Die Kunst eine stimmige Bewegung zu machen

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

April 5, 2021

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Ausgabe 30 / 2021:
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April 2021
Kunst öffnet Welten
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Wandel aus gespürter Integration

Den Körper als Wahrnehmungsorgan nutzt die Tänzerin und Begründerin des Social Presencing Theater Arawana Hayashi, um soziale Prozesse sichtbar zu machen und in neue Potenziale zu führen. Wir sprachen mit ihr über eine kollektive Praxis des Spürens und der Weisheit, die sich darin zeigt.

evolve: Ihre Arbeit könnte man als soziale Kunst bezeichnen. Was bedeutet sozial in Ihrem Kontext?

Arawana Hayashi: Der soziale Aspekt von Social Presencing Theater besteht darin, dass es ein gemeinsames, kollektives Hineinhören in unseren aktuellen Kontext oder in eine bestimmte Gemeinschaft ist. Kollektiv deshalb, weil es auf dem Verständnis beruht, dass jeder einzelne Mensch auf diesem Planeten unsere soziale Realität mitgestaltet. Wir ko-kreieren unser Familienleben, wir ko-kreieren in Teams, in Organisationen und in Gemeinschaften. Wir sind ständig in Beziehung. Dieses Beziehungsnetzwerk schafft einen gesunden sozialen Nährboden, auf dem wir wertschätzend miteinander umgehen.

Das Wort Presencing kombiniert »presence« und »sensing«. Wir nennen es eine Kunstpraxis, weil Kunst unsere Sensibilität, unseren Sinn für Ästhetik steigert. Die Wurzel des Wortes Ästhetik ist fühlen, und Anästhesie bedeutet Taubheit, Gefühllosigkeit. Ästhetisch meint, dass unsere Resonanz mit der Welt größer wird, unser Empfinden, unsere verkörperte Intelligenz, unser verkörpertes Wissen. Es ist ein Gewahrsein. Im Social Presencing Theater bezieht sich dies nicht allein auf die individuelle Aufmerksamkeit, da es in unserer Arbeit um eine kollektive Präsenz geht, deren natürliches Ergebnis die Kreativität ist. In unserem Fall arbeiten wir mit dem Körper und mit Bewegung: Wir machen etwas durch den Körper sichtbar. Das Wort Theater bedeutet in seinem Ursprung: ein Ort, an dem etwas sichtbar wird. In gleicher Weise machen wir den sozialen Körper sichtbar. Und das soziale Feld oder das soziale Gewahrsein, obwohl es weder konkret noch sichtbar ist, kann sehr wohl erfahren werden, es resoniert mit unserer Erfahrung.

Das Ungesehene sichtbar machen

In unserem speziellen Fall macht das Social Presencing Theater Strukturen und Qualitäten innerhalb der Gesellschaft sichtbar, oft auch Bereiche der Gesellschaft, die ungehört oder ungesehen bleiben. Wir arbeiten mit Unternehmen und Organisationen, aber auch mit Schülerinnen und Schülern oder jungen Mayas aus dem Yucatan. Unsere Arbeit lädt institutionelle Systeme wie das Bildungssystem oder das Gesundheitswesen dazu ein sich selbst wahrzunehmen, wozu sowohl die Menschen in Machtpositionen gehören als auch solche, deren Stimmen wir oft nicht vernehmen. Diese Arbeit bezieht also die Vielfalt der Stimmen auf diesem Planeten mit ein.

Kunst ist in gewissem Sinne eine Art Sprache, die zugleich heilend, aufklärend, inspirierend, herausfordernd, provokant oder beruhigend sein kann. In unserem Ansatz steht das Bewusstsein im Zentrum, das Hier und Jetzt, in genau diesem Moment präsent zu sein mit unserer Wahrnehmung, uns auf diesen Augenblick des Lebens voll einzulassen und ihn wertzuschätzen. Alle Menschen kennen das Gefühl, jetzt präsent zu sein, und können spüren: Was ist mein Erleben in genau diesem Moment? Diese Erfahrungen des gegenwärtigen Augenblicks laden uns ein, am kreativen Prozess teilzuhaben, um eine gesunde und heilsame Gesellschaft zu gestalten.

e: Könnten Sie uns ein Beispiel geben, wie Sie mit dem Social Presencing Theater konkret arbeiten?

