Die Freiheit der anderen

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 21, 2016

Featuring:
Ingrid Schneider
Claudine Villemot-Kienzle
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Ausgabe 10 / 2016:
|
April 2016
Europa sucht seine Seele
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Wo finden wir das Verbindende?

Islamischer Fundamentalismus? Gottloser Westen? Europa ringt darum, wie aus kultureller und religiöser Vielfalt eine gemeinsame Wertebasis erwachsen kann, die trägt. Die Social Architects Claudine Villemot und Ingrid Schneider betrachten in unserem Interview die Ursachen eines über Jahrhunderte entstandenen Konflikts und zeigen: Andersartigkeit muss nicht zu Trennung führen, wenn im gemeinsamen Dialog unser tiefster Bezug zum Menschsein selbst einen Ausdruck findet.

evolve: Die momentanen Konflikte zeigen, dass wir ein neues Verständnis von Europa entwickeln müssen, um zu zukunftsweisenden Lösungen zu finden. In eurer Arbeit beschäftigt ihr euch mit Werten und Konflikten zwischen unterschiedlichen Werteebenen. Welche Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Werten seht ihr momentan in Europa?

Ingrid Schneider: Wenn ich mir Europa anschaue unter der Perspektive von Wertekonflikten, dann fallen ein paar Wertemuster besonders ins Auge. Unübersehbar sind derzeit die Bemühungen, traditionelle Werte zu festigen und zu erhalten, darin Sicherheit zu erlangen und in der Abgrenzung von anderen die Nationalstaatlichkeit zu stärken. Sie konkurrieren sehr stark mit postmodernen Werten von Offenheit, Zuwendung, Mitmenschlichkeit, Toleranz und führen zu Reibungsflächen, aber auch zu einem Gefühl von Überforderung. Denn nur aus der postmodernen Haltung heraus sind die unterschiedlichen Bedürfnisse in Europa nicht unter einen Hut zu bringen. In all das mischt sich natürlich die Moderne hinein mit einer säkularen, oftmals materiellen Haltung und einer Betonung des Verstandes. Allein diese drei grundsätzlich verschiedenen Wertemuster führen zu Reibeflächen in Europa. Denn die wirtschaftlichen Ausgangssituationen und die Erfahrungen mit rechtsstaatlich verlässlichen Systemen sind gesamteuropäisch gesehen sehr verschieden. In diese in sich schon nicht homogene Landschaft kommen nun Millionen von Flüchtlingen, welche vielfach aus Ländern stammen, in denen Werte von Bedeutung sind, die eher feudalistischen und stammesgesellschaftlichen Systemen entsprechen und wo verlässliche Rechtsstaatlichkeit ein Fremdwort ist.

Zuflucht Fundamentalismus

e: Mit den Flüchtlingen kommt verstärkt ein traditioneller Islam nach Europa, der bei vielen Menschen hier Angst und Unsicherheit hervorruft. Wie seht ihr aus eurer Arbeit an kultureller Transformation diese Konflikte?

Claudine Villemot: Viele der Konflikte kommen aus der Verhärtung und Regression auf einen fundamentalistischen und dogmatischen Ausdruck von Religion, der auf eine Verunsicherung im System zurückzuführen ist. Aus Frankreich, wo die größte muslimische Bevölkerung in Europa lebt, höre ich immer wieder, dass es im Moment unter Nordafrikanern eine große Unsicherheit zwischen den Generationen gibt. Die Eltern der ersten Generation haben sich an die säkulare Gesellschaft, die in Frankreich extrem stark ist, angepasst. Aber ihre Kinder werfen ihnen nun vor, dass sie nicht muslimisch genug sind. Dadurch entsteht eine starke Spannung zwischen den Einwanderern der ersten Generation, die sich um Integration bemüht haben, und ihren Kindern, die oft arbeitslos sind und dadurch Wut und Frustration empfinden. Sie fühlen sich nicht als Teil der Gesellschaft und von den Franzosen abgelehnt. In diesem Kontext befriedigt die Hinwendung zur Religion das grundlegende Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit. Da sie keine Identität durch ihre Staatsangehörigkeit oder eine Arbeit, durch die sie einen Beitrag leisten, bilden können, suchen sie in der Religion danach. Sie werden empfänglich für die Idee, im Dienste ihrer Religion ein Held zu sein und bekommen von der religiösen Gemeinschaft die Anerkennung, die sie im gesellschaftlichen Kontext vermissen. Hier finden sie einen Raum der Gestaltung, des Ausdrucks, des Respekts.

¬ DIE ISLAMISCHE WELT SUCHT IN EINEM GLOBALEN KONTEXT VERZWEIFELT IHREN PLATZ. ¬Claudine Villemot

Ein erster Schritt zur Annäherung wäre für mich zuerst ein Diskurs innerhalb des Islam, eine Reformation, wie wir sie im Christentum hatten. Es scheint im Islam noch viele Grauzonen und Unklarheit zu geben, welche Werte der Islam als Religion eigentlich vertritt. Hier bräuchte es also eine interne Klärung.

e: Siehst du auch historische Gründe für diesen Konflikt?

