unserer vereinzelten Sicht wahrnehmen, wird hier auf einmal sichtbar. Und immer, wenn unser eigenes Sehen in die Sichtbarkeit kommt, entsteht eine Öffnung für Transformation. Wenn wir die Ränder unserer Wahrnehmung wahrnehmen, entsteht auch eine Möglichkeit, über diese Ränder hinauszusehen. Der spirituelle Lehrer Thomas Hübl spricht davon, dass wir einander viel transparenter werden, als es uns offensichtlich ist, wenn wir auf unsere jeweiligen Innenwelten achten. Es gibt eine Form der Achtsamkeit, die diese Transparenz erweitert. Wir werden füreinander in einer Tiefe sichtbar, die vorher verschlossen war. Meine Kolleg*innen und ich sprechen im Emergent Dialogue davon, dass in dieser Öffnung des Blickes die Zukunft auf eine sehr subtile Weise in der Gegenwart bereits anwesend ist. Dies deutet auf keine spezielle esoterische Fähigkeit hin, sondern auf das Wahrnehmen eines Potenzials, eines Möglichkeitsraums, der bereits in der Gegenwart keimt.
Im achtsamen Blick auf unser Miteinander zeigen sich Dynamiken einer ungeteilten Lebendigkeit, die nur sichtbar werden, wenn wir unsere Brille der Zweckrationalität ablegen und diesen liebenden, offenen Blick wagen. Diese neue Sicht bekommt noch eine völlig andere Dimension, wenn man sie miteinander teilt, wenn sie im gemeinsamen Austausch der Anwesenden ein neues Gesicht erhält. In diesem gemeinsamen, auch dialogischen Wahrnehmen entsteht das Kraftfeld einer integrativen Perspektive, die einem vereinzelten Blick nicht möglich ist. All das sind subtile Wahrnehmungen, die neben einer sensiblen und achtsamen Anwesenheit auch einen wachen und kritischen Geist verlangen, um zu lernen, Wahrnehmungen von Einbildungen zu unterscheiden. Dieser Blick braucht Unterscheidungskraft. Aber auch das scheinen viele dieser neu entstehenden Praxisformen einer sozialen Achtsamkeit zu sehen.
Im achtsamen Blick auf unser Miteinander zeigen sich Dynamiken einer ungeteilten Lebendigkeit.
Soziale Achtsamkeit hat das Potenzial, eine gesellschaftliche Kraft zu werden. Die serbische Performancekünstlerin Marina Abramović trägt seit Jahren ein Achtsamkeitsfeld in den öffentlichen Raum, das viele Menschen berührt und Augen wie Herzen öffnet. Ihre mittlerweile weltbekannte Performance »The Artist is Present«, bei der sie im Rahmen einer Retrospektive ihrer Arbeit im Museum of Modern Art in New York für 736 Stunden (mit Unterbrechungen für Schlafen und Essen) an einem Tisch mit einem leeren Stuhl gegenüber anwesend war, um jedem Museumsbesucher, der sich auf den Stuhl gegenüber setzte, einfach in die Augen zu sehen. Diese Marathonleistung, die viele Menschen auch auf YouTube erschütterte, war eine öffentliche Demonstration davon, was es bedeuten kann, miteinander wirklich anwesend zu sein.
Thomas Hübl initiierte das Pocket Project, in dem er in den Krisenregionen der Welt eine kollektive Trauma-Arbeit begann. Ihr Ziel ist es, die traumatisierten Tiefenschichten unseres gesellschaftlichen Bewusstseins gemeinsam auf eine Weise zu erfahren, die sie in Verbindung bringt mit jenem unverletzten Teil unseres gemeinsamen Menschseins, der auch kulturelle Heilungsprozesse ermöglicht.
All diese Praxisformen sozialer Achtsamkeit durchbrechen unseren modernen zweckrationalen Blick auf die Welt. Die Kraft, die sie entfalten, hat mit der Entschiedenheit zu tun, sich gemeinsam auf etwas Unverfügbares einzulassen, das dem zweckrationalen Blick nicht zugänglich ist, aber eine wesentliche Dimension unseres Menschseins ausmacht. Sie stellen viele Selbstverständlichkeiten unserer modernen europäischen Weltwahrnehmung einfach infrage. Wenn auf einmal Dimensionen von Nichtgetrenntheit mit anderen Menschen und auch über den Bereich des Menschen hinaus wahrnehmbar werden, was macht das mit einer Sprache, mit einer Wissenschaftskultur und einem öffentlichen Konsens, die diesen wahrnehmbaren Dimensionen nicht gewachsen sind?
Es ist auch Teil unserer Krise, dass unsere Kulturtechniken, unsere Blick-Gewohnheiten, unser gesellschaftlicher Konsens über das, was Wirklichkeit ist, fragwürdig geworden sind. Das Ingenieurs- Denken, das unsere technische Zivilisation ermöglicht hat, muss in seinen Errungenschaften zwar gewürdigt werden. Wir verdanken ihm viel. Aber es scheint, dass uns eine neue Kultur der Achtsamkeit die Augen öffnet, wie begrenzt dieser Blick bisher war.
Bücher wie »Der Weg der weißen Wolke« hinterlassen wahrscheinlich deswegen einen bleibenden Eindruck, weil sie uns zeigen, dass wir von anderen, auch alten Kulturen lernen können, ganz anders zu sehen. Den neuen Blick, der all das integriert und in Achtsamkeit weiter öffnet, diesen neuen Blick müssen wir erst gemeinsam finden.