AH: Gestern begleiteten wir einen Prozess für das Presencing ­Institute in einem der Gratisangebote namens Gaia. Manish ­Srivastava, ein Kollege aus Indien, sprach von seiner Sorge darüber, dass durch die Pandemie Millionen von Menschen in Hilfsjobs ihre Arbeit verloren haben, mit ihren Familien müssen sie Tausende von Meilen zu Fuß von den Städten in ihr Dorf gehen. Seine Erfahrung war, dass die Reaktion der indischen Bürger darauf einerseits von Aktivismus geprägt war, andererseits von Apathie oder Taubheit – eine Unfähigkeit, sich mit dieser sozialen Krise zu verbinden.

Er bat uns, eine Übung aus dem Social Presencing Theater für ihn durchzuführen; er wollte verstehen, was vor sich ging und was seine Rolle darin war. Wir stellten uns im Raum auf, um alle Interessengruppen zu verkörpern: die Migranten, die Regierung, Wirtschaftsbosse und Manish selbst, ein Aktivist. Eine vierte Person stand für das höchste Bestreben der Situation. In der Praxis namens 4-D-Mapping gibt es immer diese Rolle. Genauso wird jedes Mal die Rolle der Erde verkörpert, weil die Erde in allen Entscheidungen, die getroffen werden, ein Stakeholder ist. Wir erstellten eine Figurenskulptur für die aktuelle Situation ausgehend von der Geschichte, die uns Manish erzählt hatte.

Im Social Presencing Theater erforschen wir einen Aspekt der gegenwärtigen Realität in Hinblick auf eine emergierende, also gerade neu entstehende Zukunft. Wir nennen diesen Prozess eine Bewegung von der Skulptur 1 zur Skulptur 2. Das kann sich auf eine bestimmte Situation beziehen, wie diejenige mit Manish, wo die Bewegung von der ursprünglichen sozialen Skulptur zur Skulptur 2 nur wenige Minuten dauerte. Die Bewegung ­eröffnete Einsichten, die seine Arbeit unterstützten. Oder wir beginnen mit einer offeneren Praxis wie »The Village«, die 20 Minuten dauert und in der sich die Menschen in der Skulptur bewegen, indem sie Gesten ausführen, die sich natürlich anfühlen, um einen guten sozialen Nährboden zu bereiten. Dann schauen wir, was passiert ist: Was hat sich verändert? Wie haben wir unseren Beitrag zu diesem ko-kreativen Prozess wahrgenommen?

JEDER EINZELNE MENSCH AUF DIESEM PLANETEN GESTALTET UNSERE SOZIALE REALITÄT MIT

Wir schauen auf Veränderungen des sozialen Feldes. Es kann sich von einer Fixierung oder Verschlossenheit zu einer offenen Möglichkeit wandeln. In diesem Fall entstand für Manish ein Gefühl größerer Integration der verschiedenen Teile der Geschichte, sodass er sich nicht gefangen fühlte im Dreieck von Opfer, Unterdrücker und Retter. Er sah die unglaubliche Kraft in der Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit der verletzlichen Akteure. Er empfand Empathie für die Situation, anstatt jenen, die Macht hatten, oder jenen, die sich irgendwie stumpf fühlten, die Schuld zu geben. Er konnte diese verschiedenen Aspekte der Geschichte integrieren und zu einem kohärenteren Bild zusammenfügen. Dies erlaubte ihm als Aktivist eine Initiative zu gestalten, die nicht dem herkömmlichen Reaktionsmuster auf solch eine Krise folgte. Er konnte innovativ handeln und aus Mitgefühl agieren.

Anstatt sich auf den Oberflächenkonflikt zu fokussieren, den wir als »The Surface Stuck« bezeichnen, sucht dieser Prozess nach einer zugrunde liegenden Weisheit. Wir schauen und fühlen in die verschiedenen Aspekte der festgefahrenen Situation hinein. Wir fühlen den Körper, wo wir stehen wollen, um uns selber und der Gruppe gegenüber authentisch zu sein. Wir fragen: Was würde der Körper tun? Wie würde der Körper sich bewegen? Was möchten die Schultern tun? Wollen sie ­dableiben oder sehnen sie sich nach einem anderen Ort oder fühlen sich dorthin gerufen? Wenn das Kollektiv sich zur Skulptur 2 ­bewegt, reflektieren wir das Geschehene: Was löste die Bewegung aus? Wie verschob sich der Fokus? Dabei tut sich ein Dialog auf, der kollektives Wissen aufdecken kann.

Intelligentes Nicht-Wissen

e: Welche Einsichten eröffnen sich bei sozialen Kunstinterventionen wie diesen?