CV: Hier würde ich den geopolitischen Kontext hinzunehmen. Das, was wir jetzt in der islamischen Welt beobachten, mit diesen zum Teil pathologischen Ausdrucksweisen, hat für mich eine Ursache in der westlichen geopolitischen Strategie der letzten 50 Jahre. Wir haben eine permanente Abwertung und Demütigung der arabischen Länder betrieben, obwohl sie Ausdruck einer Hochkultur waren und sind. Wir müssen nur an die Beiträge der arabischen Welt in der Wissenschaft oder Dichtung denken. In den letzten Jahren sind für diese Völker durch geopolitische Interessen viele Verletzungen entstanden. Deshalb können wir sehen, dass es auch in diesen Ländern eine Suche nach Identität gibt, in Bezug auf die säkulare Gesellschaft und die moderne Welt. Die islamische Welt sucht in einem globalen Kontext verzweifelt ihren Platz, ihren Beitrag, den sie auf Augenhöhe leisten kann und will. Die Religion wird benutzt, um eine innere und globale Auseinandersetzung zu führen, deren Wurzeln tiefer reichen als das Thema Religion. Das zugrunde liegende Muster ist die Demütigung, die die islamische Kultur erfahren hat, und die Suche nach Identität. Wenn dieses tiefere Thema geheilt wird, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass der Islam eine säkulare Gesellschaft toleriert.

Gottloser Westen?

e: Einige Elemente unserer säkularen Kultur stoßen bei Anhängern traditioneller Religionen und hier vor allem dem Islam auf Widerstand. Auf viele Gläubige wirkt der säkulare Westen gottlos und scheint nichts als heilig anzuerkennen. Verschärft das eurer Sicht nach den Konflikt?

IS: In unserer säkularen Welt wird die Grundhaltung, dass nichts heilig ist, oft als absolut gesetzt und damit gewissermaßen in einen Status des Heiligen erhoben. Das ist aber in sich ein Widerspruch. Die Frage ist für mich, ob es nicht etwas gibt, was uns letztlich in Form einer Spiritualität verbindet. Etwas, von dem wir im Kern alle sagen können, dass es uns heilig ist, selbst wenn wir es in verschiedener Gestalt ausdrücken. Dies könnte eine Möglichkeit sein, um Grenzen zu überschreiten, die wir heute zum Beispiel zwischen den Religionen sehen, die in Europa aufeinandertreffen. Und vielleicht auch Menschen einbeziehen, die nichts mit Religion anfangen können, aber dennoch sagen, dass es Werte gibt, die uns in besonderer Weise heilig sind, weil sie uns an etwas Größeres anbinden.

CV: Ich denke auch, dass Freiheit mit Verantwortung einhergeht. Diese Verbindung vermisse ich oft in einer säkularen Gesellschaft wie Frankreich. Die Freiheit steht über allem, aber es wird vergessen, dass Freiheit durch Gleichheit und Brüderlichkeit ergänzt werden muss. Dieser Aspekt der Brüderlichkeit, der die Idee der zwischenmenschlichen Verbindung, Achtung und Wertschätzung anderer Menschen beinhaltet, geht in der Idee der absolut gesetzten Freiheit verloren.

¬ IN UNSERER SÄKULAREN WELT WIRD DIE GRUNDHALTUNG, DASS NICHTS HEILIG IST, OFT ALS ABSOLUT GESETZT. ¬ Ingrid Schneider

Es geht also vielleicht auch um eine Heilung der Moderne, eine Ausbalancierung der Moderne, zu der wir durch die Auseinandersetzung mit anderen Religionen gezwungen werden. Die säkulare Gesellschaft wird momentan durch die Konfrontation mit dem Islam aufgerüttelt. Denn so, wie wir einen Dialog innerhalb des Islam brauchen, so brauchen wir auch einen Dialog, um unsere säkulare, moderne Gesellschaft mit einem differenzierten, erweiterten Blick anzuschauen. Wir haben dreihundert Jahre gekämpft, um unsere Freiheit zu finden und zu stabilisieren, und es ist verständlich, dass wir nach all diesen blutigen Kämpfen und Opfern diese Freiheit nicht aufgeben können und wollen. Die Frage ist aber: Wie können wir Freiheit so definieren, dass wir die Freiheit der anderen mit integrieren? Das fehlt im Moment. Wir definieren philosophische Freiheit als etwas Absolutes und vergessen, dass wir die Freiheit anderer Kulturen verletzen, wenn wir ihnen keine Freiräume zugestehen. Damit setzen wir auch eine Wertigkeit voraus: Meine Freiheit ist wichtiger als die der anderen.