AH: Durch diese Praktiken fühlen die Menschen – sie spüren – ihre kollektive Präsenz und dass es wertvoll ist, wer sie sind und was sie beitragen. Es hat nichts mit ihren Qualifikationen zu tun oder ob sie talentiert sind. Jeder Mensch kann sein wahrstes Selbst einbringen, wer er oder sie ist, ohne Bewertungen. In einem unserer Programme sagte kürzlich jemand: »Es gibt ein bedingungsloses In-Ordnung-Sein, so wie ich jetzt bin.« Jemand anderer sagte: »Ich fühle mich, als wäre ich genauso, wie ich sein sollte.« In diesem Prozess gibt es keine Bewertungen; es gibt nichts, das sagt: »Du hast es richtig gemacht, du hast es falsch gemacht.« Da ist einfach eine enorme Wertschätzung dafür, dass Menschen Gesten ausführen und Bewegungen erfinden können und dass es dazu immer ein Ja gibt.

Das zweite Element ist die Verbundenheit, die die Leute miteinander empfinden. Vielleicht schaust du zu, wie eine andere Person ihre Gesten macht, oder du bist Teil eines Trios oder Duetts oder eines kleinen Ensembles. Man macht die Erfahrung, nicht allein zu sein, gesehen zu werden, und nicht nur sehen zu können, was andere darbieten, sondern auch die Qualität der anderen Person zu fühlen. Das kann sogar über Zoom geschehen. Es ist verblüffend, dass wir dies mit Menschen in der ganzen Welt machen können und eine so intime Wahrnehmung der anderen Person entsteht, die nicht einmal im gleichen Raum ist. Diese Übung unterstützt das Gefühl der Verbindung zwischen den Menschen, die natürliche Verbundenheit. Manchmal fühlen sich Menschen allein oder isoliert oder von einer Last bedrückt, die sie meinen alleine tragen zu müssen. Unsere Arbeit in der sozialen Kunst betont die natürliche Verbundenheit und Fürsorge, die wir füreinander empfinden.

DIE KRAFT DES SPÜRENS UND DES ÄSTHETISCHEN WISSENS IST ÜBERALL.

Das Dritte ist die kollektive Weisheit, die über das konzeptuelle Verständnis hinausgeht. Oft öffnet unsere Arbeit einen Raum, in dem wir die Weisheit im Gegenüber sehen können. Wir nehmen gegenseitig wahr, wie bemerkenswert wir sind, anstatt nur die Fehler und Schwächen zu sehen. Die unglaubliche Schönheit, die Kummer, Schmerz, Trauer und Leid, diese riesige Verletzlichkeit enthält, aber gleichzeitig auch enorme Kraft, Brillanz und Kreativität. Unsere Arbeit versucht, die Fülle dessen, was es heißt, ein Mensch mit anderen Wesen auf diesem Planeten zu sein, sichtbar und spürbar zu machen.

e: Sehr schön. Mir fällt auf, dass wir keine Worte haben für diese Art von Wissen. Wir betrachten das Gefühl des In-Ordnung-Seins nicht als eine Form von Wissen. Diese Formen der Erkenntnis basieren nicht auf Konzepten.

AH: Es ist die Beschreibung einer Erfahrung. Aus diesem Augenblick wird eine Zukunft geboren. Unsere Arbeit betont sehr das Nicht-Wissen. Das klingt jetzt nicht nach Intelligenz, aber in dieser Arbeit ist Nicht-Wissen sehr intelligent. Es ist ein Gefühl von Weite, du weißt einfach nicht, was als Nächstes kommt. Diese Frische ist für viele unangenehm. Sie macht Angst und es kann Panik entstehen angesichts des Nicht-Wissens. Aber in unserer Arbeit finden wir auch Geschmack an dieser Panik; wir finden Geschmack am Nicht-Wissen und an der Fähigkeit, dabei zu bleiben und etwas entstehen zu lassen, das mehr ist als einfach eine ausgefeiltere oder attraktivere Version dessen, was wir schon immer gemacht haben. Was gerade auf dem Planeten geschieht, benötigt diese frische kollektive Weisheit, damit wir erschaffen können, was nötig ist für eine gesunde Erde und für die soziale und ökonomische Gerechtigkeit in einer Situation, wo so viel Leid existiert.

Keine Beobachter

e: Mir fällt auf, dass die Beobachtenden Teil des Resonanzfeldes der kollektiven Intelligenz sind.

AH: Ja, dieser Prozess ist immer eine Erfahrung in der ersten Person. Anders gesagt: Es ist keine Perspektive der dritten Person, wie sie die Wissenschaft vorgibt anzuwenden. Es gibt immer den Zuschauer, den Erfahrenden, der die Dinge anschaut und mit dem, was er sieht, in Resonanz geht. Ganz bestimmt gibt es in unserer Arbeit keine objektive Perspektive, weil es eine ko-kreierte Erfahrung ist, die in diesem Augenblick erschaffen wird. Tatsächlich gibt es auf dem ganzen Planeten keine Beobachtenden, soweit ich das beurteilen kann. Alle, ob sie stillstehen oder sich bewegen, tragen etwas bei.

Wir sehen diese Kunst als eine Art Forschung zu Veränderungen in sozialen Systemen. Wir haben viel Respekt vor der wissenschaftlichen Forschung, aber es gibt auch diese ganz andere Art zu wissen, die man vielleicht Spiritualität nennen könnte. Die Kunst liegt irgendwo zwischen Wissenschaft und Spiritualität.

Die Kraft des Spürens und des ästhetischen Wissens ist überall. Wenn wir diese Praktiken durchführen, bewegen sich Leute nur einige Zentimeter zur Seite, weil die Gruppenskulptur aus irgendeinem Grund nicht richtig ist. Also bewegen sie sich etwas und sagen: »So ist es stimmig.« Sie haben keine Ahnung, warum es richtig ist. Das Gefühl beruht auf einer Art Gleichgewicht oder Rhythmus. Das sind Qualitäten der Ästhetik oder der Gestalt, und doch sind sie in unseren sozialen Systemen lebendig. Was wir nonverbal erfahren, kann sich auf unsere Gewohnheiten des Sprechens auswirken, zum Beispiel die Balance zwischen Zuhören und Sprechen in einer Sitzung. All das ist Teil des Wissens, das den Menschen innewohnt. Wir alle wollen Freude, Schönheit oder Qualität in unser Leben bringen. Das ist eine ungenutzte Ressource, wenn es darum geht, unseren Planeten zu einem freundlicheren, inklusiveren Ort zu machen.

e: Dieses besonders in der modernen Welt unterschätzte Wissen ist weder konzeptuell noch abstrakt, sondern kommt aus dem Lebensprozess selbst.

AH: Ja, es ist ein Ausbruch aus dem Konventionellen, dem Gewohnten. Wir haben konditionierte Gewohnheiten, die unsere Erfahrung trüben. Wir tragen Annahmen, Projektionen und Wertesysteme in uns, die auf unserem Geschlecht, unserem Bildungsniveau, unserer Ethnie, unserem Wohnort, der sozio-ökonomischen Stellung gründen. Es gibt alle diese Informationen, die ich in der Vergangenheit gesammelt habe, durch die ich mich heute verstehe. Die Erfahrung des Social Presencing Theaters bedeutet nicht, das geringzuschätzen oder zu missachten, sondern sie öffnet diesen Moment der Erfahrung ohne all das, was wir darüber denken. Wir sind uns einer Offenheit gewahr, in der alle Einschränkungen der Vergangenheit und der Geschichte wegfallen.

KUNST BIETET ZUGANG ZU EINEM OFFENEN STAUNEN UND ZUM ANFÄNGER-GEIST, WO ALLES MÖGLICH IST.

e: Man könnte die Art und Weise, wie uns diese Kategorien formen, eine Art ursprüngliche Festgefahrenheit nennen, weil sie bestimmen, wie wir die Welt sehen.

AH: Ja, das ist interessant. Ich stelle es mir oft wie einen Kokon vor. Wir sehen und fühlen durch einen Kokon der »Ich-heit«. Man kann es als »Downloading« bezeichnen, wir greifen einfach auf das zurück, was wir kennen. Es wohnt uns inne, es hat sich entwickelt, es ist auch wichtig, aber hat seine Grenzen, wenn es um Kreativität und Innovation geht. Die Kunst bietet Zugang zu einem offenen Staunen und zum Anfänger-Geist, wo alles möglich ist.

Mit dieser Form der sozialen Kunst wollen wir die zugrunde liegende Gutheit und innewohnende Kreativität jedes Menschen erreichen. Das kann individuell und kollektiv unser Leben bereichern. Wir stärken die grundlegende ästhetische Dimension in unserem Leben – die Fähigkeit, zu fühlen und zu spüren. Diese alltägliche Ästhetik erhöht die Wertschätzung für unser Leben und füreinander. Diese Wertschätzung wird zur Basis, um eine gute Gesellschaft zu schaffen.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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