Weitere Freiheit

e: Wie können wir unser Verständnis von Freiheit erweitern?

IS: Wenn ich mir den momentanen Zustand Europas anschaue, denke ich, dass es hilfreich ist, den Zugang zu den Werten zu finden, die uns in Europa miteinander verbinden: Demokratie, Freiheit, die Würde des Menschen und Rechtsstaatlichkeit. Das sind wesentliche Elemente, die uns im Grunde miteinander einen. Aber wir sehen diese Werte oft sehr solistisch, sodass es noch nicht einmal möglich ist, sie als Grundwerte in ganz Europa anzuwenden. Hier braucht es also eine Rückbesinnung auf Ideen, die über Jahrhunderte entstanden sind und eigentlich das Fundament Europas bilden könnten. Um aber aus dem nationalstaatlichen Denken hinauszutreten, das heute wieder so stark wird, scheint es mir notwendig, diese Werte, die wir über Jahrhunderte erkämpft und eingeübt haben, durch eine innere Haltung zu erweitern. Wir haben in Europa viele unterschiedliche Kulturen und in dieser Vielfalt liegt auch der Reiz und die Besonderheit Europas. Aber wenn wir uns nur auf diese Verschiedenheit fokussieren, erleben wir sie ständig als Trennung.

CV: Vielfalt kann nur wirklich Bestand haben, wenn wir das Verbindende erkennen können. Wenn wir das, was uns als Menschen und Menschheit zutiefst eint, nicht fühlen, wahrnehmen und aussprechen werden wir in Konflikten gefangen bleiben und uns von der Andersartigkeit anderer Menschen und Kulturen abgrenzen. Vielfalt kann ich aushalten, wertschätzen und annehmen, wenn ich das verbindende Element erkenne. Das Verbindende ist unsere menschliche Natur, die auch eine spirituelle Dimension umfasst.

e: Auf welche Weise könnte dieser spirituelle Aspekt unseres Menschseins die Erfahrung von Verbundenheit stärken?

CV: Spirituelle Erfahrungen können uns eine tiefe Quelle unserer Schöpferkraft eröffnen. Daraus können wir unser höchstes Potenzial zum Ausdruck bringen und die Erfahrung machen, dass wir als Menschen mit etwas verbunden sind, das über uns hinausgeht. Diese Verbundenheit ist nicht nur für den Einzelnen in diesem Moment erfüllend, sondern bringt eine tiefe Verbundenheit zu anderen Menschen mit sich. Sie schafft eine sehr stabile Grundlage, um sich Konflikten und Auseinandersetzungen zu stellen, die wir weiterhin und zunehmend haben werden. Unsere Gesellschaft wird immer differenzierter. Wenn wir nicht diese Grundsymphonie der Verbundenheit miteinander teilen, dann wird es auf lange Sicht sehr schwer, mit dieser enormen Vielfalt umzugehen.

Dialogkultur

e: Glaubt ihr, dass ein Einbezug dieser spirituellen Dimension den Dialog mit Menschen erleichtert, die aus traditionellen Kulturen zu uns kommen?

IS: Dialog hat ja eine besondere Qualität und ist mehr als Debatte oder Diskussion. Er führt in einen Raum hinein, der sich öffnet und in dem Menschen zu etwas beitragen und erlauben, dass sich etwas Neues entwickeln kann.

CV: Dazu könnte ich mir auf europäischer Ebene Erforschungsräume oder Labore – ein Begriff, der der säkularen Gesellschaft entgegenkommt – vorstellen. Das könnten Orte des Experimentierens sein, in denen Menschen aus allen Systemen, Perspektiven, beruflichen Kontexten, sozialen Schichten und Religionszugehörigkeiten zusammenkommen und diesen schöpferischen Raum nutzen, um die Fragen zu stellen, die wir heute beantworten müssen, um gemeinsam weiterzukommen. In diesen kreativen Erforschungsräumen könnten Vertreter der Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur und Religion als ein Querschnitt unserer Gesellschaft in einen tiefen Dialog einsteigen. Es geht nicht darum, schnelle Lösungen zu produzieren, sondern mit Neugier und Offenheit zu erforschen, was Menschsein wirklich für uns bedeutet. Damit diese Art des Miteinanders gelingt, brauche ich ein übergeordnetes Ziel oder den Bezug zu einem höheren Sinn.

IS: Ja, es erfordert den Willen, sich zu verbinden und gemeinsam eine Lösung zu finden. Es geht darum, gemeinsam herauszufinden, wer wir eigentlich in Zukunft sein wollen. In Deutschland war so ein Moment vielleicht die Formulierung unseres Grundgesetzes, das ja immer noch eine Vision ist, die für uns in Deutschland und Europa wegweisend sein kann.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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